EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)

Ralf Caspary (Hrsg.)
Lernen und Gehirn
Der Weg zu einer neuen Pädagogik
Freiburg i.B.: Herder 2006
(160 S.; ISBN 978-3-451-05763-2; 8,90 EUR)
Lernen und Gehirn Die Beiträge dieses Sammelbandes sind teilweise Wiederabdrucke aus der Zeitschrift für Pädagogik bzw. für Nervenheilkunde oder bearbeitete Versionen einer Vortragsreihe des SWR, bei dem der Herausgeber Ralf Caspary Wissenschaftsredakteur mit den Schwerpunkten Bildung und Neurowissenschaften ist. Ein einziger Beitrag ist ein Originalbeitrag, bei einem weiteren fehlt der Textnachweis.

Bunt gemischt wie die Zusammenstellung der Texte sind auch die Autoren: Neurowissenschaftler medizinischer und biologischer Herkunft, eine Kognitionspsychologin, ein Philosoph, ein Erziehungswissenschaftler sowie ein Gymnasiallehrer und Schulpsychologe. Das verspricht, so Ralf Caspary im Vorwort, ein interdisziplinärer Dialog ohne ideologische Grabenkämpfe zu werden (vgl. 10f.). Der durch den Untertitel vermittelte Anspruch, der Pädagogik einen neuen Weg zu weisen, wird aber hier schon dahingehend relativiert, als Ralf Caspary ausdrücklich betont, dass Gehirnforschung bzw. „Neuro-Logik“ (9) nur ein Baustein bei den Reformbemühungen um das deutsche Bildungssystem sein könne. Die anderen Autoren schließen sich insofern dieser Einschränkung an, als sie nicht beanspruchen, die Pädagogik neu zu erfinden, sondern vielmehr intendieren, traditionelle pädagogische Theorien auf nunmehr gesicherte Forschungsergebnisse zu gründen.

Doch welche Theorien werden hier auf welche Forschungsergebnisse bezogen? Suggeriert wird zum Beispiel, es gäbe evidente Ergebnisse der Gehirnforschung, aus denen sich klare Kriterien für pädagogisches Handeln ableiten ließen. Trägt man aber nur einmal einige Aussagen zur Strukturierung von Lernprozessen zusammen, so stellt sich nichts weniger als Verwirrung ein. So ist für Manfred Spitzer, Leiter des von ihm gegründeten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm, klar, dass Allgemeines nicht durch Regeln eingepaukt, sondern an Beispielen gelehrt werden müsse. Ferner leitet er aus der eigenen Gehirnforschung Folgendes ab: „Wir wissen damit nicht nur, dass Lernen bei guter Laune am besten funktioniert, sondern sogar, warum Lernen nur bei guter Laune erfolgen sollte“ (29). Gerhard Roth, Direktor am Institut für Gehirnforschung der Universität Bremen, folgert aus seinen Ergebnissen, dass „ein leichter, anregender Stress generell lernfördernd“ (64) sei. Sind nun gute Laune und leichter Stress dasselbe und wie messe ich, ob ein Stress leicht oder schwer ist? Ebenso wie Gerhard Roth betont, dass Lernen nicht übertragen werden kann, sondern in jedem Gehirn neu geschaffen werden muss (vgl. 55), setzt auch Gerald Hüther als Neurobiologe darauf, dass „die besten Anregungen für noch zu knüpfende bzw. zu stabilisierende Verschaltungen im Gehirn...diejenigen (seien, P.R.), die das Kind von innen, also aus sich selbst heraus, entwickelt“ (75). Dagegen meint zwar auch Heinz Schirp, stellvertretender Direktor des Landesinstituts in NRW, zu wissen, dass 99 % aller Gehirntätigkeiten gehirninterne Prozesse (vgl. 113) sind, doch betont er gleichzeitig die Wichtigkeit, „mit der gleiche und ähnliche Inputs auf unsere Neuronen einwirken“ (103). Dies muss sich natürlich alles nicht notwendig widersprechen, aber es vermittelt dem Leser auch keinen eindeutigen Bedeutungsrahmen, der Evidenzen für pädagogisches Handeln zuließe. Vielmehr zeigen diese wenigen Beiträge schon, dass es die Gehirnforschung ebenso wenig gibt, wie die Pädagogik, sondern, dass hier die Freiheit der Interpretation und Argumentation ebenso möglich wie auch vonnöten ist.

Je einheitlicher natürlich die Diskursstruktur ist, in der man sich bewegt, desto selbstbewusster können die eigenen Ergebnisse für evident und die eigene Meinung für argumentativ gesichert gehalten werden. Auffällig ist dahingehend, dass Gerald Hüther und der Mediziner Joachim Bauer nur eigene Literatur (bzw. Co-Autorenschaften) angeben. Auch Manfred Spitzer verweist fast ausschließlich auf sich selbst als Referenzrahmen.

Joachim Bauers Thema sind „Spiegelneuronen: Nervenzellen für das intuitive Verstehen sowie für Lehren und Lernen“ – so der Titel seinen Beitrags. Spiegelneuronen sind Nervenzellen für Mit-Leiden und d.h. für Empathie (vgl. 43). Spiegelneuronen seinen nicht angeboren, sondern müssten aktiviert werden. Sie bedürften der liebevollen und individuellen Zuwendung, was in den ersten beiden Lebensjahren Krippen und Kindertagesstätten nicht leisten könnten (vgl. 46). Diese Schlussfolgerung hat natürlich nichts mit den eigenen Forschungsergebnissen zu tun und Joachim Bauer bemüht sich erst gar nicht, die diesbezügliche Forschung mit ein zu beziehen. In gleicher Weise werden medienwissenschaftlich längst überholte Kausalbeziehungen populär gemacht – wie z.B.: „Kinder, die einen hohen Konsum an Medien haben, in denen Gewalt zur Darstellung kommt, entwickeln Verhaltensstörungen und haben Lernschwierigkeiten“ (52). Solche Aussagen geschehen in dem Bewusstsein, dass das eigene Forschungsparadigma anderen überlegen und in der Lage sei, als Tatsache beweisen zu können, wo z.B. Philosophen sich nur auf der Erkenntnisebene der Annahme befänden (vgl. ebenda).

Im gleichen Selbstverständnis einer forschungslogischen Überlegenheit der Medizin plädiert Manfred Spitzer für eine „Evidence-based Pedagogics“ (33), die endlich die Gehirnforschung nutzt, um die wichtigste ökonomische Ressource, nämlich die menschlichen Gehirne optimal zu fördern (vgl. ebenda). In dieser Hinsicht sei die Medizin „ein Modell für die Art, wie Wissensfortschritt in praktisches Handeln umgesetzt werden kann...Jeder will medizinische Versorgung auf höchstem Niveau. Die Medizin hat diesen Stand erreicht, weil sie sich als evidence-based medicine von Meinungen (Experte X sagt, dies wird schon helfen) zum wissenschaftlich Bewiesenen bewegt hat (Studie Y zeigt, dies hilft am besten)“ (33) – und was sagt der Erziehungswissenschaftler dazu? Von dieser Seite des Diskurses lautet Ulrich Hermanns Beitrag: „Lernen findet im Gehirn statt. Die Herausforderungen der Pädagogik durch die Gehirnforschung“, worin er Bezüge zwischen reformpädagogischen Konzepten und Ergebnissen der Gehirnforschung herstellt. Am Ende steht die Hoffnung, “dass die moderne Gehirnforschung dort mehr Reformwirksamkeit entfalten kann, wo sie bisher der Pädagogik versagt geblieben ist“ (98). Sollen so die „harten Wissenschaften“ zu verwirklichen helfen, was der Pädagogik bisher bildungspolitisch – und das heißt auch finanziell – versagt wurde? Wenn dem so ist, dann scheint es zumindest nicht primär um die Art und Weise pädagogischen Handelns zu gehen, sondern um die gesellschaftliche Macht eines wissenschaftlichen Paradigmas.

Elsbeth Stern verteidigt in dieser Hinsicht die wissenschaftsgeschichtliche und entwicklungspsychologische Perspektive. Sie billigt zwar der Gehirnforschung interessante Erkenntnisse zu, z.B. dass sie den Blick für die „Eigendynamik der Gehirnentwicklung bei Kindern“ (129) geschärft habe; doch für die Gestaltung von Lernumgebungen gebe sie keine wirklich konkreten Hinweise. Dazu fordert sie eine „gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Lehrern, Fachdidaktikern und Kognitionswissenschaftlern“ (138) – Elsbeth Stern ist selbst Professorin an der ETH Zürich (Schweiz) mit dem Arbeitsgebiet „Lernen und Vermittlung“.

Es bleibt zu fragen, was eigentlich der Unterschied zwischen Gehirn, Kognition und Geist ist? Definitionen sucht man in den meisten Artikeln vergebens, erahnen lässt sich der Sinn aber durch den Gebrauch der Sprache. Bei Elsbeth Stern heißt es beispielsweise, „dass die Lokalisierung bestimmter geistiger Funktionen im Gehirn flexibel ist“ (128), was darauf schließen lasse, dass Geist internen Gehirnprozessen zuzuordnen sei. Bei Gerhard Roth ist dies noch klarer materialisiert. So beschreibt er das „System der Neuromodulatoren, das die allgemeine Aktivität und Aufmerksamkeit regelt und durch Neuromodulatoren wie Dopamin (anregend, antreibend), Serotonin (dämpfend) und Acetylcholin (aufmerksamkeitssteuernd) sowie eine Reihe von Neoropeptiden charakterisiert ist. Dieses System bestimmt die allgemeine Fähigkeit, Dinge und Geschehnisse der Umwelt in ihrer Bedeutung (Hervorhebung, P.R.) erfassen zu können, und es liegt auch der allgemeinen Lernfähigkeit und Lernbereitschaft zugrunde“ (63). Solche Aussagen resultieren aus einem Missverständnis bezüglich des Geistbegriffs und dem methodischen Dogmatismus, Geist als individuellen Zustand messen zu wollen. Dies bestätigt ein Blick in Gerhard Roths Schrift: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen (erschienen im Suhrkamp-Verlag 1996 – 5. Aufl.), in der er ein ganzes Kapitel der Frage widmet: „Was ist Geist?“. Hier geht er zwar auf die ursprüngliche Wortbedeutung von „Geist“ im Sinne von „Atem/Hauch“ zurück, deutet dies aber als Materielles und Individuelles (vgl. Roth 1996, 272) und nicht als Austausch zwischen Menschen, Welten, Systemen etc. Interaktive Prozesse dieser Art aber lassen sich nur schwer (oder gar nicht) aus einer empirischen Beobachterperspektive erfassen. So muss eben die Sache auf die Methode und nicht umgekehrt zugeschnitten werden: „Damit Geist mit empirischen Methoden untersucht werden kann, ist es notwendig, diesen Begriff auf individuell erlebbare Zustände einzuschränken und alle denkbaren religiösen und sonstigen überindividuellen geistigen Zustände unberücksichtigt zu lassen“ (Roth 1996, 272).

Im Kontrast zu diesem methodologischen Reduktionismus ist es wohltuend Horizont erweiternd, wenn Ralph Schumacher, habilitierter Philosoph mit dem Forschungsschwerpunkt Geist und Kognitionswissenschaft, zu Beginn des Sammelbandes eine beispielhafte Systematisierung verschiedener Erklärungsebenen vorgibt, die das Verhältnis von Lernen und Gehirn beschreiben. Er unterscheidet physikalische, funktionale und intentionale Erklärungsebenen und erläutert, dass sich höherstufige Beschreibungen nicht auf niedrigere Erklärungsebenen reduzieren lassen. Das nennt er „Supervenienz-Modell“ (13-16). Die unterschiedlichen Ebenen dieses Modells konkretisiert Ralph Schumacher am Beispiel des Stuhls, der nur funktional als Stuhl erkennbar ist, aber durchaus der physikalischen Realisierung bedarf. Auf das Verhältnis von Lernen und Gehirn übertragen argumentiert Ralph Schumacher schließlich mit der Intention auf die Grundaussage, „dass neurophysiologische Untersuchungen prinzipiell zu unbestimmt sind, um konkrete Anleitungen für die Wissensvermittlung im Schulunterricht bereitstellen zu können“ (18). So könne die Hirnforschung „für die Lehr-Lern-Forschung nicht das sein, was die Physik für die Ingenieurwissenschaften ist“ (20).

Dies sollte Josef Kraus, Autor des letzten Artikels des Sammelbandes und seinerseits Gymnasiallehrer und Schulpsychologe, vielleicht noch einmal bedenken. Denn für Josef Kraus sind Lehrer „Experten für das Füttern von Gehirnen“ (143), was ihn dazu animiert, aus vielen Zahlen und angeblichen Ergebnissen der Gehirnforschung – der ganze Artikel beinhaltet keine einzige konkrete Quellenangabe – Lehr-Lernrezepte abzuleiten. Dabei verfolgt er kein argumentatives Ziel, sondern baut rhetorisch auf Meinungskonsens, wenn er etwa formuliert: „Mozart schon im Mutterleib, im ersten Lebensjahr dann Malerei aller Epochen, Lernpuzzles, vielleicht sogar Gedankenlyrik oder Philosophie vorlesen? Das kann es nicht sein“ (147). An dieser Stelle ist man schon geneigt „warum nicht?“ zu fragen, um sich gegen die Suggestivkraft dieser Rhetorik zu wehren, aber auch aus dem sachlichen Widerspruch heraus, weil kurz zuvor noch für vielfältige Anregungen plädiert wurde (vgl. 145), die ja auch Mozart, Malerei, Gedankenlyrik etc. heißen könnten.

Diese Unstimmigkeiten zeigen, dass Lernen sicher eines Gehirns bedarf, dass es für die Konstituierung von Lernprozessen aber ebenso notwendig ist, kulturelle Inhalte in einem interdisziplinären Dialog zu begründen – vielleicht käme dann Geist dabei heraus.
Petra Reinhartz (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Petra Reinhartz: Rezension von: Caspary, Ralf (Hg.): Lernen und Gehirn, Der Weg zu einer neuen Pädagogik. Freiburg i.B.: Herder 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978345105763.html