EWR 4 (2005), Nr. 6 (November/Dezember 2005)

Jan Masschelein / Maarten Simons
Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums
Zürich, Berlin: diaphanes 2005
(128 S.; ISBN 3-935300-61-1; 14,90 EUR)
Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums Schule und Hochschule oder allgemeiner: die Bildungslandschaft ist seit geraumer Zeit mit einer grundlegenden Umbruchsituation konfrontiert. Als ein Name für den Wandlungsprozess steht die Bologna-Erklärung von 1999, die u.a. auf europaweit vergleichbare und modularisierte Studienabschlüsse, auf Qualitätssicherung sowie den Aufbau eines europäischen Bildungsraums abzielt. Während kritische Stimmen weniger die Notwendigkeit von Reformen anzweifeln, aber eine betriebswirtschaftliche Engführung und Verschulung der Lehre befürchten, überwiegen laut den Protagonisten die Gestaltungschancen durch verbindliche Steuerungsinstrumente, Evaluationen und autonome Verantwortlichkeiten. Im Kontext dieser Debatten, die „internationale Wettbewerbsfähigkeit, Mobilität und (…) arbeitsmarktbezogene Qualifizierung“ (10) erstreben, ist auch die vorliegende kleine Schrift der beiden Erziehungswissenschaftler von der Universität Leuven (Belgien) zu lesen. Sie äußern dabei „ein zunehmendes Unbehagen über die Art und Weise, wie wir heute über Bildung und Erziehung denken und sprechen“ (9). Um ihre Bedenken zu formulieren, beziehen die Autoren quer zu gängigen Pro und Kontra Behauptungen Position. Der Text kann am ehesten als erziehungs- oder bildungsphilosophische Studie charakterisiert werden und ist nachvollziehbar und klar aufgebaut. Die thematisch gegliederte Bibliographie am Ende des Buches ist hilfreich für die weiter führende Forschung.

Die Untersuchung knüpft wesentlich an Foucaults Arbeiten zur ‚Gouvernementalität’ an und versucht dessen Denkansatz weiter zu entwickeln. Foucaults Anliegen ist die Analyse des vielgestaltigen Zusammenwirkens von strategischen, methodischen und technischen Verfahrensweisen, welche die Anleitung und Führung der Menschen untereinander gewährleisten. Im Unterschied dazu konzentrieren sich zentrale Abschnitte des vorliegenden Buches auf die Steuerung durch eine Denk- und Sprechweise einer ‚Regierungsform’, die ihre Wirklichkeit und Wirksamkeit primär in der Reproduktion ihres eigenen Diskurses entfaltet. Masschelein und Simons geht es nicht um ein benennbares Subjekt, sondern sie konturieren einen dominanten Horizont von Vorstellungen, der anordnet, wie über Bildung zu sprechen sei. Die Methode der ‚Kartographie’ dient dazu, hierbei wiederkehrende Muster zu inventarisieren. Dieser Diskurs selbst soll es sein, der bestimmte Erwartungen und Anforderungen in (s)einem ‚Regime’ verdichtet und von jedem von uns verlangt, „dass wir unser Denken und Handeln gemäß einer bestimmten Rationalität problematisieren, (…) dass wir uns selbst auf eine ganz bestimmte Art und Weise führen und regieren“ (14). In der Montage verschiedener Elemente entfalten die Autoren die ‚Figur des autonomen, sich selbst führenden, unternehmerischen Individuums’, das als Lernender, Lehrender oder auch anderweitig Interessierter (Elternteil, Staats- oder Kaufmann (…) – als „Stakeholder“ (50) – die Bildungslandschaft nutzt. Eine entscheidende Pointe des Ansatzes ist, dass diese Figur nicht nur durch das Führungsregime hervorgerufen werden soll, sondern auch als Medium zur Realisation desselben vorgestellt werden kann. Im Begriff des Unternehmertums überlagern sich Demarkationen zwischen Innen und Außen, Selbst- und Fremdführung.

Der Text führt dabei Gestalten der ‚Selbstführung’ (Kapitel I) und ‚Fremdführung’ (Kapitel II) aus, akzentuiert diese nochmals (Kapitel ‚Passage’) bevor die Autoren schließlich stärker ihre Kritikpunkte am herrschenden Regime entwickeln (Kapitel ‚Anhang’). Geradezu pedantisch vermeiden sie jegliche ideologiekritischen Anklänge (121), die nach der Legitimation von Prämissen und Prinzipien des Reformdiskurses fragen, nach realen Machtverhältnissen oder dem ‚cui bono?’. Symptomatisch dafür ist ein bisweilen irritierender Gestus, in dem es einerseits weniger um Bildung in ihren konkreten Erscheinungsweisen und Inhalten gehen soll oder um die in der Bildungslandschaft agierenden Personen als reale Gegenüber (19f., 83f.). Andererseits werden die maßgebende Art und Weise bzw. die faktisch wirksamen Ansprüche und Zielsetzungen aufgegriffen, denen gemäß gegenwärtig europaweit über Bildung gesprochen wird.

Lernen wird in diesem Regime als eine selbständig durchzuführende Aktivität definiert, bei der ‚Wissen’ nicht einfach übernommen wird, sondern je nach Nutzenkalkül neu konstruiert und angewendet wird. Die Ausrichtung der notwendigen Lernprozesse bestimmen jeweils die mittels individueller Profilbildung vollständig einsehbaren Bedürfnisse, Defizite sowie die eigene Leistungsfähigkeit. Die permanente Arbeit am eigenen Selbst ist folglich unerlässlich: Die Verantwortung für das lebenslange Lernen liegt beim Einzelnen. Die Verantwortlichkeit des Lehrenden oder der Bildungseinrichtung wird vertraglich als Dienstleistung geregelt (18, 21, 38f.). Bildung versteht sich entsprechend als Investition in die eigenen Fertigkeiten und Kenntnisse, d.h. ins eigene Humankapital, welches fortlaufend zu evaluieren, zu mehren und zu optimieren ist. Die Notwendigkeit kontinuierlich Kosten und erhofften ‚Lern-Ertrag’ abzuwägen, ergibt sich dabei aus einer unvorhersehbaren ‚Markt-Umgebung’, in der die Frage nach Qualität und Kompetenzen andauernd neu gestellt wird. Der ständige Wettlauf eröffnet oder genauer gebietet das flexible, „kreative Durchspielen neuer Kombinationen“ (26), wie den Konkurrenzkampf ums Überleben (37, 50, 80). Im Unterschied zu wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen müssen sich die Individuen selbst um ihr Wohlergehen und Freiheit kümmern. Sie sind dazu verurteilt, sich vor dem Markt als einem „permanenten ökonomischen Tribunal“ (46) zu legitimieren. Das gesamte Leben lässt sich so als risikoreiches Projekt begreifen, als ein Ringen um Entscheidungen, Einsätze und Erträge (28, 45f., 51). Individualität und Emanzipation erscheinen gar nicht mehr anders als in Appellen der Selbstmobilisierung, Selbstverantwortung usw. Solche Begriffe gewinnen dabei erstens normierenden Charakter und zweitens bilden sie Zielvorstellungen, die man nie genug verwirklicht hat. Drittens verweisen sie auf eine ständig aus- und weiterzubildende Kompetenz (84). Die Verinnerlichung dieser Denkmuster wird allerdings nicht mehr eigens im Text als Problem formuliert.

Bei ihrem Rückgriff auf den Kantschen Aufklärungsbegriff überschreiten die Autoren ihre ursprüngliche Absicht der Bestandsaufnahme: „Was wir begreifen müssen, ist die Tatsache, dass es hier um das Heraustreten aus einem Zustand der Unmündigkeit geht, um (...) eine menschliche, humane Geschichte“ (85). An dieser Stelle schlägt die Inventarisierung in Affirmation um, da zumindest in der deutschen Übersetzung kein „ironisierende[r] Ton“ (89) anklingt. Statt Mündigkeit wird ‚Erwachsen-sein’ im Sinne der entfalteten Fähigkeit zur Selbstführung (84) das Ziel. Die kritische Enthaltsamkeit ist in mancher Hinsicht umso erstaunlicher, als das abschließende Kapitel die Frage stellt, wie man sich dem Aufruf, sich als autonomes, unternehmerisches Selbst zu verhalten, entziehen kann. „Unser Unbehagen über den europäischen Bildungsraum hängt mit der dunklen Seite dieses Erwachsenseins zusammen, mit etwas, das wichtig, aber nicht einsatzfähig ist, etwas, das nicht produktiv ist oder werden kann, das eher mit Passivität als mit Aktivität zu tun hat“ (89). Masschelein und Simons formulieren vage und geradezu entschuldigend (90) Einsprüche gegen die gegenwärtig dominante Subjektivitätsformation. Anknüpfend u.a. an Agamben, Nancy oder Lyotard tasten sie nach Begriffen, um sich diesem Ausweichenden oder Ausgegrenzten nähern zu können.

Die Stärke des letzten Abschnittes liegt darin, Verhärtungen und blinde Flecken des Führungsregimes aufzuhellen, welches beständig versucht, „genau zu bestimmen und (…) festzulegen, was wir gemeinsam haben und was wir einander schuldig sind“ (103). Immunisierung fixiert unseren Blick wie das, was wir überhaupt denken und sagen können. Die universalen Ambitionen des Führungsregimes führen allerdings zu einem Ausblenden dieser Grenzen der Geltungsmacht. Als Beispiel hierfür dient den Autoren die „Last des Zusammenlebens“ (90) als eine Dimension menschlichen Daseins, von der abgesehen wird und die nie ganz fassbar ist. Alle offiziellen Leitsätze schreiben zwar eine bestimmt Sozial- und Subjektform vor, aber sie verfehlen dieses grundlegende Moment von Sozialität, wenn sie den Menschen nur als autonomen Nutzenmaximierer entwerfen. Das Verbindliche und das Verbindende des gemeinsamen ‚In-der-Welt-Seins’ soll auf ein Jenseits von Transparenz und Berechenbarkeit verweisen.

Masschelein und Simons entwickeln ihre ‚andere Sprechweise’ weiter an einem Begriff von ‚Welt’, den sie dem öffentlichen Raum gegenüberstellen. Welt wird radikal vom Gegebenen unterschieden: Sie ist kein Netzwerk, hat keine Infrastruktur, keinen Zugang, erfüllt keinen funktionalen Zweck im Führungsregime etc. (96). Dieser Ort soll genau dann entstehen, wenn ‚Unrecht’ ungedeckt von kapitalistischer Zirkulation Ausdruck findet. Denn die Rede von Unrecht antizipiere immer ‚Gleichheit’, mit der sich ein gemeinsam geteilter Raum etablieren soll, „in dem wir (einander) als Gleiche ausgesetzt sind“ (97). Welt erscheint als eine Chiffre mit metaphysischen Anklängen, die gerade in ihrer Nacktheit eine ‚ganz andere’ Gemeinsamkeit oder Abhängigkeit der Menschen anzudeuten sucht (100). Das Schwankende in diesen Formulierungen ist zum einen den vereinnahmenden Tendenzen des herrschenden Diskurses geschuldet, in dem man z.B. Unrecht begrifflich absteckt und damit schon in die Mühlen von Recht und Ordnung leitet. Genau das wollen die Autoren vermeiden. Zum anderen ist allerdings fraglich, ob dem Regime die ungeschützten Formulierungen nicht gerade recht sind, um entweder deren Randständigkeit zu dulden oder beim Versuch, Welt ins Spiel zu bringen, störende Bemühungen zu integrieren. Sicherheit ist nirgends.

Abschließend versuchen die Autoren vorsichtig, Erziehung, Studium etc. anders zu denken. Dazu projizieren sie einen Gegenentwurf zum aktiven ‚Erwachsensein’. Die ‚andere’ Erziehung soll dem Menschen als ‚Kind’ eine Welt jenseits der Grenzen unternehmerischen Denkens eröffnen, in der wir die Last des Zusammenlebens kennen lernen (112), wobei Kindheit hier kein spezifisches Lebensalter meint.

Mühen sich die Autoren zum einen nichts auf die Wohlstandssegnungen des Unternehmertums kommen zu lassen (101), so erscheint ihnen zum anderen die Bologna-Erklärung als Immunisierungsversuch, dem sie aus pädagogischer Perspektive eine Absage erteilen. Denn Unterricht und Bildung lassen sich nicht hinreichend mittels eines Katalogs von Kenntnissen, einer isolierenden Vorstellung von Autonomie, eingebunden in einen rigorosen wirtschaftlichen Bezugsrahmen fassen: „Der europäische Bildungsraum holt die (Hoch)schule oder Universität aus dem geschlossenen Raum eines Landes oder einer Nation heraus, stellt sie jedoch in ein (ökonomisches) Regime globaler Immunität“ (114, 118). Gegen die (noch) nicht verwirklichten universitären Exzellenzvorstellungen setzen die Autoren die nicht minder entrückt anmutende Vorstellung einer „mondiale[n] Universität. Eine Weltuniversität vereinigt die Bewohner der Welt oder die Heimatlosen im Niemandsland und richtet sich darum auch an alle, das heißt an niemanden im Speziellen. (…) Die Welt ist hier der Ort, der niemandem gehört, ein Niemandsland oder ein Land ohne Eingangstor und Torwächter; der Ort, an dem wir einander und dem Lehrstoff ausgesetzt sind“ (119f.). Noch solch ein radikal von der dominanten Redeweise abgesetzter Entwurf speist sich allerdings aus den Widersprüchen der Situation oder des Diskurses, die bzw. den man überwinden will. Keine der beiden in ‚Globale Immunität’ entfalteten Seiten besteht unversehrt für sich – nicht einmal im Reden darüber.
Ralf Mayer (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ralf Mayer: Rezension von: Masschelein, Jan / Simons, Maarten: Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums. Zürich, Berlin: diaphanes 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/93530061.html