Das Werk ist von Körperbehindertenpädagogen der Universität Würzburg herausgegeben, die Inklusion als komplexes „Problemfeld“ (16) betrachten und hierbei die spezifische Diversitätsdimension der körperlichen Beeinträchtigung fokussieren. Der Komplexität der Thematik wird durch eine Systematik begegnet, die sowohl historische, theoretische und empirische Reflexionen als auch didaktisch-methodische Handlungsempfehlungen und Praxiserfahrungen umfasst. Dabei soll eine sehr breite Zielgruppe von Wissenschaftler_innen, Student_innen, Lehramtsanwärter_innen und Praktiker_innen angesprochen werden. Mit der Veröffentlichung ist intendiert, „sowohl einen Beitrag zu einer intensiven Fortführung der wissenschaftlichen Diskussion um Inklusion als auch zu einer verstärkten Entwicklung schulischer Inklusionsangebote zu leisten“ (18).
Im Rahmen einer historischen Analyse verdeutlicht Lelgemann in Kapitel I, dass Bildung von Schüler_innen mit mehrfachen Beeinträchtigungen lange Zeit als nicht selbstverständlich galt und die Unterstützungsbedarfe dieser Gruppe in inklusiven Settings stärker eruiert und realisiert werden müssen. Aus seiner Sicht ist es bedeutsam, dass die therapeutische und pflegerische Versorgung auch in inklusiven Settings sichergestellt wird und nicht dem medizinischen System überlassen wird. Zum Selbstverständnis von Körperbehindertenpädagog_innen gehöre es, die von Eltern und Schüler_innen geschätzte Expertise zu nutzen, um individuelle Unterstützungsbedarfe zu erfassen und schulische Adaptationsprozesse beratend zu begleiten.
Zu kontroversen Diskussionen könnte das Kapitel II von Singer führen. Auf der Grundlage einer phänomenologischen Perspektive [1] wird sich kritisch mit dem inklusionspädagogischen Diskurs auseinandergesetzt. Insbesondere Andreas Hinz wird eine allein normative Ausrichtung seiner theoretischen Prämissen „Normalität der Verschiedenheit“ (u. a. 74) unterstellt. Der Diskurs um die Forderung des „totalen Einbezogenseins aller Menschen“ (62) in allen gesellschaftlichen Systemen und der Versuch der Dekategorisierung wird als moralisch aufgeladen bewertet, der keinen Raum für bewusst gewählte Exklusion lässt, real bestehende Unterschiede nivelliert, bestehende Probleme ignoriert und Grenzen der Inklusion leugnet. Singer betont dagegen das intersubjektive Geschehen der Erfahrung des radikal Fremden. Ihm geht es um „die Anerkennung des Andersseins und der Fremdheit anderer Menschen und Gruppen“ (74).
Im Kapitel III beschreibt Daut am Beispiel von Kindern mit cerebralen Bewegungsstörungen und Duchenne Muskeldystrophie vorhandene Herausforderungen in den Entwicklungsverläufen und leitet daraus Konsequenzen für das pädagogische Handeln ab. Seine Reflexionen diesbezüglich sind auf der intra- und interindividuellen Ebene angesiedelt.
Auf der Grundlage eines systematischen Reviews fasst Walter-Klose im Kapitel IV die nationalen und internationalen empirischen Befunde der letzten 43 Jahre zum gemeinsamen Lernen zusammen. In Bezug auf die Auswahl des Schulortes wird die Elternperspektive in den Blick genommen, es wird die „Ergebnisqualität schulischer Bildung“ (124) fokussiert und die Rolle der Lehrkräfte in inklusionsorientierten Bildungssettings betrachtet, ihre Einstellungen zum gemeinsamen Unterricht werden skizziert und individuelle Fortbildungsbedarfe beschrieben. Abschließend werden Adaptationsbedarfe im Bereich der Schul- und Unterrichtsorganisation thematisiert. Besonders positiv hervorzuheben ist innerhalb dieses Beitrags die detaillierte Darstellung der empirischen Befunde und die daran anschließende Auflistung empirisch fundierter und konkreter Handlungsempfehlungen für die Umsetzung von Gemeinsamem Unterricht.
Im Anschluss stellt Singer eine umfangreiche Mixed-Method Studie vor, die im Zeitraum von 2010 bis 2012 an der Universität Würzburg von Lelgemann, Lübbeke, Singer und Walter-Klose zu den Bedingungen schulischer Inklusion mit Eltern, Schüler_innen, Lehrkräften und Schulleitungen durchgeführt wurde. Gegenstand der Untersuchung waren Schüler_innen mit körperlichen Beeinträchtigungen, die derzeit an gelingender integrativer Beschulung teilhaben sowie Schüler_innen, die erst integrativ beschult wurden, jedoch anschließend einen Wechsel in die Förderschule vollzogen haben. Aus den Ergebnissen wurden auf unterschiedlichen Systemebenen Gelingensbedingungen für den Aufbau einer inklusionsorientierten Schule abgeleitet. Abschließend präsentiert Walter-Klose einen praxisrelevanten Leitfaden für die Inklusion von Schüler_innen mit körperlicher Beeinträchtigung mit dem Ziel, „Unterstützungsbedürfnisse“ und strukturelle Anpassungsleistungen sowie „Aufgaben und Verantwortungsbereiche“ festzuhalten (192). Die Erweiterung des Leitfadens um weiterführende Erklärungen zur Handhabung wäre zukünftig wünschenswert.
Im Kapitel V werden Erfahrungsberichte von Schulpraktiker_innen auf dem Weg hin zu einer inklusiven Schullandschaft präsentiert. Dabei wird der Prozess der umgekehrten Inklusion geschildert, die Zusammenarbeit von Kooperations- und Grundschulklassen thematisiert und die zielgleiche Einzelintegration am Gymnasium präsentiert. Auch die Beratungsarbeit von Förderschulen als Kompetenzzentren, von fachrichtungsübergreifenden und interdisziplinären Unterstützungszentren und des Mobilen Dienstes werden vorgestellt. Pädagogische Konzepte, Voraussetzungen für gelingende schulische Inklusionsprozesse sowie Herausforderungen, didaktische Überlegungen aber auch Inhalte der zunehmenden Beratungsarbeit werden dabei sehr anschaulich reflektiert.
Als Fazit ist festzuhalten, dass dieses klar gegliederte und mit hilfreichen Abbildungen versehene Herausgeberwerk insbesondere für eine Leserschaft relevant sein dürfte, die sich weniger für große visionäre Theorieentwürfe der Inklusion mit ihren unterschiedlichen Diversitätsdimensionen interessiert, sondern vielmehr von ausgewiesenen körperbehindertenpädagogischen Expert_innen empirisch fundierte und für die Unterrichts- und Schulentwicklung konkret umsetzbare und äußerst konstruktive Handlungsempfehlungen zur Sicherung der schulischen Teilhabe einer spezifischen Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen im Gemeinsamen Unterricht erhofft. Die große Stärke des Buchs liegt im Vergleich zur bisherigen deutschsprachigen Publikationslage darin, dass der empirische Forschungsstand national und international aufgearbeitet wurde, eigene Studien und einschlägige Praxiserfahrungen eingeflossen sind und theoretische Standpunkte formuliert wurden, die zu kontroversen Diskussionen führen dürften. Aus den genannten Gründen ist die Lektüre der Texte sehr zu empfehlen.
[1] Waldenfels, B.: Der Stachel des Fremden. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990.
EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)
Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung
Stuttgart: Kohlhammer 2014
(275 S.; ISBN 978-3-1702-4283-8; 29,99 EUR)
Annett Thiele (Leipzig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Annett Thiele: Rezension von: Lelgemann, Reinhard / Singer, Philipp / Walter-Klose, Christian (Hg.): Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317024283.html
Annett Thiele: Rezension von: Lelgemann, Reinhard / Singer, Philipp / Walter-Klose, Christian (Hg.): Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317024283.html