EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)

Andrea Liesner / Olaf Sanders (Hrsg.)
Bildung der Universität
Beiträge zum Reformdiskurs
Bielefeld: transcript Verlag 2005
(162 S.; ISBN 3-89942-316-X; 18,80 EUR)
Bildung der Universität Hochschulreformen werden in Deutschland zur Zeit vor allem von Wirtschaftsverband-Funktionären, von Parteipolitikern sowie von Vertretern einer Branche herauf beschworen, die man mit einer gewissen Großzügigkeit der „Wissenschaftspublizistik“ zuordnen kann. Die Stimmen derjenigen, die selbst in den akademischen Institutionen tätig sind, werden hingegen erstaunlich selten im Reformdiskurs artikuliert. Insgesamt fehlen in diesem Diskurs differenzierte Überlegungen darüber, worin der Sinn und der spezifische Charakter universitärer Bildung eigentlich bestehen. Dies sind Überlegungen, die einen entscheidenden Unterschied im Reformdiskurs ausmachen können, welcher sich bisher ausschließlich auf Kosten-Nutzen-Rechnungen, Verwaltungsoptimierungsstrategien und einseitige Adoptionsversuche von oft bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Übersee-Vorbildern von „Elite-Universitäten“ fokussiert.

Diesbezüglich stellt der hier zu rezensierende Sammelband, der auf eine Ringvorlesung am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg zurückgeht, eine erfreuliche Ausnahme dar. Die meisten Autoren dieses Bandes sind nicht nur universitäre Erziehungswissenschaftler, sondern weisen als solche auch eine klare bildungstheoretische Profilierung auf. Auf dieser Grundlage ist ein roter Faden des gesamten Bandes entstanden, der von den Herausgebern schon in der Einleitung in der Formel zusammengefasst wird, wenn es der Universität um „Wissen und Bildung“ gehe, stehe genau dieses „und Bildung“ im Mittelpunkt der Beiträge (13f.).

Das Unterfangen, auf der Grundlage von bildungstheoretischen Reflexionen argumentativ fundierte und kritische Perspektiven auf den aktuellen hochschulpolitischen Diskurs zu artikulieren, ist über weite Strecken sehr gut gelungen. Der Band arbeitet die spezifische Logik der Hervorbringung von (universitären) Bildungsprozessen heraus, die nicht auf Imperative der ökonomischen Rationalität oder auf Fantasien machtpolitischer Planbarkeit zurückführbar ist. Dabei ist die Eigenart der Logik universitärer Bildung unter den gegenwärtigen posttraditionellen oder „post-modernen“ Bedingungen keine Selbstverständlichkeit mehr, und die Verteidigung dieser Eigenartigkeit setzt die Erarbeitung neuer konzeptueller Strategien voraus. Schon im ersten Beitrag des Bandes legt Michael Wimmer dar, dass das Prinzip der autonomen Wahrheitssuche als Selbstzweck, das als Leitidee der neuhumanistischen Universität Humboldtscher Provenienz fungierte, unter den erwähnten Bedingungen problematisch geworden ist. Wimmer führt diesen Zustand auf das „Zerbrechen des klassischen Wahrheitsbegriffs“ zurück (36). Die besondere Identität universitärer Bildung könne sich daher nicht aus der Norm der zweckfreien Wahrheitssuche im Sinne der Annährung an eine objektive Welt speisen, die sich in einer postulierte Einheit des Wissens widerspiegeln würde. Stattdessen seien die (alltagsweltlich-fragmentierten) Akte der Hervorbringung von Wissen zugleich als Konstruktionen von Welt aufzufassen. Demnach lasse sich das Besondere der (universitären) Bildung heute kaum als Wahrheitsannäherung, sondern eher als „reflektierende Verantwortlichkeit für die Weltkonstitution“ (36) beschreiben, die ein forschendes, vorurteil-dekonstruierendes Verhältnis zur Welt und zu seinen Konstitutionsakten voraussetzt (37).

Nun kann man gegen Wimmer polemisieren, dass seine Entgegensetzung zwischen dem Prinzip der Wahrheitssuche und demjenigen eines forschend-konstruktiven Weltverhältnisses eher irreführend ist, und dass sie auf einem Kurzschluss des Wahrheitsbegriffs mit dem Abbildungsprinzip herrührt. Im Rahmen etwa der Analytischen Philosophie oder des Pragmatismus werden spätestens seit den 1950er Jahren überzeugende Alternativkonzepte von Wahrheit entwickelt, wonach diese nicht als Widerspiegelung einer vorgegebenen Wirklichkeit aufgefasst wird, sondern als kommunikative Festlegung von Signifikanzen, die eine kontextübergreifende Gültigkeit beanspruchen können, indem sie Vorurteile und partikular verwurzelte Selbstverständlichkeiten transzendieren.

Diese Interpretationslinie des Wahrheitsbegriffs ist durchaus kongruent mit dem Prinzip des praktisch-forschenden Verhältnisses zur Welt, das Wimmer als zentrale Eigenschaft gegenwärtiger universitärer Bildung zum Ausdruck bringt. Deshalb ist es keineswegs ein Ausdruck von alteuropäischer Rückständigkeit, wenn Andrea Liesner die Norm der Wahrheitssuche wieder als Kontrapunkt zu den „neoliberalen“ Strategien einer ökonomistischen Kolonialisierung universitärer Lebenswelten einführt (62). Nach Liesner ist die – etwa durch die Hamburger Dohnanyi-Reformkommission vollzogene – Reduzierung universitärer Lehre zu einer unspezifischen „Dienstleistung“ als eine Folge der Suspendierung der Frage nach der Sache, nach Inhalten und Wahrheit zu begreifen (51). Die Autorin befürchtet, dass diese Suspendierung durch die universitären Subjekte selbst im Zuge eines reflexiven Regierungsmodus internalisiert wird, so wie er im Rahmen des Gouvernementalitätskonzepts Foucaults umrissen wird. Das Ergebnis wäre, dass sich eine kalkulierende Denkungsart bei diesen Akteuren alternativlos durchsetzt (51ff.).

Die Differenz zwischen der forschend-wahrheitssuchenden Logik universitärer Bildung und der zweckrationalen Logik ökonomischer Verwertbarkeit wird auch im Beitrag von Helmut Butzmann als schützenswert verteidigt. Dies ist umso bemerkenswerter, als er der einzige Autor des Sammelbandes ist, der nicht als Universitätsangehöriger, sondern als mittelständischer Unternehmer zu Wort kommt. Butzmann plädiert dafür, Universität und Wirtschaft nicht etwa durch semantische „Verpackungen“ gleich zu machen, sondern eine gewollte und akzeptierte Unterschiedlichkeit zwischen diesen zwei Bereichen als ihre gemeinsame Chance wahrzunehmen (73); eine Unterschiedlichkeit, bei der die Universität durchaus als Raum für Elfenbeintürme fungieren soll, „...aus denen das Gewusel der Privat- und Arbeitswelt beliefert wird mit Gestaltungsentwürfen, Lösungsansätzen und Denkanstößen“ (76).

Die Universität als Ort eines differenzierenden und pluralisierten Diskurses wird von Hans-Christoph Koller systematisch konzeptualisiert. Dies gelingt ihm auf der Grundlage seines eigenen originellen bildungstheoretischen Ansatzes, wonach „...Bildung als jener Prozess der Entstehung neuer Sätze und Diskursarten zu begreifen (ist), der zur Anerkennung und zum Offenhalten des Widerstreits erforderlich ist“ (87). Universitäre Bildung ist demnach nur dann möglich, wenn die Universität als Institution so beschaffen ist, dass genügend Freiräume für die Artikulation verschiedener Diskursarten, verschiedener Logiken der Weltinterpretation und für die Entwicklung eines Widerstreits zwischen ihnen gewährleistet werden (98). Auf der anderen Seite ist die Bildung der Universität nach Koller als ein emergenter Prozess der Entstehung von Neuem zu begreifen, der sich zumindest nicht vollständig planen und organisieren lässt (88). Die Ignorierung dieser Erkenntnis, die von der besagten Dohnanyi-Kommission vollzogen zu sein scheint, führt demnach unumgänglich zur einseitigen Dominanz einer zweckrationalen, letztlich betriebswirtschaftlichen Perspektive auf die Universität, welche universitäre Bildung als Entstehung von neuen und widerstreitenden Diskursarten kaum mehr zulassen würde.

Der Beitrag von Rainer Kokemohr bietet eine sehr elaborierte und argumentativ exzellent begründete Kritik genau an diesem Ideologem der standardisierenden Planbarkeit und Operationalisierbarkeit von universitärer Bildung. Ihm ist gelungen, ein originelles, mit einem hohen Erklärungspotential ausgestattetes und speziell auf universitäre Lehr-Lern-Prozesse zugeschnittenes Bildungskonzept in wichtigen Details darzulegen, und es auf konkrete politisch-didaktische Vorgaben in diesem Feld kritisch zu beziehen. Dadurch stellt dieser Beitrag m.E. den Höhepunkt des gesamten Bandes dar.

Kokemohr setzt sich zunächst mit dem Prinzip der Modularisierung des Studiums auseinander, so wie es heutzutage als Mittel seiner Effektivierung und Internationalisierung propagiert wird. Dabei zeigt er auf, dass Modularisierung in einer Top-Down-Bewegung gedacht wird, die einer Deduktionslogik folgt. Diese impliziert, dass Wissensaussagen als definiert durch die Fachwissenschaften vor der Lehr-Lern-Interaktion und als unabhängig von ihren Lesarten und Interpretationskontexten betrachtet werden (107f.). Damit sträubt sich aber die so verstandene Modularisierung gegen den Hauptmechanismus der individuellen Konstitution von Wissen, die nach Kokemohr im Rahmen einer triadischen Interaktion geschieht. Die letztere besagt, dass Wissensaussagen nicht einfach passiv angenommen, sondern dadurch von den Lernenden „angesonnen“ werden, dass sie diesen Aussagen zugleich auf den angebotenen Deutungskontext und auf alternative Deutungskontexte beziehen, über welche Lernende etwa in der Erinnerung an andere Gesprächspartner verfügen (109). Mit anderen Worten: Wissensgehalte können sich nur dann konstituieren, wenn sie zugleich in biographischen Erfahrungen verankert werden, die im Rahmen vorausgegangener Interaktionen mit signifikanten Anderen hervorgebracht wurden. Somit ist Wissenskonstitution als ein Vorgang des Aufeinander-Beziehens von differenten Interpretationskontexten des thematisierten Sachverhaltes aufzufassen. Die Top-Down-Modularisierung verdrängt aber die Differenz dieser Interpretationskontexte und widerspricht somit nicht nur der Idee der Universität als einem Orte forschenden Studierens, sondern auch den Bildungsanstrengungen, die von modernen Gesellschaften, ihren Brüchen und Umbrüchen gefordert werden (114).

Die beiden letzten Beiträge von Torsten Meyer und von Karl-Josef Pazzini befassen sich mit der sinnlich-ästhetischen Dimension universitärer Bildung, genauer: mit der Praxis des Wahr-Nehmens als ihrer Struktur bildenden Komponente. Was wird jedoch an der Universität genau wahrgenommen? Für Meyer, der an dieser Stelle Derrida folgt, handelt es sich hierbei um ein Geheimnis (132), also um „etwas“, was sich gerade nicht positiv identifizieren lässt. Und mit Pazzini lässt sich dieses „etwas“ eben als die Wahrheit bezeichnen, der die Universität verpflichtet ist, und die verborgen, unsichtbar und an keinem empirischen Ort lokalisierbar ist (143f.). Die Wahrheitssuche setze die Produktion von Bildern voraus (also „Bildung“ in einem fast wortwörtlichen Sinne), die uns an die Grenzen des Sichtbaren führen (155). Die Überschreitung dieser Grenze zeigt sich nach den so skizzierten Überlegungen als die Handlung einer wahn-haften Suche nach Wahrheit. Damit erklärt sich die Überschrift des Beitrags Pazzinis: „Die Universität als Schutz für den Wahn“ (137).

Der Sammelband arbeitet überzeugende, bildungstheoretisch aufgeklärte Alternativen zu den heutigen dominanten betriebswirtschaftlichen und verwaltungsplanerischen Sichtweisen und Positionen im Hochschul-Reformdiskurs heraus. Leider berücksichtigen die Autoren die internationale hochschulpolitische Diskussion kaum und lassen damit die Chance ungenutzt, diesbezüglich eine ideologiekritische (oder auch eine „dekonstruierende“) Perspektive einzunehmen, so dass etwa Vorbilder aus der US-amerikanischen Universitätslandschaft in diesem Diskurs völlig einseitig und verzerrend als nicht problematisierbare verwaltungsoptimierte Ausbildungsfabriken erscheinen. Aber auch mit diesem Defizit stellt der Band eine kaum zu überschätzende Hilfe für Wissenschaftler/innen und Studenten/innen dar, die nach Möglichkeiten suchen, ihr Unbehagen an dem aktuellen Trend einer betriebswirtschaftlichen und verwaltungs-planerischen Kolonialisierung der Universität in einer dezidiert argumentativen und tiefgreifenden Gegen-Position zu artikulieren.


Krassimir Stojanov (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Krassimir Stojanov: Rezension von: Liesner, Andrea / Sanders, Olaf (Hg.): Bildung der Universität, Beiträge zum Reformdiskurs, Bielefeld: transcript Verlag 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89942316.html