EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Ullrich Bauer / Klaus Hurrelmann
EinfĂŒhrung in die Sozialisationstheorie
Das Modell der produktiven RealitÀtsverarbeitung
Weinheim/Basel: Beltz 2021
(350 S.; ISBN 978-3-407-25885-4; 29,95 EUR)
EinfĂŒhrung in die Sozialisationstheorie Mit der 14. Auflage dieses seit 1986 erscheinenden Lern- und Studienbuches liegt eine völlig ĂŒberarbeitete, maßgeblich von Bauer gestaltete Fassung vor, die „eine systematische Aktualisierung des Forschungsstandes und die Neufassung der Kernannahmen des ‚Modells der produktiven RealitĂ€tsverarbeitung‘“ (8) verspricht.

Sozialisation ist ein schillernder, vor 150 Jahren in die Sozialwissenschaften eingefĂŒhrter Begriff, der sich auf das VerhĂ€ltnis zwischen Person und Umwelt bezieht und damit immer beide Perspektiven enthĂ€lt, was eine interdisziplinĂ€re Theoriebasis erfordert. In der EinfĂŒhrung grenzen die Autoren den Begriff von anderen wie Bildung, Erziehung, Reifung, Enkulturation/Akkulturation ab, die sie eher als Teilbereiche der Sozialisation betrachten.

Der zweite Teil umfasst die soziologische und psychologische PropĂ€deutik, d. h. das Grundlagenwissen der Sozialisation. Die Autoren gestehen diesen Basistheorien eine Sonderstellung zu – auch wenn „die neueren AnsĂ€tze nicht mehr so strikt disziplinĂ€r einteilbar sind“ (42) –, weil sie von zwei sehr unterschiedlichen Standpunkten das Thema Sozialisation betrachten und unterschiedliche Antworten auf die zwei zentralen Leitfragen geben: „Wie schafft es eine Gesellschaft, die in ihr lebenden Menschen zu sozialen Wesen zu machen, die sich in die sozialen Strukturen integrieren?“ Und: „Wie gelingt es Menschen, sich trotz ihrer gesellschaftlichen Einbindung Freiheiten fĂŒr die eigene persönliche Entwicklung und Lebensgestaltung zu erschließen und somit zu autonomen Individuen zu werden?“ (42) Zu den frĂŒhen soziologischen AnsĂ€tzen referieren die Autoren die Theorien von Simmel und Durkheim, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie unter Bedingungen zunehmender Arbeitsteilung ab der Mitte des 19. Jh. der gesellschaftliche Zusammenhalt gewahrt werden kann. Beide sahen in der Sozialisation, (damals noch) verstanden als Internalisierung des Sozialen durch Erziehung, ein wichtiges Moment fĂŒr das Funktionieren komplexer Gesellschaften. In einem zweiten Strang werden gesellschaftstheoretische AnsĂ€tze verortet, die, durchaus heterogen, soziale Makrostrukturen und HerrschaftsverhĂ€ltnisse sowie deren Auswirkungen auf Menschen analysieren (Marx, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Parsons, Luhmann, Bourdieu). Dem dritten Strang sind handlungstheoretische AnsĂ€tze zugeordnet, die mikrologisch-interaktionistisch ausgerichtet sind (Mead, Habermas, Berger/Luckmann, Oevermann, Krappmann) und „in der menschlichen Handlung selbst und in der Interaktion von Menschen das wegweisende Prinzip zum VerstĂ€ndnis sozialer RealitĂ€t“ (69) sehen.

Als zweiter propĂ€deutischer Baustein werden die psychologischen Theorien der Sozialisation vorgestellt, die von der Perspektive des Individuums ausgehen. Schon die frĂŒhen AnsĂ€tze weisen mit psychologischen Persönlichkeitstheorien (Freud) sowie Lern- und Entwicklungstheorien (Bateson) zwei sehr unterschiedliche DenkansĂ€tze auf, deren Weiterentwicklungen differenziert erlĂ€utert werden. Was die psychologischen Theorien zu Sozialisationstheorien macht, wird durch soziologische und psychosoziale Weiterentwicklungen der Psychoanalyse (Marcuse, Lorenzer, Erikson) expliziert. Die Bedeutung der Lern- und Entwicklungstheorien wird anhand der Forschungen von Piaget, Kohlberg, Bandura, Lerner und Bronfenbrenner herausgearbeitet.

Nachdem die Autoren noch einmal den Paradigmenwechsel der Sozialisationsforschung von der Struktur- zur Subjektzentrierung nachgezeichnet und kritisch gewĂŒrdigt haben, stellen sie im dritten Teil die zehn Prinzipien des Modells der produktiven RealitĂ€tsverarbeitung (MpR) vor. Sie bezeichnen das MpR als eine metatheoretische, ĂŒber den Einzeltheorien angesiedelte erkenntnisleitende Vorstellung. Die beiden ersten Prinzipien betreffen erkenntnistheoretische und konzeptionelle Grundannahmen (Interaktionen zwischen innerer und Ă€ußerer RealitĂ€t; Menschen als Produzent:innen ihrer eigenen Entwicklung), zu denen die bereits vorgestellten Theorien um neuere Forschungserkenntnisse der Psychologie und einer Soziologie der Kindheit und Jugend ergĂ€nzt und solche aus naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Genetik und den Bio- bzw. Neurowissenschaften neu eingefĂŒhrt werden.

Die Prinzipien 3-5 beziehen sich auf die produktive RealitĂ€tsverarbeitung im Lebenslauf, wobei die strukturbedingten VerĂ€nderungen im Zeitraum von 1900-2000 skizziert werden. Prinzip 3 basiert auf dem Konzept der Entwicklungsaufgaben im Lebenslauf. Im Prinzip 4 werden unter dem Begriff der Ich-IdentitĂ€t Spannungen zwischen den spezifischen Anforderungen der inneren und Ă€ußeren RealitĂ€t u. a. anhand von Stress- und BewĂ€ltigungstheorien, dem Konzept der kritischen Lebensereignisse und salutogenetischen AnsĂ€tzen vorgestellt. Prinzip 5 ist dem 3. Ă€hnlich, indem es auf die Anforderungen und den Wandel der einzelnen Lebensphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Seniorenalter) fokussiert und die Verbindungen zwischen Ă€ußerer und innerer RealitĂ€t alters- wie auch kontextspezifisch herausarbeitet.

Die Prinzipien 6-9 konzentrieren sich auf Kontexte der Sozialisation, d. h. „soziale, symbolische, materielle und immaterielle RĂ€ume [
], in denen Menschen agieren“ (212). AusfĂŒhrlich beschrieben werden die Familie als primĂ€rer Sozialisationskontext (Prinzip 6), die Bildungsinstitutionen als sekundĂ€re (Prinzip 7) und die alltĂ€gliche Lebenswelt (Prinzip 8: Partnerschaften, Freundes- und Bekanntenkreis, Medien, berufliche Erwerbsarbeit, Konsum- und Freizeitsektor, religiöse Praktiken, politisches, soziales u. a. Engagement) als tertiĂ€re Sozialisationsinstanzen. Die differenzierte Auseinandersetzung mit diesen Kontexten basiert v. a. auf empirischen Studien und Statistiken zur Situation in Deutschland mit vereinzelten Vergleichen zu anderen, Ă€hnlich entwickelten nordeuropĂ€ischen Gesellschaften.

Das 9. Prinzip thematisiert unter dem Begriff der IntersektionalitĂ€t (Überschneidungen von unterschiedlichen Benachteiligungs- und Diskriminierungsformen) den Einfluss von ungleichen Lebensbedingungen auf die AusprĂ€gung der Persönlichkeit. Damit erweitern die Autoren den Blick auf die MehrdimensionalitĂ€t sozialer Ungleichheiten in Abgrenzung zur traditionellen, eher eindimensional schichtspezifischen Sozialisationsforschung. Abschließend werden Fördermöglichkeiten vorgestellt, um die – im internationalen Vergleich – in Deutschland besonders schwach ausgebildeten und Ungleichheit festschreibenden Chancenstrukturen des Bildungssystems zu verbessern.

Das 10., dieser Auflage neu hinzugefĂŒgte Prinzip stellt aktuelle Herausforderungen der Sozialisation im Sinne von Krisenbearbeitung unter globalisierten gesellschaftlichen Lebensbedingungen zur Diskussion.

Die Studie schließt mit Reflexionen zur Weiterentwicklung und Aktualisierung des MpR sowie darĂŒber, wie Erkenntnisse ĂŒber Sozialisation gesammelt und so aufbereitet werden können, dass sie in die Politikberatung hineinwirken.

Die StĂ€rke der Studie liegt in der FĂŒlle der chronologisch und fachdisziplinĂ€r vorgestellten Theorien, deren wesentliche Inhalte und Bedeutung fĂŒr das dialektische VerhĂ€ltnis zwischen Individuum und Gesellschaft gut verstĂ€ndlich herauskristallisiert werden. Die Hinweise auf Weiterentwicklungen Ă€lterer bzw. die RĂŒckverweise bei neueren Theorien auf ihre Traditionslinien vermitteln dabei mehr als nur eine Aneinanderreihung von Theorien. Des Weiteren werden neuere Forschungsbefunde aus Wissenschaftsbereichen außerhalb der Soziologie und Psychologie diskutiert und auf ihre Relevanz fĂŒr Sozialisation hin ĂŒberprĂŒft. Auch die sorgfĂ€ltige Definition fast aller verwendeten Begriffe trĂ€gt dazu bei, dass die Leser:innen kompetent durch die theoretische KomplexitĂ€t geleitet werden.

Die zweifelsfrei hohe inhaltliche QualitÀt der Studie und ihr Nutzen als Lehr- und Studienbuch legen es nahe, bei der nÀchsten Auflage auch der formalen QualitÀt mehr Beachtung zu schenken, ethnozentrisch konnotierte Begriffe wie hochentwickelte Gesellschaften (menschlich? technisch? kulturell? ökonomisch?) wegzulassen und Deutschland nicht nur als Dienstleistungs- sondern auch als Industrie- und Agrargesellschaft zu betrachten.
Renate Nestvogel (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Renate Nestvogel: Rezension von: Bauer, Ullrich / Hurrelmann, Klaus: EinfĂŒhrung in die Sozialisationstheorie, Das Modell der produktiven RealitĂ€tsverarbeitung. Weinheim/Basel: Beltz 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978340725885.html