EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)

Alfred SchÀfer / Christiane Thompson (Hrsg.)
Arbeit am Begriff der Empirie
Wittenberger GesprÀche II
Halle-Wittenberg: Martin-Luther-UniversitÀt Halle-Wittenberg 2014
(202 S.; ISBN 978-3-00-046036-4)
Arbeit am Begriff der Empirie „Arbeit am Begriff der Empirie“ war das Thema der zweiten Wittenberger GesprĂ€che, die im Mai 2013 in der Lutherstadt Wittenberg stattfanden. Der von Alfred SchĂ€fer und Christiane Thompson editierte Band trĂ€gt dabei der grundlegenden Idee der Tagung Rechnung, die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung in kritischer Absicht zu befördern und in diesem Zusammenhang aktuelle Diskurslinien, die gegenwĂ€rtig in der Erziehungswissenschaft aufscheinen, einer vertieften Reflexion zu unterziehen.

SchĂ€fer und Thompson streichen bereits in ihren einleitenden Worten deutlich heraus, dass „die ‚Arbeit am Begriff der Empirie‘ im Zeichen einer nicht empiristisch reduzierten Forschung dargestellt werden soll“ (9). Die Autor/-innen der BeitrĂ€ge wenden sich vielmehr metatheoretischen Fragestellungen zu und verschreiben sich „einer disziplinĂ€ren Reflexion“ (12). Hierbei kommen etwa wissenschaftstheoretische und epistemologische AnsĂ€tze zum Zuge, die gegenwĂ€rtig in der Erziehungswissenschaft nur wenig rezipiert werden.

Zu Beginn ihrer AusfĂŒhrungen zum Empiriebegriff bringen die Herausgeber/-innen eine zweifache Differenz zum Ausdruck: Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis bzw. Empirie einerseits (als die Verschiedenheit von zu erkennender Sache und dem tatsĂ€chlich Erkannten) und die Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen. Dabei wird die Annahme formuliert, dass die Erziehungswissenschaft gegenwĂ€rtig ihr Wissen (wie auch ihre Forschungsmethoden, mit welchen dieses Wissen generiert wird) vervielfĂ€ltigt und dass weiterhin immer neue machtvolle Strategien auszumachen sind, anhand derer dieses Wissen in gesellschaftliche und politische Bereiche vordringt (vgl. 7ff). Doch welches Wissen wird vornehmlich produziert? Auch auf diese Frage finden sich bereits in der Einleitung des Bandes deutliche Hinweise, wenn etwa die PISA-Studien oder die Bildungsberichterstattung als Projekte beschrieben werden, die „eine Empirie um die Kriterien der Effizienz und LeistungsfĂ€higkeit von Bildungsinstitutionen“ (9) einrichten und dadurch eine hegemoniale Gewichtung des eigentlich multiplexen pĂ€dagogischen Wissens vornehmen.

Zwei der BeitrĂ€ge des Tagungsbandes – zum einen von Thomas MĂŒller und zum anderen von Edgar Forster – befassen sich unter diesen Vorzeichen mit den weitreichenden Konsequenzen zunehmender Evidenzbasierung in der PĂ€dagogik. Die Programmatik der „Evidence-Based Practice“ verfolgt gemĂ€ĂŸ MĂŒller das Ziel, „Politik, Forschung und Praxis so miteinander zu verzahnen, dass die Forschung jenes Wissen produziert, das der Politik hilft, wirksame Maßnahmen fĂŒr die Verbesserung der Praxis zu ergreifen“ (157). Randomisierte Untersuchungsverfahren, wie sie in naturwissenschaftlichen Studien erfolgreich eingesetzt werden, werden auf pĂ€dagogische GegenstĂ€nde angewandt und letztlich wird – etwa von politischen Akteur/-innen, aber auch von Praktikern und Wissenschaftlerinnen – ausschließlich auf diese Weise generiertes Wissen als legitimes Wissen akzeptiert. Dies fĂŒhrt zu „einem hierarchischen VerstĂ€ndnis von Wissensformen“ (172), und so hĂ€lt auch Forster fest, dass sich „an Evidenz [...] hegemoniale KĂ€mpfe um ‚richtige‘ Wissenschaft [entzĂŒnden]“ (193). Der Autor zeigt in seinem Beitrag unter anderem anhand der Analyse eines Textausschnitts des OECD-Reports Evidence in Education die Stoßrichtung der forschungspolitischen Strategie auf, die sich in der Evidenzdebatte niedergeschlagen hat. Unter Bezugnahme auf Lyotards Überlegungen zur Praxis der Verkettung findet Forster deutliche Worte: „Die technologische Verkettung in Evidence in Education hat die Aufgabe, jene Felder zu meiden, die den Widerstreit zulassen oder begĂŒnstigen“ (191).

Eine machtkritische Perspektive nimmt des Weiteren Wolfgang Meseth ein. Der Autor eröffnet eine neue Sicht auf schulischen Unterricht, die es ermöglicht, „das hegemoniale Wissen ĂŒber PĂ€dagogik“ (102) zu problematisieren. So zeigt Meseth exemplarisch mittels einer Sequenzanalyse eines Transkriptausschnitts einer Unterrichtslektion auf, „dass der Unterricht verschiedene Normenhorizonte [die KonformitĂ€ts- sowie die Kooperationsnorm; MS] hervorbringt, die sich ĂŒberlagern und verschieben können“ (117). Es wird verdeutlicht, dass es ein solcher Analysezugang zulĂ€sst, die Konstitution sozialer Ordnungsmuster im Schulunterricht als einem zentralen Feld empirischer erziehungswissenschaftlicher Untersuchungen herauszuschĂ€len. Derartige Zielsetzungen und Vorgehensweisen sind gemeinhin in Arbeiten, die sich der Erforschung von schulischem Unterricht annehmen, wenig verbreitet.

Weitere BeitrĂ€ge des Tagungsbandes diskutieren metatheoretische und methodologische Reflexionen unterschiedlicher Methoden und ForschungszugĂ€nge und zeigen deren Möglichkeiten und Grenzen auf. Kirsten Puhr widmet sich in ihrem Beitrag „Fragen nach dem ErzĂ€hlenden und dem ErzĂ€hlten Ich“ (30) und arbeitet heraus, wie erzĂ€hltheoretische Perspektiven fĂŒr empirische Forschung fruchtbar gemacht werden können. Ralf Mayer und Britta Hoffarth beschĂ€ftigen sich mit Potentialen und Schwierigkeiten von biographischen ForschungszugĂ€ngen und diskutieren und problematisieren diese anhand des Konzepts der Artikulation von Laclau und Mouffe. Norbert Meder und Stefan Iske vertreten in ihrem Beitrag die Ansicht, dass „der Arbeit am Begriff der Empirie [...] die Arbeit in der Empirie [korrespondiert]“ (79f.) und zeigen Möglichkeiten zur Untersuchung von Bildungsprozessen in hypertextuellen Lernumgebungen unter Bezugnahme auf Whiteheads Prozesstheorie auf. Mit diesem Vorgehen kritisieren sie explizit, dass es erziehungswissenschaftlicher Forschung vornehmlich um die Resultate von Bildung – man könnte auch sagen: Bildung als output – geht und weniger um deren Dynamiken und Prozessmomente (vgl. 95).

Alle neun BeitrĂ€ge zur „Arbeit am Begriff der Empirie“ zeichnen sich durch ein hohes Maß an inhaltlicher und reflexiver QualitĂ€t und mitunter auch KreativitĂ€t aus. In Bezug auf Letzteres sei vor allem auf den Beitrag von Olaf Sanders verwiesen: Der Autor skizziert in einfallsreicher Manier und anhand zahlreicher Beispiele aus der bildenden Kunst, Musik und Film, wie artistic research mit empirischer Forschung zusammenzudenken wĂ€re und inwiefern der Empiriebegriff erweitert verstanden werden mĂŒsste.

Zwei weitere zentrale Gedanken, die im Tagungsband verschiedentlich aufscheinen, kommen bei Gaja von Sychowski im Beitrag mit dem Titel „Korrelation als Differenz im Zusammenhang – zu einer Möglichkeit, das VerhĂ€ltnis von Theorie und Empirie auszuloten“ besonders prĂ€gnant zum Ausdruck. Zum einen schlĂ€gt die Autorin vor, theoriegeleitete Forschung als performativen Akt – als Hervorbringung und Anwendung bestimmter Prinzipien – zu verstehen, was nahelegt, dass Bildungsphilosophie und -theorie systematisch mit Bildungsforschung verschrĂ€nkt ist: „Wird nĂ€mlich fĂŒr dieses VerhĂ€ltnis [von Bildungsphilosophie und Bildungsforschung; MS] in der Erziehungswissenschaft empirisches Forschen im Sinne von Forschungsperformanz verstanden, korrelieren Bildungsphilosophie und Bildungsforschung ebenso wie Prinzip und Faktum, wie Theorie und Empirie“ (74). Zum anderen wird klar, dass die im Forschungsprozess eingesetzten Prinzipien verĂ€nderbar bleiben mĂŒssen, denn ob sich „einmal erhobene Prinzipien in der Anwendung je und je bewĂ€hren, ist immer wieder neu ergebnisoffen“ (75). So halten auch Thompson und SchĂ€fer in der Einleitung des Tagungsbandes fest, dass es bei der ‚Arbeit am Begriff der Empirie’ darum geht, „Wissenschaft und ihre methodischen Instrumentarien nicht als vorgegeben, sondern als im Prozess der Forschung selbst zu Entwickelndes und zu Reflektierendes“ (19) zu verstehen. Das Feld der Erziehungswissenschaft ist demzufolge nicht etwas bereits Bestimmtes und Festgelegtes, denn die pĂ€dagogische Wissenschaft hat sich fortlaufend weiter – und unter UmstĂ€nden auch anders und neu – zu bestimmen und sich dabei selbst in problematisierender Weise zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Dieser Gedanke leitet die BeitrĂ€ge des Tagungsbandes, was aus Sicht der Rezensentin mehr als begrĂŒĂŸenswert ist. Den Autor/-innen ist ebendiese problematisierende Reflexion auch durchgehend sehr gut gelungen.

Die LektĂŒre des Tagungsbandes eröffnet Lesenden weiterhin Einsichten darĂŒber, was ‚Arbeit an einem Begriff‘ eigentlich bedeutet: Es geht darum, zuweilen unreflektiert verwendete Begriffe und Konzepte einer Kritik zu unterziehen, in dieser oder jener Weise eingesetzte Kategorien zu problematisieren und danach zu fragen, welches Wissen mit welchem (scheinbaren) Recht dominant ist und reproduziert wird. Eine solche Arbeit hat also immer auch Machteffekte mit zu berĂŒcksichtigen. Zu den eben genannten Punkten bietet der hier rezensierte Band in Bezug auf den Empiriebegriff vielfĂ€ltige DenkanstĂ¶ĂŸe und ist somit nicht ausschließlich fĂŒr Erziehungswissenschaftler/-innen interessant. Anzumerken bleibt an dieser Stelle jedoch, dass die BeitrĂ€ge bisweilen in sehr komplexer Weise verfasst und somit teilweise etwas schwer zugĂ€nglich sind. Ein vertieftes (bildungs-)philosophisches Hintergrundwissen ist von Vorteil, um wenigstens die in den verschiedenen BeitrĂ€gen angefĂŒhrten theoretischen Positionen besser nachvollziehen zu können.

Abschließend lĂ€sst sich festhalten, dass der Tagungsband zu den zweiten Wittenberger GesprĂ€chen deutlich macht, dass viele Fragen in Bezug auf die ReprĂ€sentation von Wirklichkeit(skonstruktionen) notwendigerweise unentscheidbar bleiben. Die Anerkennung dieser Unlösbarkeit fĂŒhrt letztlich zur Aufforderung, solche Fragen fortwĂ€hrend zum Bezugspunkt kritischen Nachdenkens in empirischen Forschungsprozessen zu machen. Dies kommt einer Einladung gleich, die ‚Arbeit am Begriff der Empirie’ beharrlich weiterzufĂŒhren.
Madeleine Scherrer (Fribourg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Madeleine Scherrer: Rezension von: SchĂ€fer, Alfred / Thompson, Christiane (Hg.): Arbeit am Begriff der Empirie, Wittenberger GesprĂ€che II. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-UniversitĂ€t Halle-Wittenberg 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978300046036.html