EWR 14 (2015), Nr. 6 (November/Dezember)

Corey Brettschneider
When the State Speaks, What Should It Say?
How Democracies Can Protect Expression and Promote Equality
Princeton: Princeton University Press 2012
(232 S.; ISBN 978-0-691-14762-8; 38,95 EUR)
When the State Speaks, What Should It Say? "Was aber die Barbaren angeht, so brauchen wir sie nicht erst vor den Toren zu erwarten. Sie sind immer schon da" [1].

Dass diese über zwanzig Jahre alten Sätze von Enzensberger leider wenig an Aktualität eingebüßt haben, kann leicht nachvollzogen werden, wenn man sich viele der Blogbeiträge in sozialen Netzwerken oder die Kommentare unter Artikeln einer beliebigen Online-Tageszeitung anschaut. Vertreter kruder Verschwörungstheorien, die, um eine scharfe, aber angemessene Metapher von Sunstein zu nutzen, unter einer "crippled epistemology" [2] leiden (naturgemäß ohne dies selbst zu bemerken), treffen auf Rassisten und andere Menschenfeinde, um ihren Hass und ihre politischen Verirrungen öffentlich kundzutun. Politisch bewegte Bürger, die vor Flüchtlingsunterkünften fremdenfeindliche Parolen skandieren, Schüler, die Schweigeminuten nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo stören und glauben, die Geschehnisse seien Produkt der neuesten Version einer jüdischen Weltverschwörung etc. Die Liste der Fälle, in denen minimalste Forderungen des politischen Anstands ignoriert werden, ließe sich beliebig erweitern.

Wie sollen liberale Demokratien und ihre pädagogischen Institutionen mit dem Phänomen der "hate speech" und mit "hate groups" umgehen, wenn sie zugleich ihre Grundwerte und Grundrechte, insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung, bewahren und die Opfer und Adressaten der öffentlichen Hasstiraden schützen wollen? Wo ist die Grenze zu ziehen zwischen einer legitimen Nutzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und illegitimer Formen von hate speech? Sind bzw. bis zu welcher Grenze sind hasserfüllte und diskriminierende Äußerungen noch ärgerlicher und zu tolerierender Ausdruck des üblichen demokratischen Meinungskampfes, ab wann zerstören sie die Substanz der demokratischen Lebensform und der politischen Kultur, die eine liberale Gesellschaft trägt? Wie sollte ein liberaler Staat darauf reagieren, wenn Kindern in ihren Familien diskriminierende und rassistische Überzeugungen vermittelt werden? Wo liegen die Grenzen demokratischer Toleranz in Bildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten? Welche Institutionen sollen gegen hate speech, wenn überhaupt und warum, wann und wie tätig werden (Staat, Zivilgesellschaft, Unternehmen, Familien etc.)?

Dieses politisch verminte und philosophisch umstrittene Gelände sondiert Corey Brettschneider mit seinem vieldiskutierten Buch "When the State Speaks, What Should It Say?" Brettschneider analysiert das spannungsgeladene Verhältnis zwischen "hate speech" und Redefreiheit, zwischen staatlicher Neutralität und "Prohibitionismus" vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Debatte, in der ja bekanntlich weit weniger Einschränkungen der Redefreiheit als legitim gelten als z.B. in vielen europäischen Staaten. Während Neutralisten jede Form staatlicher, d.h. zwangsbewehrter Einschränkung der Redefreiheit ablehnen und somit auch antidemokratische Meinungen zulassen müssen, gehen Prohibitionisten wie Jeremy Waldron davon aus, dass sich das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht auch auf diskriminierende Formen der öffentlichen Rede erstrecken sollte, die die Grundwerte liberaler Demokratien selbst angreifen. Brettschneider schlägt eine Doppelstrategie vor, um mit dem aus diesem Konflikt hervorgehenden "paradox of rights" umzugehen. Als dritten Weg zwischen einem "Invasive State", der Bürger dazu zwingt demokratische Grundwerte zu übernehmen, und einer "Hateful Society", in der grundlegende Freiheitsrechte zwar geschützt werden, ohne dass jedoch auch eine durch ein demokratisches Ethos getragene Zivilgesellschaft existiert, die deren Realisierung absichert (z.B. in der Familie und am Arbeitsplatz), sollte ein demokratischer Staat zugleich Redefreiheit grundsätzlich sicherstellen (und zwar unabhängig davon, welche Inhalte propagiert werden – außer es handelt sich z.B. um unmittelbare Drohungen oder Aufrufe zur Gewalt – und unabhängig davon, ob diese von einem Civil Rights Aktivisten oder einem Ku-Klux-Klan Mitglied in Anspruch genommen wird) und dennoch aktiv, jedoch ohne Zwangsmittel auf die Überzeugungen der Bürger einwirken, damit diese die Grundwerte liberaler Demokratien übernehmen. Die Gleichzeitigkeit einer "viewpoint neutrality" bezüglich der Sicherstellung von Redefreiheit und einer Nichtneutralität des Staates, der seine „expressive power“ für eine dezidiert pädagogisch ambitionierte „democratic persuasion“ zur Förderung demokratischer Werte nutzt, wird damit begründet, dass die Gründe und Werte, die zur Rechtfertigung grundlegender Freiheitsrechte wie der Meinungsfreiheit in einer liberalen Demokratie herangezogen werden müssen, selbst nicht neutral gegenüber unterschiedlichen Sichtweisen sind und sein können (12). Diese für die Legitimität einer Demokratie zentralen Werte kulminieren im Rahmen von Brettschneiders Konzeption einer "value democracy" in einem politischen Ideal der freien und gleichen Staatsbürgerschaft, das sich nicht nur in rechtlichen Vorgaben, sondern auch in den Überzeugungen und Handlungsweisen der Bürger liberaler Demokratien niederschlagen sollte. Ohne eine solche Passung von rechtlichem Rahmen und zivilgesellschaftlichem Ethos drohen Demokratien ihre normativen Grundlagen und ihre Stabilität einzubüßen. Insbesondere aus einer eher realistischen Perspektive nicht-idealer Theorie dürfte es häufig nicht ausreichen, Bürger nur dazu aufzufordern, ihrer Verpflichtung nachzukommen, Abstand von z.B. rassistischen Überzeugungen zu nehmen, um so von sich aus im Lichte des Ideals der freien und gleichen Staatsbürgerschaft moralische Wandlungsprozesse zu initiieren ("reflective revision"). Daher soll der Staat nach Brettschneider seine expressive Macht so umfänglich nutzen wie möglich und nötig, um Formen von hate speech – d.h. allen Äußerungen, die mit der politischen Konzeption der freien und gleichen Staatsbürgerschaft nicht zu vereinbaren sind – öffentlich zu kritisieren und durch persuasive Mittel zu bekämpfen (dazu gehören u.a.: öffentliche Reden von Politikern und anderen Vertretern des Staates, Besteuerung und finanzielle Förderung von Gruppen und Institutionen, eine entsprechende Ausrichtung von schulischen Curricula, politische Kampagnen, die Einsetzung öffentlicher Feier- und Gedenktage).

Da viele in traditionellen liberalen Ansätzen als privat geltende Überzeugungen und Praktiken, sofern sie das Ideal der "free and equal citizinship" betreffen, auch öffentlich relevant sind ("principle of public relevance"), unterscheidet sich Brettschneiders Ansatz nicht nur darin von etablierten liberalen Konzeptionen einer demokratischen Erziehung (z.B. Gutmann, Callan und Macedo), dass nicht allein Kinder, sondern auch Erwachsene (z.B. Mitglieder von hate groups) als Adressaten des "educative state" und einer entsprechend orientierten Zivilgesellschaft gelten, sondern auch darin, dass diese persuasiven Erziehungsbemühungen im Sinne der "democratic persuasion" auch häufig als "privat" geltende Einstellungen von Bürgern betreffen (dies gilt nach Brettschneider auch für religiös begründete Einstellungen), die nicht mit freier und gleicher Staatsbürgerschaft in Einklang zu bringen sind. Diese Ausweitung des staatlichen Erziehungsanspruchs stützt sich auf eine Kritik der in der Regel durch Raummetaphern konzeptualisierten privat / öffentlich Unterscheidung, die fälschlicher Weise unterstellt, es gäbe einen rein privaten Raum, der nicht durch institutionelle Arrangements vorstrukturiert ist, dessen Ausgestaltung durch unterschiedliche Erziehungspraktiken in der Familie normativ und politisch irrelevant sei und der deshalb von jeder Form der Bewertung und Kritik ausgenommen sein sollte. Auch für Brettschneiders alternative Konzeption einer "publicly justifiable privacy" gilt jedoch, dass mit Ausnahme der Schulpflicht und einer damit verbundenen verpflichtenden staatsbürgerlichen Erziehung ("civic education") zwangsbewehrte Interventionen in der Familie als illegitim zu gelten haben, persuasive Formen der Einflussnahme jedoch als legitim. Dies gilt zumindest dann, wenn deren Begründung nicht auf partikulare Konzeptionen des Guten zurückgreift (z.B. feministische Konzeptionen der Emanzipation) und sie zugleich die Entwicklung demokratischer Orientierungen begünstigen und so die Verbreitung von hate groups und hate speech eindämmen.

Dieser Fokus auf die Förderung eines demokratisch verfassten Selbst, demokratischer Lebensformen und einer durch ein demokratisches Ethos getragenen liberalen Kultur gehört sicherlich zu den aktuellen und pädagogisch interessantesten Aspekten des Buchs. Damit wird jedoch zugleich die – erwartbare – Frage aufgeworfen, ob Brettschneider tatsächlich, wie beansprucht, ohne eine umfassende Konzeption liberaler Tugenden und entsprechender Werte (insbesondere der Autonomie und der Gleichheit) auskommt, und ob all die Formen staatlicher Beeinflussung von in anderen Konzeptionen als privat geltenden Einstellungen tatsächlich noch in einer "freistehenden" antiperfektionistischen Rechtfertigungsarchitektur untergebracht werden können. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, wie umstritten und auslegungsbedürftig die immer wieder als Zentralkategorie angeführte Konzeption der freien und gleichen Staatsbürgerschaft jenseits der clear cases ist. Man muss nicht mit Judith Butler und in ähnlicher Weise auch Wendy Brown [4] davon ausgehen, dass staatliche Verbote von hate speech oder Kampagnen im Sinne von Brettschneiders democratic persuasion für mehr Toleranz gegenüber X möglicherweise letztlich kontraproduktiv sind, weil sie genau die Probleme (hate speech / Intoleranz) diskursiv reproduzieren und begünstigen, die sie vorgeben zu bekämpfen, um zu sehen, dass die Sachlage spätestens dann komplizierter wird, wenn man auch das Verhältnis materiell-ökonomischer Ungleichheit im Kontext gesellschaftlich verankerter, historisch gewachsener Machtkonstellationen zu staatlich postulierter politischer Gleichheit berücksichtigt.

Mit Brettschneider bleibt anzumerken, dass seine Vorstellung von den edukativen Aufgaben des Staates und der Zivilgesellschaft in einer "value democracy" genau das beschreibt, was in den politischen Kulturen vieler liberalen Demokratien gang und gäbe ist (7). So ist vielleicht auch die in Deutschland oft geschmähte Political Correctness Ausdruck dessen, dass so etwas wie democratic persuasion als durch unterschiedliche staatliche und nichtstaatliche Akteure geförderte Regulierung des "marketplace of ideas" (Mill) immer schon praktiziert wird. Alles in allem sollte man, so denke ich, selbst wenn dies in Öffentlichkeit und Wissenschaft manchmal eigenartige und zuweilen etwas desorientierende Formen annimmt, dafür dankbar sein.

[1] Enzensberger, H. M.: Die große Wanderung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, 66.
[2] Sunstein, C. R.: Conspiracy Theories and Other Dangerous Ideas. New York: Simon & Schuster 2014, 12.
[3] Aktuelle Überblicke zu der weitverzweigten und facettenreichen Debatte über "hate speech" bieten: Brown, A.: Hate Speech Law: A philosophical examination. New York / Oxon: Routledge 2015; Meibauer, J. (Hg.): Hassrede / Hate Speech. Gießen: Gießener Elektronische Bibliothek 2013. Online: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2013/9251/pdf/HassredeMeibauer_2013.pdf (Zugriff am 19.09.2015)
[4] Butler, J.: Excitable Speech. A Politics of the Transformative. New York / London: Routledge 1997; Brown, W.: Regulating Aversion. Tolerance in the Age of Identity and Empire. Princeton: Princeton University Press 2006.
Johannes Drerup (Münster / Koblenz-Landau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup: Rezension von: Brettschneider, Corey: When the State Speaks, What Should It Say?, How Democracies Can Protect Expression and Promote Equality. Princeton: Princeton University Press 2012. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978069114762.html