Wer auch immer eine Geschichte der Pädagogik vorlegt, verfolgt damit ein bestimmtes Ziel, hat ein ganz bestimmtes theoretisches und methodisches Programm hierzu im Kopf. Dieses wird in den vorliegenden Geschichten der Pädagogik mehr oder weniger ausführlich, anders formuliert: mehr oder weniger transparent in der Regel in Vorworten oder Einleitungen, manchmal auch in einem ersten grundlegenden Kapitel formuliert. So soll auch der erste Blick in der von Benner und Brüggen vorgelegten Geschichte der Pädagogik dem darin enthaltenen Vorwort gelten. Welche Intention, welche Herangehensweise und welcher Aufbau der Arbeit lassen sich diesem entnehmen?
Auf nicht einmal ganz zwei Seiten erhalten die Leser/innen folgende – spärlichen – Informationen zur Konzeption: Den Autoren gehe es weniger um „die historischen Fakten im engeren Sinne“ – was auch immer genau damit gemeint ist – , sondern um „die Konstitutions- und Reflexionsprobleme des Erziehungs- und Bildungsdenkens“ (10). Hierbei werde ein zentraler Fokus auf „die Absetzung bzw. Besonderheit und Ausdifferenzierung der Eigenlogik pädagogischen Denkens und Handelns“ gelegt (ebd.): In den ersten vier Kapiteln – „Vorneuzeitliche Kontexte neuzeitlicher Pädagogik“, „Die Pädagogik im Humanismus“, „Rationalitäts- und Bildungskonzepte der frühen Neuzeit: Bacon und Comenius“, „Naturrecht und Erziehung: Locke und Rousseau“ – würden „europäische Zusammenhänge des Erziehungsdenkens, die für deutsche Diskurse bedeutsam wurden“, behandelt, in den folgenden Kapiteln 5-13 – vom „pädagogischen Jahrhundert in Deutschland“ bis zur „Pädagogik und Erziehungswissenschaft in der BRD von 1945 bis zur Gegenwart“ – „die Geschichte der Pädagogik in Deutschland“ (9).
Festhalten lässt sich, dass das Vorwort sehr knapp ausgefallen ist. Die eigene Sichtweise wird zwar kurz benannt, aber nicht ausgeführt und erläutert. Dass man dies auch ganz anders machen und damit etwa studentischen Leser/innen eine kritische Einordnung ermöglichen kann, zeigt beispielsweise das Einleitungskapitel in Tremls 2005 erschienener „Pädagogischer Ideengeschichte“.
Liest man in Benners und Brüggens Geschichte der Pädagogik die Kapitel 1-9, so erhält man – je nach Vorarbeiten / Vorwissen der Autoren – einen teilweise sehr dichten, komplexen Überblick über oder eher Einblick in die Erziehungs- und Bildungstheorien europäischer bzw. deutscher Klassiker der Pädagogik – wobei der kundige Leser / die kundige Leserin sich bei der Lektüre darin bestätigt fühlt, wie unverzichtbar es ist, Interpretationen von Klassikern an deren Primärtexten zu überprüfen.
Das 10. Kapitel weist schon von der Überschrift her – „Zur Entwicklung des Schulwesens im 19. Jahrhundert“ – einen gewissen Bruch zum Bisherigen auf, steht nun doch plötzlich Realgeschichtliches im Zentrum – man hätte sich ja auch eine Überschrift vorstellen können wie „Von Schulmännern, Gymnasialpädagogen und Herbartianern“. Keine ihrer erziehungs- oder bildungstheoretischen Überlegungen jedoch scheinen Benner und Brüggen darstellungswert zu sein: „Schulmännerpädagogik“ und Herbartianismus werden in einem Satz abgehandelt (im Vergleich dazu bekam Jean Paul dreieinhalb Seiten!). Die sehr verdichtete realgeschichtliche Darstellungsweise führt zwangsläufig zu Ungenauigkeiten; zufriedenstellen kann es einen aber nicht, wenn man etwa liest, dass in der Weimarer Republik „Grund- und Volksschullehrer“ an „pädagogischen Hochschulen“ ausgebildet worden seien (238).
Das nächste Kapitel ist überschrieben mit „Pädagogik und Erziehungswissenschaft zwischen 1890 und 1945“ und umfasst somit eine große Zeitspanne und drei politische Systeme. Es beginnt mit einem Unterkapitel zur Reformpädagogik mit klaren Schwarz-Weiß-Zeichnungen (z. B. Key, Petersen schwarz; Otto, Geheeb weiß), ohne auch nur einen Hinweis auf den wissenschaftlichen Dauerstreit um die Einschätzung der deutschen Reformpädagogik zu geben. In einem weiteren Unterkapitel stellen Benner und Brüggen „empirische, geisteswissenschaftliche und neukantianische Erziehungswissenschaft als Transformation der Reformpädagogik“ dar. Das dritte Unterkapitel ist überschrieben mit „Das Ende der wissenschaftlichen Pädagogik: Erziehung, Bildung und Schule im Nationalsozialismus“, wobei die Überschrift erstaunt (es gab ja weiterhin, wenn auch etwas reduziert, Pädagogiklehrstühle an den Universitäten), zumal in den Ausführungen vor allem auf die NS-Erziehungswissenschaftler Baeumler und Krieck eingegangen wird, um anschließend wieder – recht oberflächlich – ein paar realgeschichtliche Zusätze zu bieten.
Die letzten beiden Kapitel sind der „Pädagogik und Erziehungswissenschaft in der SBZ und der DDR“ bzw. „in der BRD von 1945 [!] bis zur Gegenwart“ gewidmet. Im Zentrum stehen jeweils die erziehungs- und bildungstheoretischen Diskurse, die realgeschichtlichen Einsprengsel – etwa zum Aufbau des sozialistischen Bildungssystems – sind sehr oberflächlich und tendenziell apologetisch geraten (wie das gesamte Kapitel). Im letzten Kapitel erfolgt die Auswahl erziehungs- und bildungstheoretischer Diskurse bzw. Diskursteilnehmer besonders selektiv und willkürlich erscheinend, etwa, wenn bei den erziehungstheoretischen Diskursen Wilhelm Flitner, das Ehepaar Tausch, Neill, Mollenhauer, die Therapeuten Rotthaus und Winterhoff, Hannah Arendt, Litt, Fink und Schaller angeführt werden. Die Auswahl erscheint allerdings dann etwas weniger willkürlich, wenn man sie als der systematischen Perspektive der Autoren geschuldet erkennt, die Eigenlogik pädagogischen Denkens und Handelns zum zentralen Thema zu machen.
Mein Fazit fällt entsprechend aus: Die Geschichte der Pädagogik von Benner und Brüggen ist in systematischer Perspektive geschrieben worden, wobei die Systematik nicht induktiv dem historischen Material entnommen, sondern vielmehr ein pädagogischer Grundgedankengang an das historische Material angelegt wurde. Anders und in aller Klarheit formuliert: diese Geschichte der Pädagogik ist nur umfassend zu verstehen und einzuordnen, wenn man sich mit Benners „Allgemeiner Pädagogik“ auseinandergesetzt hat.
Die systematische Herangehensweise an die Geschichte hat ihre großen Vorzüge darin, dass ein roter Faden beim Lesen entsteht und die Entwicklung pädagogischer Grundfragen in Theorie und Praxis entfaltet wird. Sie hat allerdings den Nachteil oder impliziert zumindest die Gefahr, dass die Geschichte an die Systematik angepasst, sozusagen die Geschichte der Systematik eingeschrieben wird. Was stört, bleibt außen vor, pädagogische Klassiker werden entsprechend harmonistisch interpretiert, Widersprüche werden nicht ausgehalten, Wertungen fallen eindeutig aus usw.
Darüber hinaus ist kritisch anzumerken, dass die hier zu besprechende Geschichte der Pädagogik einen relativ hohen erziehungs- und bildungstheoretischen Sachverstand erfordert, um der Dichte und gleichzeitig der – teilweise sehr willkürlich erscheinenden – Selektivität der Darstellung nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Der Hinweis auf alternative Sichtweisen erfolgt in dieser Geschichte der Pädagogik äußerst – m. E. viel zu – selten (auch weiterführende Literaturhinweise werden nicht gegeben); damit sie nicht zur Indoktrination gerät, setzt sie also den / die kundige(n) und kritische(n) Leser/in voraus. Pointiert formuliert: Für Studierende ist (trotz des Studierenden freundlichen Preises dieses Reclam-Buches) diese Geschichte der Pädagogik nur sehr bedingt geeignet, auch wenn an wenigen Stellen der Eindruck entsteht, dass sie für diese zumindest auch oder sogar primär geschrieben ist, etwa wenn Fremdwörtern in Zitaten in eckiger Klammer ihre Übersetzungen hinzugefügt werden oder am Anfang oder Ende eines größeren Kapitels eine Vorschau bzw. eine knapp zusammenfassende Rückschau erfolgt. Zu erwähnen ist hier auch das Personenverzeichnis.
Kann man über die bisher vorgetragenen Kritikpunkte gewiss trefflich streiten, so ist nun noch ein Punkt anzuführen, der in einer möglichen zweiten Auflage zwingend der Korrektur bedarf. Hiermit meine ich die Vielzahl an inhaltlichen Ungenauigkeiten und Fehlern sowie die teilweise schlampigen Zitationsweisen und ungenügenden bibliographischen Angaben. Zu ersteren (aus Platzgründen) nur noch ganz selektiv einige wenige Beispiele: die Bezeichnung von Pestalozzis „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ (1801) als „vierteiligen Roman“ (193), angesiedelt nach seinem Scheitern in Neuhof (ebd.); die Gründung der Armenanstalt in Stans einmal mit dem Jahr 1799 (192), dann mit dem Jahr 1798 (194) versehen; die Behauptung, dass Herbart keine Schule besucht habe, um dann zwei Sätze weiter von seinem Besuch einer Lateinschule zu berichten (197); die Behauptung, dass Litt während der NS-Zeit mit „Berufsverbot“ belegt worden sei (282) – und vieles mehr. Mehr Sorgfalt hätte dieser Geschichte der Pädagogik also durchaus gut getan!
EWR 11 (2012), Nr. 2 (März/April)
Geschichte der Pädagogik
Vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart
Stuttgart: Reclam 2011
(424 S.; ISBN 978-3-1501-0811-6; 19,95 EUR)
Eva Matthes (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eva Matthes: Rezension von: Benner, Dietrich / Brüggen, Friedhelm: Geschichte der Pädagogik, Vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978315010811.html
Eva Matthes: Rezension von: Benner, Dietrich / Brüggen, Friedhelm: Geschichte der Pädagogik, Vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978315010811.html