Eine Einführung in ein Wissenschaftsgebiet steht vor den Fragen der Auswahl und der Systematisierungsweise. Um seine Wahl der Inhalte sowie der systematischen Darstellung plausibel zu machen, bedarf es bei Reichenbach einer Einleitung von 15 Seiten. Damit sei noch keine Wertung dieser Einführung vorgenommen, die sich vorwiegend an Studierende der Pädagogik richtet.
Einem studentischen Neuling in der Erziehungswissenschaft wird nach den Präliminarien klar, dass die „Philosophie der Bildung und Erziehung“ nicht einfach – besser: nicht eindeutig ist und dies bewusst auch nicht sein will. Vieldeutig legitimiert Reichenbach durch abwägendes Für und Wider die Gliederung des Buches durch den „Ismen-Ansatz“. Die von Reichenbach begründet unbegründbare Auswahl der zehn Ismen, wobei, von ihm zugegeben, nicht alle welche sind, lautet: (Platonischer) Idealismus, (Aristotelischer) Realismus, (Rousseauianischer) Naturalismus, Aufklärung, Deutscher Idealismus, Pragmatismus, Existenzialismus, Analytische Philosophie, Skeptische Philosophie und Postmodernismus.
Der fortgeschrittene Pädagogik-Student freut sich über die übersichtlichen Tabellen am Ende der Einleitung; denn diese bieten Orientierung und stellen ein Systematisierungsraster bereit. Die lockere und selbstironische Schreibweise der Einleitung ermuntert trotz erwähnter Verunsicherungsgefahr zum Weiterlesen. Die Examenskandidatin in Erziehungswissenschaft allerdings, die bereits ihre Magisterarbeit zu einem der Ismen (z.B. zu Platon) geschrieben hat, merkt (oder sollte dies zumindest), dass eine Einführung auch mit Problemen der Verknappung, der Verkürzung und der Oberflächlichkeit zu kämpfen hat. Die Tiefe ist jedoch generell nicht Reichenbachs Anliegen (vgl. Kap. 3.3.2 und 5.3). Ihm geht es vor allem um ein Hineinführen in bildungs- und erziehungsphilosophische Fragestellungen, womit gewisse Untiefen gerechtfertigt werden.
Im ersten Kapitel zu Platons Idealismus verdeutlicht Reichenbach am Höhlengleichnis, dass Bildungsprozesse nicht nur freiwillig, förderlich und ungefährlich sind. Die oben exemplarisch erwähnte Examenskandidatin könnte bemerken: Es mag stimmen, dass bei „manchen“ Interpretationen der interessante Aspekt der ‚pädagogischen Nötigung’ nicht erwähnt wird; nur sind derartige Interpretationen wahrscheinlich keine pädagogischen. Einschlägige Höhlengleichnisinterpretationen von Bildungstheoretikern wie W. Jaeger, Th. Ballauff und J. Derbolav z.B. legen auf den problematischen Zwang bei der Befreiung aus der Höhle des Alltagsverstandes besonderen Wert. Aber Reichenbach stützt sich seinerseits lieber auf neuere englische Literatur (Nigel Tubbs 2005) und vollzieht einen atemberaubenden Sprung vom platonischen Höhlengleichnis in Lindas Welt der englischen Unterschicht der 1980iger Jahre. An Linda wird exemplarisch gezeigt, wie erst Nicht-Bildung und dann Bildung zum Unglück beitragen kann. So anschaulich das Beispiel von Linda ist und so erfrischend die aktuellen Bezüge (z.B. zum Kinofilm „Matrix“) erscheinen: Für eine philosophische Problematisierung wären Hinweise auf einige ‚Klassiker der pädagogischen Platoninterpretation’ hilfreich gewesen. Dort wird das Höhlengleichnis nämlich höchst selten „erbaulich und moralisch eindeutig interpretiert“, wie Reichenbach behauptet (33). Die Darstellung eines idealistischen Denkansatzes allerdings gelingt und endet mit übersichtlich nummerierten Vor- und Nachteilen des pädagogischen Idealismus in einer präzisen Zusammenfassung. Die pointierten Zusammenfassungen überlassen es durch ihre Ambivalenzen dem Leser, die jeweilige Perspektive des Ismus einzunehmen oder nicht. Leider werden sie im Buch fortlaufend spärlicher.
Spätestens im zweiten Kapitel über Realismus am Beispiel von Aristoteles hat der Leser das Prinzip der Systematisierung verinnerlicht. Es wäre ein hybrides Unterfangen die Aristotelischen Themen – eudaimonia, entelecheia und telos, praxis und poesis, bios theoretikos und bios politikos sowie die Lehre der Mitte (mesotes) – auf den fünf Seiten, die Reichenbach dafür verwendet, auch nur annähernd auszuloten. Doch darum geht es auch nicht. Die Bezugnahme auf Aristoteles soll ein Verständnis einer realistischen Position und deren Folgen für pädagogisches Denken und Handeln vermitteln.
Rousseau muss dem Darstellungsprinzip entsprechend im dritten Kapitel zum Naturalismus als Sprungbrett herhalten für Reichenbachs Steckenpferde der Entkernung und Intransparenz des Subjekts sowie der Demokratie- und Freiheitsproblematik. In der brillanten Argumentation über das Für und Wider von Natürlichkeit und Authentizität kommen H. Arendt und R. Sennett häufiger zu Wort als Rousseau selbst. Was zu Rousseaus Zeiten eine Befreiung im Denken war und ansatzweise in reformpädagogischen Projekten noch heute gefeiert wird, nimmt im Lichte von Reichenbachs Interpretation totalitäre Züge an. Die Forderung, entsprechend einem inneren Kern natürlich und authentisch sein und leben zu müssen, sei „geradezu die Verhinderung der Möglichkeit von Freiheitspraxis“ (80) und stehe in der Gefahr ein Gängelband kontrollfixierter Pädagogen zu werden. Es gelingt Reichenbach in diesem Kapitel zu zeigen, welche verführerische Suggestivkraft die naturalistische Position in der Pädagogik ausübt. Noch überzeugender aber gelingt ihm das Aufzeigen von Spuren naturalistischen Denkens in heutigen alltäglichen wie professionellen pädagogischen Selbstverständlichkeiten.
Ein überzeugendes Beispiel, was Philosophie der Erziehung und Bildung leisten kann, auch ohne gleich praktische Lösungs- und Anwendungsvorschläge anzubieten, ist das Kapitel zur Aufklärung und zu Kant. Reichenbach verdeutlicht nicht nur die Dialektik der Aufklärung, sondern zeigt die allgemeines wie pädagogisches Denken bestimmenden Implikationen des Fortschrittsgedankens und dessen Transformation. Die knappe Darstellung der für die Pädagogik relevanten Themen Kants (Freiheitsproblematik und kategorischer Imperativ) zeichnet sich durch präzise Klarheit und anschauliche Beispiele aus. Die etwas variierten klassischen Beispiele von Piaget hätten die Erwähnung seines Namens auch verdient. Spätestens in diesem Kapitel kommt dem Leser die Frage, wie sinnvoll biographische Abschnitte in einer Einführung zur Bildungsphilosophie sind. Dass Aristoteles früh seinen Vater verlor, Rousseau seine Kinder ins Findelhaus brachte, Kant ein pedantischer Kauz war und Wittgenstein Dorfschüler verprügelte, wirkt als erwähnter Fakt in studentischen Hausarbeiten immer wieder peinlich, wenn damit irgendetwas gesagt, begründet oder gewertet werden soll.
Im Kapitel zum Deutschen Idealismus bleibt dem Leser Biographisches erspart, für wen hätte man sich auch entscheiden sollen – Fichte, Hegel, Schelling oder Hölderlin? An den deutschen-idealistischen Diskursen zeigt Reichenbach in höchst ironischem Ton, wie die Sehnsucht nach Versöhnung des dualistischen Denkens, der Ordnungswille und die Suche nach einem einheitlichen Grund oder Prinzip „den kritischen Geist mitunter verführt“ (122). Wie sich das kaum hinterfragte Ganzheitlichkeitsdenken im heutigen pädagogischen Denken präsentiert, zeigt Reichenbach mit viel Witz an der Verwendung der Wörter „ganz“ und „ganzheitlich“ in Schweizer Lehrplänen der Grundschulstufe. Er gibt damit gleichzeitig ein schönes Beispiel dafür, welche Kapriolen ein philosophisch geschulter Blick aus Konzepten der schulischen Praxis zu Tage fördern kann. In diesem höchst amüsant zu lesenden Kapitel verrät Reichenbach seinen Anlass (oder sollte es ein Prinzip sein?) zu philosophischem Denken in pädagogischen Belangen: „Wo alle nur noch mit dem Kopf nicken können – nämlich weil Ganzheitlichkeit tatsächlich irgendwie gut ist –, stimmt etwas nicht“ (125).
Das folgende sechste Kapitel über den Pragmatismus erscheint im Gegensatz zum spitzfindigen fünften Kapitel – vielleicht bewusst oder konsequent – pragmatisch. Der Leser wird prägnant über die grundlegenden Ideen des Pragmatismus informiert: Der Erkenntnisgewinnung in so genannten Beobachtungstheorien werden Erfahrungen gegenübergestellt. Erfahrungen bieten vorläufige Antworten auf aktuelle Probleme in konkreten Situationen. Lernen wird damit zum Problemlösen und Erziehen funktioniert über das Machen und Erleiden von Erfahrung.
Die Thematisierung der Existenzphilosophie ist in der Pädagogik immer noch eine Ausnahme. Umso erfreulicher ist Reichenbachs überzeugende Argumentation um ihren Nutzen und Nachteil im pädagogischen Denken und Handeln. Über Heideggers Kritik am Leben im „Man“ und Jaspers Kritik an dieser Kritik, die ein außerweltliches Eigentliches radikal in Frage stellt, wird mit Eugen Fink existenzphilosophisches Denken für Erziehung und Bildung theoretisch wie praktisch interessant. So wird in diesem Kapitel dem obigen „Prinzip“ komplementär das, was manchen „suspekt, mitunter schwulstig und ganz sicher unwissenschaftlich“ (165) erscheint (also dort, wo alle nur noch mit dem Kopf schütteln), in seiner lebensweltlichen wie pädagogischen Bedeutung hervorgehoben.
Im Kapitel zur analytischen Erziehungsphilosophie kommt über die detaillierte Entstehungsgeschichte und Biographisches zu Wittgenstein das pädagogisch relevante Hauptanliegen etwas zu kurz. Anstatt die durch sprachliche Analysen kritisch zu hinterfragenden pädagogischen Ideen, Slogans, Diskurse und Metaphern vielfach aufzuzählen, wäre eine exemplarische sprachkritische Analyse für Studierende ansprechender gewesen.
Was in den letzten beiden Kapiteln schon Erwähnung fand, wird im sokratisch-skeptischen Ansatz der Pädagogik zum Mittelpunkt: Rückhaltloses Denken, Ethos des Zweifels und die Produktivität des Nichtwissens. Das Problem dieses Ansatzes wird in zweifacher Hinsicht deutlich: Skepsis setzt ein Dogma oder zumindest eine Meinung voraus, woran gezweifelt werden kann. Und was leistet sie eigentlich Positives außer der Destruktion? „Erkanntes Unwissen ist ‚aktives’ Nichtwissen“ (196) und damit für Bildungsprozesse konstitutiv, was der skeptischen Haltung hinreichend praktische Bedeutung gibt. Auf die Erziehungswissenschaft selbst bezogen liefert die Skepsis jedoch keine Lehre, keine Prinzipien oder mögliche Begründungen von Erziehungszielen. Sokratische Skepsis führe zu rückhaltlosem Denken, halte die Wahrheitssuche offen und mache die Ratlosigkeit zu einer gemeinsamen pädagogischen wie wissenschaftlichen Beratungspraxis.
Die skeptische Haltung setzt sich fort im letzten Ismus der Postmoderne. Postmoderne Skepsis ist mit Lyotards Worten „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“, d.h. ein Zweifel daran, dass sich Konflikte innerhalb eines Diskurses und Widerstreit zwischen den Diskursarten zu einem Konsens bringen lassen, wenn die Argumente eine gewisse Güte erreicht hätten und überzeugten. Postmoderne Pädagogik agiere in einer Welt, „in der man nicht mehr glaubt, die besten Gründe für diese oder jene Norm auch definitiv gefunden zu haben“ (232).
So lässt sich auch kein bester Grund für diesen oder jenen Ismus innerhalb der Philosophie der Bildung und Erziehung finden, und der Leser wird sokratisch in die Aporie entlassen. Dieses positive und den Leser aktivierende Offenlassen macht das Buch für Studenten wie Dozenten in außerordentlicher Weise geeignet, mit dem Philosophieren zu beginnen.
EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)
Philosophie der Bildung und Erziehung
Eine EinfĂĽhrung
Stuttgart: Kohlhammer 2007
(253 S.; ISBN 978-3-17-019606-3; 18,00 EUR)
Gabriele WeiĂź (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele WeiĂź: Rezension von: Reichenbach, Roland: Philosophie der Bildung und Erziehung, Eine EinfĂĽhrung. Stuttgart: Kohlhammer 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317019606.html
Gabriele WeiĂź: Rezension von: Reichenbach, Roland: Philosophie der Bildung und Erziehung, Eine EinfĂĽhrung. Stuttgart: Kohlhammer 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978317019606.html