EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)

Sozialistische Erziehungs- und Kindheitskonzepte im 20. Jahrhundert - eine Doppelbesprechung

Roland Gröschel (Hrsg.)
Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung
Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte der sozialdemokratischen "Kinderfreunde" in der Weimarer Republik
(Hrsg. fĂĽr den Landesverband Nordrhein-Westfalen der SJD - Die Falken. Eine Festschrift fĂĽr Heinrich Eppe)
Essen: Klartext 2006
(358 S.; ISBN 3-89861-650-9; 19,90 EUR)
Sabine Andresen
Sozialistische Kindheitskonzepte
Politische EinflĂĽsse auf die Erziehung
MĂĽnchen u.a.: Reinhardt 2006
(249 S.; ISBN 978-3-497-01866-6; 29,90 EUR)
Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung Sozialistische Kindheitskonzepte Beide Bücher wenden sich sozialistischen Erziehungsauffassungen im 20. Jahrhundert und somit einem Gegenstand zu, der in der historischen Erziehungswissenschaft eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte erfahren hat und nach wie vor, ungeachtet einiger konjunktureller Phasen (in den 1970er Jahren der BRD und durchgängig, wenngleich auch hier partiell und selektiv, in der DDR) ein Forschungsdesiderat darstellt. Insofern ist erfreulich, dass nunmehr verstärkt Publikationen zu dieser Thematik auf den Markt gelangen. Denn sozialistische Ideen und Konzepte beanspruchten immerhin spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert öffentliche Präsenz, stellten traditionelle pädagogische Denk- und Handlungsmuster in Frage, etablierten sich in eigenständigen Theorie- und Praxisfeldern und beeinflussten das pädagogische Denken im 20. Jahrhundert auf vielgestaltige Weise. Grund genug für ein Forschungsinteresse, dem in den beiden hier zu besprechenden Publikationen jedoch auf recht unterschiedliche Art nachgegangen wird. Sie unterscheiden sich sowohl im theoretisch-methodischen Ansatz als auch im Umgang mit den Quellen und repräsentieren ganz offensichtlich auch intentional verschiedene geschichtstheoretische und geschichtspolitische Paradigmen.

Anders als aus dem Charakter einer verbandsnahen Festschrift geschlossen werden könnte, handelt es sich bei dem von Roland Gröschel für den Landesverband Nordrhein-Westfalen der SJD – Die Falken herausgegebenen Sammelband über die Vor- und Frühgeschichte der sozialdemokratischen Kinderfreunde in der Weimarer Republik weder um eine nostalgisch intendierte Erinnerungsschrift noch um eine vordergründige Erfolgsgeschichte. In der Summe seiner Beiträge bietet der Band vielmehr einen informativen und differenzierten Überblick über Entstehung, Entwicklung, Verbreitung und Rezeption der Kinderfreundebewegung, wie er bislang in dieser Breite und Gründlichkeit noch nicht vorlag. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil hinter der Publikation, so der Herausgeber, kein gefördertes Forschungsprojekt stand. Jedoch konnten sich die Autorinnen und Autoren auf die engagierte Sammel- und Forschungsarbeit des 1982 gegründeten Archivs der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick und ihres langjährigen Leiters Heinrich Eppe und somit auf einen beachtlichen Quellenfundus stützen.

Der Band gliedert sich in drei inhaltliche Teile, von denen der erste, durchweg von Roland Gröschel bestrittene Teil neben einer allgemeinen historischen Verortung der Kinderfreundebewegung im Kontext von Arbeiterbewegung und Reformpädagogik sowie einer materialreichen, unterschiedliche pädagogische Ansätze (bes. Otto Felix Kanitz und Kurt Löwenstein) aufnehmenden Darstellung der Gründung der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde einen ausführlichen Literaturbericht enthält. Darin wird deutlich gemacht, dass diese „größte laienpädagogische Organisation der Weimarer Zeit“ in der Historischen Pädagogik über tradierte Erwähnungen in der pädagogischen Standardliteratur hinaus – meist „im Rahmen der Diskurse um Reformpädagogik, Jugendbewegung, Sozialpädagogik und politische Erziehung“ – kaum weiterführend bearbeitet wurde. „Publizistische Resonanz“ habe sie „am ehesten noch bei ihren zeitgenössischen Gegnern“ erfahren. Nach 1945 sei in der DDR wie in der BRD das Forschungsinteresse stets stärker auf die politischen Jugendorganisationen als auf die Kinderbewegung gerichtet gewesen (23f.).

Der zweite Teil gilt dem Initiator und Vorsitzenden der Kinderfreundebewegung in Deutschland, Kurt Löwenstein. Andreas Paetz, der mit seiner Dissertation 1989 die nach wie vor ausführlichste Biographie Löwensteins vorgelegt hat, beschreibt dessen pädagogischen und politischen Lebensweg hier im Kontext der spannungsreichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik. Dabei werden einmal mehr die politischen Dimensionen bewusst, denen pädagogisches Denken und Handeln in jener Zeit ausgesetzt waren. Das ist auch an zwei bisher unveröffentlichten Texten aus den Diktat- und Entwurfsheften Löwensteins aus den Jahren 1919/20 zu sehen, die an dieser Stelle in den Band aufgenommen wurden und in scharfer polemischer Sprache die Trennung von Schule und Religion bzw. das Wesen einer positiven sozialistischen Pädagogik thematisieren.

Dem Prinzip der Selbstverwaltung als Wechselprozess von Erleben und Handeln, Eigeninitiative und Selbstbestimmung, gleichsam Kern des pädagogischen Konzepts der Kinderfreunde, gilt eine systematische Analyse Bodo Brüchers. Er sah mit der Selbstverwaltung einen neuen pädagogischen Stil entstehen, der nicht einmal ein Jahrzehnt Zeit hatte, seine demokratischen Potentiale zu entfalten und dennoch bei den Beteiligten nachhaltige Wirkungen hinterließ.

Diese These wird durch Regionalstudien zur frühen deutschen Kinderfreundebewegung (Berlin, Potsdam und Nowawes, Essen, Braunschweig, Leipzig, Dresden und Ostsachsen, Stenz bei Dresden, Nürnberg und München), die den dritten und Hauptteil der Arbeit ausmachen, belegt. Die durchweg lesenswerten Berichte beschreiben die Vorgeschichte und Entstehung der Kinderfreunde historisch-konkret als keineswegs konflikt- und widerspruchsfreie Bewegung von unten mit unterschiedlichen pädagogischen Ansätzen und Praxiskonzepten. Vielfalt, Offenheit und Entwicklungsfähigkeit der Kinderfreundepädagogik werden hier ebenso sichtbar wie ihre soziale Bedeutung, ihre Verwobenheit mit anderen zeitgenössischen (lebensreformerischen, jugendbewegten und reformpädagogischen) Strömungen oder auch ihre Integrationsfähigkeit, die besonders in der engen Mitwirkung von Arbeitereltern Ausdruck fand. Am Beispiel Nowawes kann darüber hinaus gesehen werden, dass im Engagement für Kinder das Zusammengehen unterschiedlicher, ansonsten im linken politischen Spektrum eher konkurrierender Parteien und Gruppierungen durchaus möglich war.

Ein knapper Ausblick des Herausgebers auf das „Erbe“ der Kinderfreundepädagogik nach 1945 beschließt den Band, der außerdem eine Auswahlbibliographie von Schriften Heinrich Eppes enthält und durch zahlreiche Fotos und Dokumente recht anschaulich gestaltet ist.

Im Unterschied zu dieser, vorwiegend quellengestützt historisch argumentierenden und auf die Kinderfreundebewegung fokussierten Darstellung wählt Sabine Andresen in der aus ihrer Habilitationsschrift entstandenen Publikation einen anderen Zugang. Auch bei ihr spielen die Kinderfreunde eine Rolle, allerdings als Vergleichsobjekt einer inhaltlich weiter gespannten Untersuchung, die speziell nach politischen Einflüssen auf die Erziehung der Kinder fragt und hierzu verschiedene Kindheitskonzepte auswählt: sozialdemokratische aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und hier dann besonders die österreichische und deutsche Kinderfreundebewegung; kommunistische aus den zwanziger Jahren, dargestellt an den Konzepten der kommunistischen Kindergruppen sowie an den Auffassungen Alfred Kurellas, Edwin Hoernles und Otto Rühles; schließlich Kindheitsauffassungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der SBZ bzw. DDR, die zum einen an der Kindergruppenarbeit der FDJ in den vierziger Jahren und zum anderen an der „Pionierkindheit“ in den fünfziger Jahren diskutiert werden. Ein Sachregister erleichtert die Recherche zentraler Begriffe.

Ihr etwas diffus beschriebenes forschungsmethodisches Vorgehen leitet die Autorin vor allem aus modernisierungstheoretischen Konzepten der neueren Kindheitsforschung her und stützt sich dabei speziell auf die Moratoriumstheorie, die sie gleichsam rückschauend an die alternativ zu bürgerlichen Kindheitsauffassungen entstandenen sozialistischen Kindheitskonzepte anlegt. Anders als im „bürgerlichen“ Moratorium, in dem „Politik, Arbeit und Verantwortung“ (Klappentext) keinen Platz haben sollten, sieht sie das „sozialistische“ Moratorium gerade durch die Verbindung von Erziehung und Politik charakterisiert und eine Politisierung von Kindheit bereits in frühen Konzepten angelegt. Die Anfänge sozialistischer Kindergruppenarbeit würden „zwar in der Fürsorge für vernachlässigte und verwahrloste Arbeiterkinder“ wurzeln, hätten aber „das Ziel“ gehabt, „diese Kinder später für das politische Engagement in der Partei zu gewinnen“ (9).

In diesen Untersuchungsrahmen werden die erörterten, in ihren Intentionen, Begründungsmustern und pädagogischen Handlungskonzepten doch sehr unterschiedlichen Auffassungen von Kindheit und politischer Erziehung, die zudem in verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Konstellationen entstanden sind, mehr oder weniger passend eingefügt. Dabei erlaubt die Perspektive auf einen vergleichsweise langen historischen Zeitraum einerseits durchaus aufschlussreiche Rückschlüsse auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten der politischen Konstruktion von Kindheiten. Sie birgt andererseits jedoch auch die Gefahr von Pauschalisierung und historischer Unschärfe. In der vorliegenden Untersuchung scheinen davon vor allem die jeweiligen historischen Begründungszusammenhänge für die Forderung nach politischer Erziehung betroffen. Sie waren z.B. in der frühen Kinderfreundebewegung entschieden andere als in der Pionierorganisation der DDR. Wenn dann als übergreifende Gemeinsamkeit aller dieser Konzepte die Schwierigkeit resümiert wird, „Politik als Bestandteil von Kindheit zu begründen“, „Kinder auf die Auseinandersetzung mit politischen Themen zu verpflichten“ und „in Kindern das Bedürfnis nach Politik zu wecken“ (218), so mag dies partiell zutreffen, wird aber allein schon durch die Befunde zur Kinderfreundebewegung widerlegt.

Differenzierung wäre auch hinsichtlich anderer Aussagen geboten, beispielsweise wenn von einer generellen Ablehnung der Familie durch die Kommunisten gesprochen (51) oder die Entwicklung eines sozialistischen Moratoriums in der DDR „als Merkmal einer […] Verbürgerlichung von Lebenszusammenhängen“ gedeutet wird, weil „Kindheit als Moratorium […] aus dem bürgerlichen Ideenspektrum“ resultiere (219). Es ist schade, dass mitunter durch solch verkürzte Wertungen interessante Aspekte, z.B. die Herausarbeitung alternativer, innovativer und emanzipatorischer Ansätze sozialistischer Kindheitskonzepte, überlagert werden.

Die Stärke der Untersuchung liegt m. E. in ihrem theoretischen Anspruch. Ihn anhand des geschichtlichen Materials konsequent durchzusetzen, ist gewiss eine schwierige Aufgabe auch deshalb, weil sozialistische (wie auch andere) Kindheitskonzepte ebenso wie Politikkonzepte in allen hier untersuchten historischen Phasen, Situationen und Richtungen nicht als einheitlich verstehbare homogene Konstrukte und schon gar nicht als einheitliche Praxis in Erscheinung traten, sondern sich im Spannungsverhältnis unterschiedlicher Motive, Ansichten und Interessen herausbildeten und entwickelten. Hier hätte womöglich eine stärker quellenorientierte, historisch kontextualisierende Interpretation des herangezogenen Materials differenziertere Analysebefunde erlaubt. Inwieweit Kindheitskonzepte losgelöst von den sozialen und politischen Tatsachen und Zusammenhängen, die sie hervorgebracht haben, überhaupt sinnvoll zu betrachten sind, bleibt freilich eine zu diskutierende Frage. Deswegen ist den Schlussbetrachtungen der Autorin unbedingt zuzustimmen, in denen die „historische Einbettung“ und die „Prozesshaftigkeit von Konzept und Aneignung“ ebenso hervorgehoben werden wie „Kinder als Akteure“ und „politische Subjekte“, „die politische Mitbestimmungsmöglichkeiten benötigen“ (220ff.). Hier treffen sich die Aussagen dann doch noch mit Intentionen des Bandes über die Kinderfreundebewegung, in dem gerade diese Aspekte herauszuarbeiten versucht wurden.

Letztendlich bestätigen beide Bücher die Relevanz ihrer Themenwahl, auch wenn ihr Erkenntnisertrag auf unterschiedlichen Ebenen zu finden ist. Der Sammelband über die Kinderfreunde bietet zahlreiche neue Facetten der Realgeschichte dieser Bewegung vor allem auf regionaler Ebene. Er inspiriert weitere historische Forschungen, für die das Arbeiterjugendarchiv offensichtlich noch umfangreiches Material bereithält. Gröschel rekurriert darüber hinaus auf Praxisrelevanz und Aktualität der Beschäftigung mit der Kinderfreundepädagogik und sieht „Ansprüche von Kinderdemokratie und Partizipation auch heute noch beerbbar“ (23). In der Monographie Andresens ist Neues weniger über die untersuchten Kindheitskonzepte selbst zu erfahren als vielmehr über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten ihrer Rekonstruktion und Interpretation im Rahmen der Moratoriumstheorie. Die „Frage nach der Ausgestaltung des Verhältnisses von Kindheit und Politik“ bleibt nach Auffassung der Autorin „bestehen“ (222).
Christa Uhlig (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christa Uhlig: Rezension von: Gröschel, Roland (Hg.): Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung, Beiträge zur Vor- und FrĂĽhgeschichte der sozialdemokratischen "Kinderfreunde" in der Weimarer Republik (Hrsg. fĂĽr den Landesverband Nordrhein-Westfalen der SJD - Die Falken. Eine Festschrift fĂĽr Heinrich Eppe). Essen: Klartext 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/89861650.html