Die hier vorzustellende Monografie versucht ein bemerkenswertes Desiderat der erziehungs- und bildungstheoretisch angeleiteten Grundlagenforschung zu beheben: Die trotz einiger Rezeptionsversuche in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nie so recht in Gang gekommene Beschäftigung mit Antonio Gramscis „Philosophie der Praxis“ auf eine neue Grundlage zu stellen – und dies spezifisch als einen systematischen Beitrag für eine Theorie der Bildung zu konzipieren.
Vorbereitend informiert der Autor, der schon früher durch eine Reihe von Arbeiten zu Gramsci hervorgetreten ist, den Leser über die brüchige Rezeption der Praxisphilosophie in der deutschsprachigen Pädagogik, aber auch über die Karriere Gramscischer Konzepte im politischen, philosophischen und pädagogischen Diskurs Italiens. Abrisse zum „stürmischen Lebenslauf“ des kommunistischen Intellektuellen und zu seiner „Politischen Pädagogik“ bieten dem interessierten Laien einen guten Einstieg und Überblick zur anstehenden (re-)konstruktiven Aufgabe. Bernhard hebt mit Nachdruck hervor, dass für das Verständnis der Erziehungs- und Bildungstheorie Gramscis von grundlegender Bedeutung schon die Schriften vor seiner Inhaftierung seien; ihnen widmet er sich denn auch eingehend (61-89). Nach dem detaillierten Vortrag des erziehungs- und bildungstheoretischen Bezugsrahmens (89-153) setzt sich Bernhard mit Gramscis Positionen zu zeitgenössischen Schulreformen und der italienischen Reformpädagogik auseinander. Informativ ist hier besonders die Herausarbeitung der Haltung Gramscis zur Gentileschen Schulreform. Abschließend widmet sich der Autor der Frage, wie man mit Gramsci politische Pädagogik und Bildungstheorie heute weiter entfalten könnte (209-261).
Der Anspruch, den Bernhard mit seiner Gesamtdarstellung des pädagogischen Denkens Gramscis formuliert, hätte in gewisser Hinsicht eine wohltuende Provokation des neueren bildungstheoretischen Diskurses in der Erziehungswissenschaft, aber auch der neuerdings im Aufwind befindlichen (erziehungswissenschaftlichen) Bildungsforschung sein können. Warum ist Bernhard dies nicht gelungen? Das hat zunächst mit dem Sprachgestus der Abhandlung zu tun: Sie pflegt – und deshalb hat sich der Leser manchmal verwundert die Augen gerieben – die Rhetorik eines sich stets selbst gewissen Historischen Materialismus, der Zweifel an seiner Argumentation nicht aufkommen lassen kann. So liest man z.B. mit Erstaunen, dass „Gramscis Philosophie der Praxis eine Pädagogik inhärent ist, die sich aus den Notwendigkeiten des geschichtlichen Prozesses herleiten läßt“ (11, Hervor. d. V.). Oder man wird darüber aufgeklärt, dass der „Liberalismus“ ausschließlich „die Warenförmigkeit des Subjektvermögens der arbeitenden Menschen“ im Auge habe (41).
Hinter dem weiträumigen Gebrauch dieser Diktion aus dem historisch-materialistischen Jargon der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts versteckt sich die durchgängig zu beobachtende Tendenz des Autors, sich auf neuere Forschungsliteratur vergleichend oder kritisch auseinander setzend gar nicht erst einzulassen. Das betrifft sowohl die Bildungstheorie wie auch den von Bernhard in den Vordergrund gestellten Gebrauch des Generationenkonzepts bei Gramsci oder die vergebliche Suche nach einer Beschäftigung mit der Bildungssoziologie Pierre Bourdieus – deren Vergleich mit dem Hegemoniekonzept Gramscis spannend hätte sein können –, der Machttheorie Michel Foucaults oder der Theorie Totaler Institutionen Goffmans: Alle diese Theoriebezüge bleiben ausgeblendet. Durch diese radikale Selbstbezüglichkeit, die als Referenzautoren mit Gamm und Schmied-Kowarzik oder Adalbert Rang nur Denker der gleichen Schule kennt, wird der Anschlussfähigkeit an aktuelle Theoriediskussionen in der Erziehungswissenschaft eine entschiedene Absage erteilt.
Außerdem lässt sich beobachten, dass dort, wo Bernhard kritische Vorbehalte gegenüber vergleichbaren Denktraditionen vorträgt – so im Blick auf Kritische Theorie und Kritische Erziehungswissenschaft oder (amerikanischen) Pragmatismus – eine differenzierte Beschäftigung mit den kritisierten Ansätzen nicht stattfindet. Das muss man auch im Blick auf die Bedeutung der Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts für Gramsci festhalten. Die Übereinstimmungen zwischen beiden sind frappierend. So teilt uns Bernhard beispielsweise die Bestimmung von Bildung/“cultura“ bei Gramsci wie folgt mit: Sie sei ein „aktiver Prozess der geistigen Erschließung der Welt durch die geschichtliche Persönlichkeit, die sich in der Folge dieser Tätigkeit selbst verändert“ (Gramsci, hier 45). Das hat auch Humboldt so gedacht und auch der Gramsci der „Gefängnishefte“ denkt noch so. Es kann daher nicht befriedigen, wenn Bernhard suggeriert, Gramsci habe sich in späteren Jahren von dieserart „Idealismus“ befreit. Sowohl die Figuren der „edukativen“ wie die der „rekreativen Bildung“ bei Gramsci schließen noch an Humboldt an.
Insgesamt muss man von der im Grunde verdienstvollen Absicht Bernhards, uns das pädagogische Denken Gramscis im Zusammenhang (wieder) zu präsentieren, sagen: Mit der methodischen Entscheidung, dies auf die Weise einer immanenten Rekonstruktion seiner Philosophie der Praxis zu tun, hat der Autor jede Perspektive der Anschlussfähigkeit ignoriert. Man spürt daher bei der Lektüre auf Schritt und Tritt ein leises Unbehagen: Sind denn die Zeit und die Theoriebildung vor 30 Jahren wirklich stehen geblieben? Kann man tatsächlich über Vernunft und Geschichte, Subjekt und Bildung weiterhin noch so sprechen und denken, wie Gramsci es tat? Die Irritationen, die durch Postmoderne, Konstruktivismus und Systemtheorie gerade auch die bildungs- und erziehungstheoretischen Reflexionen in der Erziehungswissenschaft getroffen haben, werden in diesem „Grundriss“ jedenfalls in keiner Weise wahrgenommen.
EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)
Antonio Gramscis Politische Pädagogik
Grundrisse eines praxisphilosophischen Erziehungs- und Bildungsmodells
(Argument Sonderband. Neue Folge 301)
(Argument Sonderband. Neue Folge 301)
Hamburg: Argument-Verlag 2005
(280 S.; ISBN 3-88619-351-9; 17,50 EUR)
Andreas von Prondczynsky (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas von Prondczynsky: Rezension von: Bernhard, Armin: Antonio Gramscis Politische Pädagogik, Grundrisse eines praxisphilosophischen Erziehungs- und Bildungsmodells (Argument Sonderband. Neue Folge 301). Hamburg: Argument-Verlag 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/88619351.html
Andreas von Prondczynsky: Rezension von: Bernhard, Armin: Antonio Gramscis Politische Pädagogik, Grundrisse eines praxisphilosophischen Erziehungs- und Bildungsmodells (Argument Sonderband. Neue Folge 301). Hamburg: Argument-Verlag 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/88619351.html