„Keiner ist der, der er sein wollte, als er es war” [1]. Wenn es um für die Lebensführung zentrale, zukunftsbezogene, selbstkonstitutive und selbsttransformative Entscheidungen geht, lassen sich vertraute Denk- und Argumentationsweisen schnell in Verlegenheit bringen, wenn sie kritisch auf ihre Prämissen überprüft werden. Während im Rahmen mancher tradierter, alltagspsychologischer substantieller Authentizitätskonzeptionen selbstverändernde Entscheidungen, die vom wahren Persönlichkeitskern abweichen, bereits auf konzeptueller Ebene und ex ante als Entfremdungserscheinungen gedeutet werden [2], gilt für einige der wichtigeren Entscheidungen, die wir im Leben fällen, dass wir ex ante nicht absehen können, was sie ex post für uns bedeuten werden, weil wir ex ante nicht wissen, wer wir ex post sein werden (z.B. die Entscheidung für oder gegen eine Elternschaft, in den Krieg zu ziehen, eine bestimmte Karriere oder die Emigration in ein anderes Land). In manchen Fällen muss man zunächst die an die Entscheidung geknüpften Erfahrungen gemacht haben, um die Fähigkeit zu entwickeln, diese Erfahrungen einzuordnen, und um aus einer erstpersönlichen Perspektive wissen und bewerten zu können, wie es für uns sein wird, jemand zu sein, der entsprechende Erfahrungen gemacht haben wird. Da diese Erfahrungen und Erfahrungsprozesse jedoch zugleich die Präferenzen, Bewertungen und Eigenschaften des Akteurs in zentraler Hinsicht transformieren können, stellt sich die Frage, wie sich solche Entscheidungen überhaupt in rational begründbarer und / oder authentischer Weise fällen lassen.
In ihrem in vier Hauptkapitel gegliederten Buch „Transformative Experience” gibt Laurie A. Paul [3] eine systematische Antwort auf diese Frage in Form einer Theorie transformatorischer Erfahrungen und Entscheidungen. Im ersten Teil entwickelt sie u.a. im Anschluss an Arbeiten aus der Philosophie des Geistes, der Kognitionswissenschaften und der Entscheidungstheorie die konzeptuellen Grundlagen und normativen Ausgangspunkte ihres Theorieentwurfs, die in einem zweiten Teil anhand unterschiedlicher Beispielsets in verschiedenen Entscheidungs- und Erfahrungsdomänen erläutert und auf ihre Plausibilität geprüft werden (u.a. die Entscheidung zur Elternschaft und die advokatorische Entscheidung von tauben Eltern, ihren ebenfalls tauben Kindern Hörimplantate implantieren zu lassen). Im dritten Teil schlägt Paul eine mögliche Lösung für die durch transformatorische Entscheidungen aufgeworfenen theoretischen Probleme vor. Abschließend diskutiert sie mit Bezug auf eine Reihe aktueller Debatten (z.B. über informierte Zustimmung) im vierten Teil, der allein auf Grund des Umfangs etwas irreführend „Afterword“ betitelt ist, kritische Rückfragen an die Theorie, die dann zu entsprechenden Präzisierungen und Modifikationen Anlass geben.
Sie geht aus von der Unterscheidung zwischen epistemischen und personalen Transformationen. Eine transformatorische Wahl und Erfahrung vereinigt beide Arten der Transformation, d.h. sie verändert sowohl die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und erfahren, als auch unsere zentralen Werte und Präferenzen. Die damit angezeigte formale Struktur transformatorischer Entscheidungen wird theoretisch spezifiziert über einen relativ weit angelegten Begriff der Erfahrung und eine damit verschränkte Konzeption subjektiver Werte, die zugleich durch unsere kognitive Phänomenologie fundiert sind (oder erschlossen werden) und die wir Erfahrungen und Erfahrungsqualitäten zuschreiben (12-13). D.h. es geht ihr dezidiert nicht um Fragen der Moral oder der Abwägung objektiver Werte, die durch transformatorische Entscheidungen in manchen Fällen auch aufgeworfen werden könnten (z.B. die Frage, ob es legitim ist, in den Krieg zu ziehen oder ein Kind zu bekommen), sondern um die Frage nach der Möglichkeit, wie diese Entscheidungen überhaupt begründet gefällt werden können.
Zu einem theoretischen Problem werden transformatorische Entscheidungen dann, wenn man die Maßstäbe eines (dem eigenen Anspruch nach) realistischen Modells normativer Entscheidungstheorie (32) anlegt, dem zugleich ein etabliertes kulturelles Paradigma der Entscheidungsfindung entspricht (25). Wichtige Lebensentscheidungen genügen den Rationalitätsstandards dieses Modells, wenn der Akteur mit Rekurs auf bereits gemachte Erfahrungen mögliche zukünftige Ergebnisse von Entscheidungen prospektiv kognitiv modelliert und die sich potentiell einstellenden Erfahrungsmodalitäten imaginiert, um sodann die subjektiven Werte der entsprechenden Optionen einzuordnen und gegeneinander abzuwägen. Im Fall der durch transformatorische Entscheidungen auf den Weg gebrachten transformatorischen Erfahrungen scheint dieses Bild des rationalen und authentischen Entscheiders jedoch revidiert werden zu müssen: „But in the case of a decision involving a transformative experience, you cannot know what it is like to have that experience until you´ve had it. In this situation, you cannot determine the subjective value of any outcome that involves what it is like for you to have or have had the experience. If you cannot determine the relevant outcomes, you cannot compare the values. […] And the problem is doubly serious, for not only do you not know the values before you´ve had the relevant experience, but having the experience can change your preferences, and so the values you would (per impossibile) assign these outcomes before having the transformative experience could be radically different from the values you´d assign to the relevant outcomes after having had the experience” (32).
Ausgehend von dieser Problemvorgabe, mit der eine Reihe von komplexen philosophischen Anschlussfragestellungen verbunden sind (z.B. nach unterschiedlichen Konzeptionen des Selbst, der Authentizität, der Autonomie, sowie der diachronen Kontinuität personaler Identität), stellt Paul verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit transformatorischen Entscheidungen vor. Sie verwirft die Möglichkeit, die Rationalität von transformatorischen Entscheidungen dadurch zu gewährleisten, dass die erstpersönliche Perspektive des Entscheidenden vollständig durch eine drittpersönliche Perspektive ersetzt wird, die sich nur auf externe epistemische Ressourcen (z.B. Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Forschung) stützt. Abgesehen davon, dass das entsprechende Wissen in den seltensten Fällen überhaupt existiert, und dass selbst dann, wenn es existieren würde, es nur ungenügend auf die individuelle Situation des Entscheidenden zugeschnitten werden könnte, erfordert das kulturelle Paradigma authentischer und rationaler Lebensentscheidungen, welches durch transformatorische Entscheidungen zum Problem wird, dass wir existentiell relevante Entscheidungen nicht delegieren, sondern selbst aus unserer erstpersönlichen Perspektive fällen. Das so konstruierte Dilemma zwischen Authentizität und Rationalität versucht Paul aufzulösen, indem sie eine Rekonfiguration und Revision des durch transformatorische Entscheidungen aufgeworfenen Problems vorschlägt. Im Falle der Entscheidung für oder gegen eine Elternschaft z.B. sollen wir uns nicht vorstellen, wie das Ergebnis unserer Entscheidung strukturiert sein wird, d.h. wie es für uns sein wird, Eltern zu werden (was wir auf Grund unserer Ignoranz bezüglich des Ergebnisses nach Paul de facto nicht können), sondern wir sollten die Entscheidung so kognitiv rahmen und beschreiben, dass wir uns die Frage stellen, ob wir herausfinden wollen, wie es für uns sein wird, Eltern zu sein. So beschrieben stellt sich also im Rahmen transformatorischer Entscheidungen die Wahl zwischen dem status quo (welche natürlich auch eine Wahl darstellt) und der Wahl des Werts, der in dem erfahrungserschließenden und -ermöglichenden Charakter transformatorischer Entscheidungen begründet ist.
„If we choose to have the transformative experience, we also choose to create and discover new preferences, that is, to experience the way our preferences will evolve, and often, in the process, to create and discover a new self. On the other hand, if we reject revelation, we choose the status quo, affirming our current life and lived experience” (178).
Durch diese Verschiebung der Problemstellung von einer Entscheidung darüber, wie es sein wird, eine subjektive Transformationserfahrung zu machen, zu einer Entscheidung zweiter Ordnung bezüglich des intrinsischen Werts (und der Kosten), die mit der Entdeckung von durch transformatorische Entscheidungen eröffneten Erfahrungen verknüpft sind, stellt sich das Entscheidungsproblem also wie folgt dar: Wollen wir bleiben, wer wir sind, oder wollen wir herausfinden, wer wir sein werden und was wir lernen werden, wenn wir eine transformatorische Entscheidung fällen. Auf diese Weise soll zugleich das Problem radikaler epistemischer Ignoranz bezüglich unseres zukünftigen Selbst ein Stück weit entschärft und eine – wenn auch von den normativen Vorgaben des entscheidungstheoretischen Standardmodells abweichende – rational nachvollziehbare und authentische Wahl ermöglicht werden.
Pauls Theorie transformatorischer Entscheidungen und Erfahrungen liefert – ähnlich wie Kollers transformatorische Bildungstheorie – eine interessante Diskussionsvorgabe, die es ermöglicht, eine Reihe zentraler philosophischer Fragestellungen in analytisch disziplinierter und der Komplexität des theoretischen Gegenstands angemessenen Weise auf den Prüfstand zu stellen. Auffallend ist, dass das von ihr im Rahmen einer Art analytischem Existenzialismus entfaltete Problempanorama, welches insbesondere Bildungstheoretikern in vielen Hinsichten bekannt vorkommen dürfte, fast vollständig ohne Referenzen auf philosophische Repräsentanten der existenzialistischen Theorietradition auskommt. Was ebenfalls so gut wie vollständig fehlt – und was man kaum Grund hat zu vermissen – , ist ein gewisses, in die übliche Metaphernnoblesse gekleidetes postmodernes Pathos, dass unterstellte Defizite umdeutet in häufig zugleich überdramatisierte krypto-normative Unmöglichkeitsformeln. Pauls Buch liefert ein gutes Beispiel dafür, dass man Fragen nach der Authentizität, Autonomie und Rationalität von Entscheidungen und des Selbst in rational nachvollziehbarer und begrifflich klarer Weise diskutieren kann (und schließlich auch seit Jahrzehnten diskutiert), ohne Theoriekitsch zu produzieren und ohne die Komplexität der zu verhandelnden normativen, konzeptuellen und epistemologischen Fragen in ungebührlicher Weise zu reduzieren.
Diskutabel bleibt vor allem, inwieweit die theoretische Beschreibung des Ausgangsproblems der Theorie transformatorischer Entscheidungen tatsächlich angemessen ist. Dies betrifft sowohl die These von der (radikalen) epistemischen Ignoranz bezüglich zukünftiger Erfahrungen als auch die These der radikalen Diskontinuität zwischen unterschiedlichen Selbsten vor und nach transformatorischen Erfahrungen. Es spricht sicherlich für Pauls Vorgehen, dass sie bereit ist, in Auseinandersetzung mit Einwänden Modifikationen an ihrer Theorie vorzunehmen. So relativiert sie z.B. am Ende des Buchs die These radikaler epistemischer Ignoranz, indem sie zugesteht, dass selbst wenn wir nicht in toto wissen können, wie es sein wird, eine transformatorische Erfahrung machen zu werden, wir zumindest partiell über einige evaluative Aspekte unserer zukünftigen Erfahrungssituation vor einer transformatorischen Entscheidung hinreichend informiert sein könnten. Damit stellt sich jedoch auch die Frage, wie revisionsbedürftig die entscheidungstheoretische Ausgangsbeschreibung des Problems ist (von der fraglich ist, ob sie durch mehr oder weniger intelligente Gewohnheiten als Medien der Erfahrung vorstrukturierte Prozesse transformatorischer Entscheidung realistisch und angemessen zu rekonstruieren erlaubt), und wie sich die auch von Paul konzedierte Notwendigkeit, zentrale Unterscheidungen durch Gradierungen zu relativieren, auf die Plausibilität der Theoriearchitektur auswirkt. Darüber hinaus hätte vielleicht auch eine stärker soziologisch informierte, auch sozialhistorisch und ideengeschichtlich kontextualisierte Perspektive auf das primär analytisch-systematisch problematisierte kulturelle Paradigma der Wahl eine sinnvolle Erweiterung des theoretischen Zugangs dargestellt. Weitgehend ausgeblendet werden in ihrem Theorieentwurf so z.B. Schwierigkeiten, die sich einstellen, wenn man Formen der sozialen Präformation von individuellen Entscheidungen durch tradierte – die „Offenheit“ der Zukunft immer schon einschränkende – Erwartungshorizonte und kulturelle Selbstverständigungsschablonen mit in die Analyse einbezieht. Auch das Bild des die Entdeckung von neuen selbstformativen Erfahrungen wertschätzenden Akteurs scheint dann eine gewisse – von Paul nicht hinreichend problematisierte – Passung aufzuweisen zu partikularen milieuspezifischen Selbstverständigungsentwürfen.
Insbesondere aus erziehungs- und bildungstheoretischer Perspektive hätte man zudem gerne mehr erfahren über von Paul nur andiskutierte Probleme, die sich stellen, wenn Entscheidungen über die advokatorische Gestaltung von Gelegenheiten für Erfahrungs- und Transformationsprozesse Dritter gefällt werden müssen (vgl. der interessante Fall tauber Eltern, die für ihre Kinder entscheiden müssen, ob sie Gehörimplantate bekommen sollen oder nicht). Fraglich bleibt in diesem Zusammenhang, ob der vorausgesetzte subjektivistisch-prozedurale Theorierahmen nicht spätestens hier an seine Grenzen stößt, da durch pädagogische Technologien präparierte Erfahrungsgelegenheiten kaum sinnvoll mit Rekurs auf den intrinsischen Wert jeglicher denkbarer erfahrungserschließender Entscheidungen und ihrer Ergebnisse gerechtfertigt werden können. Erfahrungsinduzierten Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen kann schließlich als solchen kaum plausibel nur auf Grund ihres transformatorischen Charakters intrinsischer Wert zugeschrieben werden, da ein durch fragwürdige Entscheidungen und Erfahrungen eröffnetes, evaluativ verzerrtes und epistemisch maladaptiertes Welt- und Selbstverhältnis nicht als wünschenswertes Erziehungs- und Bildungsziel durchgehen dürfte. Zur Debatte steht daher, wie Entscheidungen über erfahrungserschließende pädagogische Technologien ex ante begründet werden können, unabhängig davon, was der Adressat ex ante von ihnen hält, gerade weil durch diese Transformationen die Präferenzen und die Perspektive des Adressaten ex post verändert werden und die zweck-mittel-schematisch kaum eindeutig fixierbaren Werte (instrumentell und / oder intrinsisch) der gemachten Erfahrungen erst später (manchmal erst viel später) von den Betroffenen angemessen eingeschätzt werden können.
Zu guter Letzt kann zumindest mit Bezug auf den erstpersönlichen Fall mit Paul festgehalten werden, dass, wenn es um zentrale Lebensentscheidungen geht, einem in der Regel nicht viel anderes übrig bleibt, als mit der eigenen Inkompetenz in Kontakt zu bleiben (R. Reichenbach) und sich konform zu einer der transformatorischen Leitmetaphoriken („Life is a journey“) auf den Weg zu machen.
[1] Dieses Bonmot findet sich auf der Seite des statt-theater Fassungslos: http://www.dresden-neustadt.de/archiv/themen/fassungslos/inhalt.htm (Zugriff am 26.08.2016).
[2] hierzu: Betzler, M.: Macht uns die Veränderung unserer selbst autonom? In: philosophia naturalis 2009 46 (2), 167-212.
[3] zur Person: http://www.lapaul.org/
EWR 15 (2016), Nr. 5 (September/Oktober)
Transformative Experience
Oxford: Oxford University Press 2014
(208 S.; ISBN 978-0-19-871795-9; 23,70 EUR)
Johannes Drerup (MĂĽnster / Koblenz-Landau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup: Rezension von: Paul, Laurie A.: Transformative Experience. Oxford: Oxford University Press 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978019871795.html
Johannes Drerup: Rezension von: Paul, Laurie A.: Transformative Experience. Oxford: Oxford University Press 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978019871795.html