EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Christoph Sachße / Florian Tennstedt
Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland
Band 4: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945-1953
Stuttgart: Kohlhammer 2012
(234 S.; ISBN 978-3-17-022225-0; 29,90 EUR)
Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland Keine Frage, wer sich mit der Geschichte des deutschen Sozialstaates insgesamt, vor allem aber mit der Entstehung und Entwicklung der Wohlfahrtspflege in Deutschland beschäftigt, kommt an den Werken von Christoph Sachße und Florian Tennstedt nicht vorbei. Insbesondere die drei in den Jahren 1980 bis 1992 erschienenen Bände zur „Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland“ konnten lange Zeit nicht nur beanspruchen, (weitgehend) historiografisches Neuland zu betreten, sondern setzten auch mit Blick auf die Dichte der Darstellung und ihrer historischen und systematischen Einordnungen Maßstäbe. Auch wenn mittlerweile einige Ergebnisse im Detail ergänzt, widerlegt und erweitert wurden, und einige Interpretationen Widerspruch hervorgerufen haben, können die drei Bände ohne Frage als wegweisende Standardwerke bezeichnet werden.

Eine hoch gelegte Messlatte also, die mit dem nun vorliegenden vierten Band der Reihe übersprungen werden muss. Dies gilt umso mehr als die Geschichte von Fürsorge und Wohlfahrtspflege mittlerweile kein mehr oder weniger randständiges Spezialgebiet einiger weniger Interessierter mehr darstellt, sondern sich – davon legt die Zahl entsprechender Publikationen beredtes Zeugnis ab – zu einem attraktiven Forschungsfeld nicht nur der sozialpädagogischen Forschung entwickelt hat. So sind die Autoren auch nicht die ersten, die sich aus einer wohlfahrtsgeschichtlichen Perspektive mit der unmittelbaren Nachkriegszeit, also dem Zeitraum zwischen dem Ende des Nazi-Staates und dem Ende der ersten Legislaturperiode des ersten deutschen Bundestages (1945-1953), beschäftigen. Zwar ist die Liste entsprechender Publikationen immer noch überschaubar, gleichwohl liegen mittlerweile einige wegweisende Forschungsarbeiten vor, die diesen Zeitraum abdecken und wichtige Befunde vorgelegt haben. Allerdings geht es den Autoren erklärtermaßen auch nicht darum, gänzlich neue Ergebnisse auf der Basis ausführlicher Archivstudien zu präsentieren. Vielmehr beabsichtigen sie, die in großer Zahl vorliegenden zeitgenössischen Veröffentlichungen im Sinne einer synoptischen Gesamtschau zusammenfassend und systematisierend darzustellen.

Dies tun sie in insgesamt neun Kapiteln und einem abschließenden Fazit der Ergebnisse. Nach einer kurzen Darstellung der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Untersuchungszeitraum und der Ausgangslage im Bereich des sozialen Sicherungssystems schildern eigenständige Abschnitte die Entwicklungen in den Kernbereichen der Wohlfahrtspflege, namentlich der Wirtschaftlichen Fürsorge, der Jugendfürsorge und der Gesundheitsfürsorge. Weitere Kapitel behandeln die Neuorganisation der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen sowie die Lage der Freien Wohlfahrtspflege. Ein Kapitel beleuchtet zudem den Bereich der Professionsentwicklung und thematisiert die Entwicklung von Beruf und Ausbildung nach Kriegsende. Abschließend werden die Ergebnisse unter der Fragestellung „Kontinuität und Neuanfang“ zusammenfassend bilanziert.
Wenn auch der Zeitraum zwischen Kapitulation und Wirtschaftswunder auf den ersten Blick nicht eben als aufregende oder besonders wegweisende Epoche erscheint, so ist sie aus wohlfahrtsgeschichtlicher Perspektive durchaus nicht uninteressant. Denn abgesehen von der Frage, wie es den Trägern der Wohlfahrtspflege gelang, mit einer durch die Kriegshandlungen zum Teil massiv zerstörten organisatorischen Infrastruktur die erheblich angewachsenen Aufgaben (Flüchtlinge, Wohnungslosigkeit, ungenügende Versorgung, gesellschaftliche Desintegrationserscheinungen sind hier nur einige Stichworte) zu bewältigen und gleichzeitig die von den Nazis (allerdings nicht selten unter williger Mitarbeit der traditionellen Führungseliten) deformierte institutionelle Struktur wieder aufzubauen, konnten während der frühen Nachkriegszeit in einigen Bereichen beachtliche Neuerungen durchgesetzt werden: So wurde etwa das bis dahin geltende Wohnsitzprinzip zu Gunsten einer am tatsächlichen Aufenthaltsort orientierten Zuständigkeitsregelung ersetzt. Die traditionelle Regelung, nach der für die Unterstützung der Armen zunächst der Heimatfürsorgeverband (finanziell) zuständig sein sollte, war angesichts der erzwungenen Bevölkerungsmobilität der Nachkriegszeit endgültig obsolet geworden. Hier wog die Macht des Faktischen schwerer als das doch in vielerlei Hinsicht erstaunliche Verharrungsvermögen der Wohlfahrtspflege.

Eine weitere Neuerung bestand in dem schrittweise etablierten individuellen Rechtsanspruch auf Fürsorge. Als Konsequenz der Leitgedanken des Grundgesetzes fixierte das Bundesverwaltungsgericht im Juni 1954 endgültig eine Regelung, die sich zuvor schon in einigen Ländern durchgesetzt hatte, dass nämlich die Träger der Fürsorge den Bedürftigen gegenüber eine Rechtspflicht haben und diese entsprechend einen Rechtsanspruch auf Unterstützung. Damit wurde das lange geltende fürsorgerische Grundprinzip, dass nicht der Arme selbst, sondern die Allgemeinheit Träger des Rechtes auf Unterstützung sein sollte, außer Kraft gesetzt und ein individueller Rechtsanspruch auf Fürsorgeleistungen zumindest dem Grunde nach durchgesetzt.

In einem gewissen Sinne können die turbulenten Verhältnisse der Nachkriegszeit also durchaus als Motor partieller Modernisierung des Fürsorgesystems angesehen werden, wenn auch die wirklich wegweisenden Neuerungen tatsächlich erst in den sechziger Jahren (oder noch später) durchgesetzt wurden. Ein Blick etwa auf die von Sachße und Tennstedt nicht eigens behandelte Geschlossene Fürsorge, also jene Einrichtungen, Anstalten und Heime im Bereich der Behindertenhilfe, der Jugendhilfe oder anderswo hätte allerdings möglicherweise ein deutlich anderes Bild gezeigt. Die unmittelbar nach Kriegsende in der Jugendfürsorge wieder einsetzenden Diskussionen über die Verwahrung angeblich „asozialer“, „arbeitsscheuer“ oder „verwahrloster“ Personen machten jedenfalls deutlich, dass eine grundsätzliche Neuausrichtung der Wohlfahrtspflege oder auch nur eine Revision obrigkeitsstaatlicher und sogar unverhohlen repressiver Konzepte jedenfalls nicht auf der Tagesordnung stand.

Unterm Strich: Wie auch bei den vorangegangenen Bänden gehört es zu den Vorzügen der Studie, dass die Autoren die von ihnen geschilderten Entwicklungen konsequent in die großen Linien der Fürsorgegeschichte einordnen. So wird der Zusammenhang einzelner Details zum großen Ganzen immer sichtbar und einzelne Sachverhalte bleiben auch für LeserInnen verständlich, die mit den Finessen der Fürsorgegeschichte nicht vertraut sind. Hervorzuheben ist auch, dass die Autoren trotz der Konzentration auf die amerikanische Besatzungszone und das neu gebildete Land Hessen immer auch auf anders verlaufende Entwicklungen oder Parallelen in den anderen Besatzungszonen hinweisen. Dies ist hervorzuheben, da die ohnehin durch allerlei regionale/lokale Sonderwege und eine zerklüftete institutionelle Matrix gekennzeichnete Landschaft der Wohlfahrtspflege durch die unterschiedlichen Zuständigkeiten und Regelungen in den vier Besatzungszonen nicht eben übersichtlicher wurde. Gewiss, künftige Regional- oder Lokalstudien werden mit Blick auf das ein oder andere Detail sicher zu anderen Ergebnissen kommen und auch die weitgehende Ausblendung des ja keineswegs randständigen Bereichs der geschlossenen Fürsorge oder der Entwicklungen in der SBZ/DDR wäre zu kritisieren. Aber angesichts des synoptischen Anspruchs der Studie sind solche Monita kleinlich und stellen den überzeugenden Gesamteindruck keineswegs in Frage. Sachße und Tennstedt haben mit ihrem vierten Band jedenfalls ein Werk vorgelegt, an dem sich die künftige Forschung wird abarbeiten müssen. Zu hoffen ist, dass Band 5 nicht wieder 20 Jahre auf sich warten lässt.
Sven Steinacker (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Steinacker: Rezension von: Sachße, Christoph / Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Band 4: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945-1953. Stuttgart: Kohlhammer 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317022225.html