EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)

Fanny Isensee / Andreas Oberdorf / Daniel Töpper (Hrsg.)
Transatlantic Encounters in History of Education
Translations and Trajectories from a German-American Perspective.
Routledge Studies in Cultural History
New York: Routledge 2020
(310 S.; ISBN 978-0-367-27677-5; 135,95 EUR)
Transatlantic Encounters in History of Education Dieser interessante Sammelband bietet mehr, als sein Titel vermuten lässt. Denn es handelt sich hier nicht nur um bildungsgeschichtliche „Begegnungen“, sondern um einen gewinnbringenden Beitrag zur transatlantischen Wissensgeschichte im Bereich Bildung, Erziehung und Pädagogik; eingebettet in einen gut nachvollziehbaren konzeptuellen Rahmen. [1] Gerade die Zirkulation von pädagogischem Wissen, das hier dezidiert auch anhand von Praktiken und Objekten konzeptualisiert wird, kam in vielen Studien zum transatlantischen Ideenaustausch bisher oft zu kurz. [2] Das Buch bietet umfassende methodisch-theoretische Überlegungen sowie vielfältige Perspektiven. Der Zeitrahmen reicht von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert und zeigt damit nicht zuletzt die transepochale Anwendbarkeit des präsentierten Ansatzes. Gerade die transnationale Bildungsgeschichte im Atlantischen Raum, die von unterschiedlichen Phasen der Wechselwirkung geprägt ist, profitiert von dem zeitlich weit gefassten Forschungsrahmen.

Andreas Oberdorf stellt in der Einleitung überzeugend drei verbindende Elemente in der Annäherung an die Thematik dar: Wissenstransfer, institutionelle Vernetzung und die Zirkulation von Objekten (9). Darüber hinaus unterstreicht er die Grundannahme, dass der Prozess der Interaktion selbst als transformatives Moment zu verstehen ist. Eckhardt Fuchs konstatiert in seiner programmatischen Einführung eine graduelle Institutionalisierung des Transfers, verbunden mit einem ständigen Wandel der Motivations- und Interpretationsrahmen auf beiden Seiten des Atlantiks (10/11). Lilli Riettiens unterstreicht den transformativen Charakter von Atlantiküberquerungen und legt damit den Fokus auf die räumliche Dimension von Transferprozessen. Ihr Beitrag ist als einziger weniger bildungsgeschichtlich und mehr konzeptionell ausgerichtet. Anhand von Reisetagebüchern arbeitet sie die performativen Praktiken heraus, durch die der Atlantik als Barriere und Brücke zwischen den Kontinenten sichtbar wird, eine Ambivalenz, die Riettiens auch in der Abschlussdiskussion noch einmal überzeugend betont.

Vier Fallstudien widmen sich dem Transfer religiöser Bildungskonzepte. Christine Marie Koch und Jan-Hendrik Evers nutzen Tagebücher und Berichte von protestantischen Pastoren, Schulmeistern und Lehrern im 17. und 18. Jahrhundert. Ausgehend von Halle arbeiten beide heraus, wie unter den lokalen Gegebenheiten in Amerika das Zusammenspiel der Leitmotive Disziplin, Bildung und Wohlfahrt neu ausgehandelt werden musste, sei es in Georgia oder in Pennsylvania. Eine stärker akteurszentrierte Herangehensweise verfolgt Markus Berger in seinem Artikel über John Christopher Kunze. Auch hier wird deutlich, dass die dem Transfer innewohnende kulturelle Anpassung gerade am Schnittpunkt zwischen Religion und Erziehung neue Handlungsräume schuf. Dies zeigt sich auch im Beitrag Kerstin von der Krones, der sich mit dem jüdischen Milieu im 19. Jahrhundert befasst. Im Nebeneinander von jüdischer und christlicher Schulbildung werden außerdem unterschiedliche Muster von „cultural borrowing“ und „cultural resistence“ erkennbar (144).

Zwei eher ideengeschichtliche Beiträge legen Luana Salvarani und Fanny Isensee vor. Salvaranis Ansatz ist in zweierlei Hinsicht innovativ: Zum einen gelingt es ihr, einen nachvollziehbaren Bogen von lutherischen Traditionen über republikanische Ideale und egalitäre Bestrebungen bis zum Progressivismus der Jahrhundertwende zu schlagen. Zum anderen untersucht sie auch affektive Wahrnehmungen, eine oft unterschätze Dimension im ideengeschichtlichen Transfer. Isensees diskursgeschichtlicher Ansatz vollzieht die Konjunkturwellen von Referenzen auf ausländische Modelle in US-amerikanischen Bildungsdiskursen nach. Ihr Quellenkorpus aus pädagogischen Fachzeitschriften ist für diese Fragestellung ausgesprochen fruchtbar. Diese Publikationen waren zugleich Marker und Aushandlungsort der Professionalisierung des bildungswissenschaftlichen Denkens in den USA (162).

Die Aufsätze von Thomas Adam und Mark Somos beschäftigen sich mit George Ticknor. Einzig die erneute Verfestigung des in Teilen bereits entzauberten Mythos der Göttingen-Harvard Verbindung, die immer auf dieselben Protagonisten reduziert wird, wäre an dieser Stelle kritisch zu hinterfragen. Adam und Somos legen ihr Augenmerk auf die Materialität der Quellen, Reisetagebücher bzw. Vorlesungsnotizen. Beide Notizformen wurden selbst zu Orten des Transfers, da Ticknor sie wiederholt überarbeitete und mit jedem Arbeitsschritt eine neue kulturelle Schicht hinzukam. Noch stärker fokussiert auf die „Arbeit der Objekte“ im Wissenstransfer ist der Beitrag Daniel Töppers über Bildungs-Enzyklopädien. In Anlehnung an die Actor-Network-Theorie spricht er diesen Werken agency zu, weil sie eine systematisierende und standardisierende Funktion in der Generierung von Wissen erfüll(t)en und zugleich als Manifestation des Professionalisierungsprozesses gedeutet werden können.

Die Hochschulwesen gilt als zentral im deutsch-amerikanischen Bildungstransfer. Eine wichtige Überblicksdarstellung für die Zeit zwischen 1890 und 1940 bietet Charles E. McClelland, wenn auch keine völlig neuen Einsichten. Er mahnt an, die Unterschiede von Organisation, Struktur und Selbstverständnis nicht zu unterschätzen und allzu leichtfertig einem „conventional sketch“ (197) von Einfluss zu folgen. Justus Hillebrand geht es um die Technischen und Landwirtschaftlichen Hochschulen, die aus dem etablierten Narrativ zu den Forschungsuniversitäten oft herausfallen. Mit methodischen Anleihen aus der Wissenschaftsgeschichte gelingt es ihm darzulegen, inwiefern nicht nur der räumliche Transfer zwischen Deutschland und den USA immer wieder neu ausgehandelt werden musste, sondern gerade in diesem Kontext auch das Verhältnis von theoretischer und praktischer (Aus-)Bildung.

Mit den drei letzten Aufsätzen des Bandes gelangen wir ins 20. Jahrhundert. Tim Zumhofs Studie über Walter Gropius in Harvard hinterfragt mit Hilfe einer bildungsgeschichtlichen Herangehensweise die in der Bauhausforschung noch immer verbreitete Geschichte einer einfachen Übertragung von Weimar nach Boston. Da Gropius vor allem deshalb nach Harvard kam, weil sein dortiger Kollege Joseph Hudnot bereits einige Jahre zuvor begonnen hatte, die Kunst- und Architekturausbildung zu reformieren, überrascht es kaum, dass es nie um eine direkte Übertragung gehen konnte. Den Verflechtungen von Bildung, Natur und Nationalismus in amerikanischen summer camps geht Kristen Hengtgen nach und legt ebenfalls kulturelle Transfermomente frei. Etwas überraschen mag die grundsätzlich positive Rezeption seitens der USA, was die Zeltlager der Hitlerjugend betraf. Diese Wahrnehmung wäre eventuell weiter zu hinterfragen, vor allem wenn man bedenkt, dass es sich bei der prominent zitierten Stimme W. Wittichs um einen deutschen Einwanderer handelte. Allerdings verdeutlicht Hengtgens Beispiel, wie selektiv Transferprozesse zuweilen sind. Nachdem die Mehrzahl der Beiträge informellere Strömen transatlantischer Wechselwirkungen untersucht hat, setzt sich Sarah Wedde mit dem Fulbright Programm auseinander. Auf der Grundlage von Erfahrungsberichten, die sie als Ego-Dokumente liest, geht Wedde der Frage nach, welche Funktion persönliche Erlebnisse für übergeordnete Strukturen der Vernetzung und Internationalisierung hatten. Da sie sich bei ihrer Untersuchung nicht auf Forschungsreisen, sondern speziell auf den Austausch von Lehrern und Lehrerinnen konzentriert, kann Wedde darüber hinaus besonders anschaulich darlegen, wie eng Kultur- und Wissenstransfer miteinander verwoben sind.

Abschließend wäre darauf hinzuweisen, dass bei der Reflexion über die Rahmungen und Parameter des Untersuchungsfeldes im Ganzen stärker thematisiert werden müsste, inwiefern die strukturellen historischen Voraussetzungen dazu führ(t)en, dass fast alle 15 Fallstudien primär männlich dominierte, weiße Diskurse in den Blick nehmen. Dennoch beleuchten sie auf gewinnbringende Weise unterschiedliche Facetten der Hauptthematik. Diese Fülle an Perspektiven wird in Kombination mit der theoretischen Rahmung besonders greifbar, obgleich sich einzelne Aufsätze auch unabhängig lesen und in der Lehre anwenden lassen. Die erfreuliche Kohärenz wird mit dem abschließenden Roundtable zusätzlich unterstrichen, der selbst ein Beispiel transnationaler Vernetzung ist (Marcelo Caruso, Barbara Emma Hof, Joakim Landahl, Lilli Riettiens, Eugenia Roldán Vera). Gerade dieser Schlusstext bietet auch einen hilfreichen thematischen Überblick über das Forschungsfeld und seine Entwicklung.

Leider fallen auch bei diesem Buch die negativen Folgen von Einsparungen im Verlagswesen auf. Bei einem professionellen, vor allem muttersprachlichen Lektorat wären sicher nicht nur die sprachlichen Unebenheiten aufgefallen, sondern auch die uneinheitliche Nutzung von Zitierstilen. Nichtsdestotrotz habe ich das Buch mit Gewinn gelesen. Mit seinem konsequent transnationalen Ansatz, dem fundiert theoretisch unterfütterten Blick auf den transatlantischen Raum sowie dem Fokus auf Kultur- und Wissenstransfer werden in mehrfacher Hinsicht fruchtbare Denkanstöße geboten, die nicht nur die Bildungsgeschichte bereichern, sondern auch die Forschung zu Kulturtransfer und Wissensgeschichte.

[1] Vgl. auch Elsner, Norbert/Nicolaas A. Rupke: Wissenswelten - Bildungswelten. Göttingen: Wallstein 2009; Ellis, Heather/Simone M. Müller: Educational Networks, Educational Identities: Connecting National and Global Perspectives. In: Journal of Global History 11 (2016), S. 313-319.
[2] Füssl, Karl-Heinz: Deutsch-Amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert: Bildung, Wissenschaft, Politik. Frankfurt a. M: Campus 2004; Möller, Esther/Johannes Wischmeyer: Transnationale Bildungsräume: Wissenstransfers im Schnittfeld von Kultur, Politik und Religion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013.
Charlotte Lerg (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Charlotte Lerg: Rezension von: Töpper, Fanny Isensee, Andreas Oberdorf, Daniel (Hg.): Transatlantic Encounters in History of Education, Translations and Trajectories from a German-American Perspective Routledge Studies in Cultural History . New York: Routledge 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978036727677.html