Die 2010 veröffentlichte Dissertation von Stefan Paulus stellt die Frage, ob und in welcher Weise die USA Vorbild für die Entwicklung der bundesdeutschen Hochschullandschaft in der Nachkriegszeit bis zur Verabschiedung des ersten Hochschulrahmengesetzes gewesen ist. Die Arbeit steht im weiteren Kontext der Erforschung der jüngeren deutschen Universitätsgeschichte und im engeren Kontext der Erforschung der Reformbemühungen des Hochschulsystems in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, deren entscheidende Phase in die 1960er Jahre fällt. Gerade dieser Zeitraum war lange Zeit mit verengtem Blick auf die studentischen Proteste betrachtet worden. In jüngster Zeit erfahren jedoch die Hochschulreformen jener Zeit zunehmende Aufmerksamkeit als eigenständiger Untersuchungsgegenstand, wie etwa die Studie von Anne Rohstock zu den Hochschulreformen in Bayern und Hessen (Rezension in der gleichen Ausgabe der EWR) oder eben der Band von Stefan Paulus zeigen.
Der Untertitel von Paulus Arbeit „Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945-1976“, scheint die im Titel formulierte Frage bereits bejahend zu beantworten; nach Lektüre der Einleitung drängt sich die Frage auf, weshalb der Autor in seinem Titel überhaupt noch ein Fragezeichen gesetzt hat, verfolgt er mit seiner Studie doch das Ziel, „diesen als ,Amerikanisierung‘ zu bezeichnenden interkulturellen Transferprozess auf der Ebene von Universität und Wissenschaft für die ersten drei Nachkriegsdekaden erstmalig nachzuzeichnen“ (29). Zweifel an der Maßgeblichkeit des US-amerikanischen Hochschulsystems formuliert der Autor keine; Fragen nach der Gewichtung dieses kaum zu leugnenden Einflussfaktors auf Reformdiskussionen und Reformmaßnahmen gegenüber anderen, ebenso wenig zu leugnenden Faktoren (Einfluss durch die anderen Besatzungsmächte, Beharren auf deutscher Universitätstradition, parteipolitische Interessen etc.) werden nicht formuliert.
Im Hauptteil zeichnet Paulus die Hochschulreformbemühungen während der unmittelbaren Nachkriegszeit und in der jungen Bundesrepublik in acht Kapiteln detailliert nach. Im Einzelnen werden betrachtet: die hochschulpolitischen Konzepte und Maßnahmen der amerikanischen Besatzungsmacht, Hochschulreformdiskurse in den 1950er Jahren, (Wieder-)Aufbau der Fächer Politikwissenschaft und American Studies sowie die Gründung der Freien Universität Berlin, Studierenden- und Wissenschaftleraustausch, die Reformdiskurse zwischen 1955 und 1975, die Rezeption und Integration von Elementen des amerikanischen Universitäts- und Wissenschaftssystems zwischen 1960 und 1976, die Entwicklung westdeutscher Hochschulbibliotheken und die Idee der Campusuniversität im Kontext von Neugründungen in den 1960er Jahren. Diesen acht Kapiteln ist eine zusammenfassende Darstellung der deutsch-amerikanischen Wissenschaftsbeziehungen vor 1945 vorangestellt.
In den Ausführungen wird durchaus deutlich, dass die Reformbemühungen seitens der US-amerikanischen Besatzungsmacht sowie von deutschen Interessengruppen, die sich am US-amerikanischen Hochschulsystem orientierten, keineswegs singulär waren und auf zahlreiche Widerstände trafen, an denen sie oftmals – teilweise oder ganz – scheiterten. Entsprechend bilanziert Paulus in seinem Resümee, dass nur von einer partiellen Amerikanisierung des westdeutschen Hochschulsystems gesprochen werden könne, da eben wesentliche Elemente des US-amerikanischen Hochschulsystems nur unzureichend (Departmentstruktur, Hochschulrat) oder gar nicht übernommen bzw. bereits eingeführte (Assistenzprofessur, z. T. Präsidialverfassung) wieder rückgängig gemacht worden seien. Allein die Einführung von Forschungssemestern und professioneller Öffentlichkeitsarbeit habe sich innerhalb des deutschen Hochschulsystems etabliert.
Bedauerlicherweise bleiben jedoch Überlegungen hinsichtlich der Frage, warum es nur zu Adaptionen in geringem Ausmaß kam, aus. Stattdessen verliert sich Paulus in einem bildungspolitischen Plädoyer gegen die Heilssuche im US-amerikanischen Hochschulsystem und die finanzielle und inhaltliche Beschneidung von deutschen Universitäten unter der Vorgabe des US-amerikanischen Vorbilds. Dabei zitiert Paulus auf der letzten Seite seiner Ausführungen einen Satz aus der Süddeutschen Zeitung – „Wer die deutschen Universitäten wirklich amerikanisieren möchte, der muss es mit zweihundert Jahren akademischer Geschichte aufnehmen“ (550), der letztlich auf Jahrhunderte alte Traditionen des deutschen Hochschulsystems, auf die kulturelle Verankerung der deutschen Universität und auch auf die Sozialisation deutscher Akademiker verweist; er ist insofern von besonderer Relevanz, als er den Blickwinkel auf den von Paulus untersuchten Gegenstand wenn nicht erweitert, so aber doch dahingehend verschoben hätte, dass er von vornherein eine differenziertere Betrachtung nahe gelegt hätte.
Somit aber stellt sich letztlich die Frage nach dem Erkenntniswert der Arbeit über die reine historische Darstellung hinaus. Unter dem Strich bleibt, dass einige wenige Maßnahmen, welche sich unter dem Stichwort „Zentralisierung“ subsumieren lassen (Bau von Zentralbibliotheken und Campusuniversitäten, Einführung der Präsidialverfassung und Zusammenschluss von Fächern in sinnvollen Einheiten) am US-amerikanischen Vorbild orientiert waren. Rechtfertigt dies, von einer „Amerikanisierung des deutschen Hochschulsystems“ zu sprechen? Handelt es sich nicht vielmehr um nahe liegende Verwaltungsmaßnahmen, um eine stetig wachsende und sich ausdifferenzierende Institution soweit wie möglich handlungsfähig zu gestalten? Das Selbstverständnis der deutschen Universität, sozusagen ihr Kern, der sich – wie Paulus selbst eingangs beschreibt – im 19. Jahrhundert etabliert hat und vorbildhaft für die US-amerikanischen Universitäten gewesen ist – bleibt durch solche Maßnahmen letztlich unberührt.
EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)
Vorbild USA?
Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945-1976
(Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 81)
(Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 81)
München: Oldenbourg 2010
(617 S.; ISBN 978-3-4865-9642-7; 84,80 EUR)
Andrea Wienhaus (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Wienhaus: Rezension von: Paulus, Stefan: Vorbild USA?, Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945-1976 (Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 81). München: Oldenbourg 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978348659642.html
Andrea Wienhaus: Rezension von: Paulus, Stefan: Vorbild USA?, Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945-1976 (Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 81). München: Oldenbourg 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978348659642.html