Der vorliegende Sammelband reagiert auf die hochschulpolitischen Reformprozesse, die seit den 1990er Jahren im Zuge europäischer Integration und im Interesse internationaler Vergleichbarkeit eingeleitet wurden. Die Erfahrungen mit den Auswirkungen der Veränderungen an der Universität Wien liefern den aktuellen Anlass, einen breiten Kreis von Lehrenden und Studierenden der Erziehungswissenschaft zu Wort kommen zu lassen: Insgesamt 30 Autorinnen und Autoren, als Hochschulangehörige Experten und Betroffene zugleich, beziehen in 28 Beiträgen Position und vermitteln einen Eindruck, wie mehrdeutig die gegenwärtigen Entwicklungen sind. Bewusst mehrdeutig ist daher auch der Titel gewählt: „Bildung riskiert“ verleiht einerseits dem Wagnis Ausdruck, die „Frage nach der Bildungsaufgabe der Universität heute“ (113) zu beantworten. Andererseits spielt „Bildung riskiert“ auf den Verdacht an, dass mit der neueren Ausrichtung der Hochschulpolitik „genau das ‚riskiert’ (im Sinne von: preisgegeben, gefährdet) wird, was die Besonderheit universitärer Bildung ausmacht“ (ebd.). Die Einschätzung, dass die „grundsätzliche Orientierung der Reform entlang von ökonomischen Parametern“ (9) verläuft, spiegelt sich bereits in der Organisation der Beiträge. Die sehr verschiedenen Zugänge und Perspektiven sind im Hinblick auf drei Dimensionen ökonomischer ‚Einschreibungen’ geordnet: Unter dem Stichwort „tempo – Ökonomien der Zeit“ finden sich Beiträge, die den Veränderungen durch historischen Vergleich nachgehen, gegenwärtig ‚Beschleunigungen’ wahrnehmen oder nach der Zukunft universitärer Bildung fragen. Im zweiten Teil sind Beiträge zur „orientierung – Ökonomien des Raumes“ versammelt, während der dritte Teil mit „formation – Ökonomien des Körpers“ überschrieben ist.
Die Interpretation der Reform als ‚Ökonomisierung’ des Bildungsbereichs steht auch bei den meisten Beiträgen im Mittelpunkt. Die Eröffnung leistet dabei ein Aufsatz der IG Pädagogik, einer Gruppe Studierender, die die Etappen der politischen Entscheidungen und Erklärungen zur so genannten ‚Harmonisierung des europäischen Bildungsraumes’ nachzeichnen und darin die „Prämissen Effizienz und Konkurrenz“ (18) ausmachen. Diese fänden sich letztlich in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Studierenden wieder, deren „erzwungene(s) EinzelkämpferInnentum“ und „Konkurrenzverhalten als zusätzlicher Kompetenzerwerb“ (22) verkauft würden. Wenn im zweiten Beitrag Thomas Schott die Frage stellt, ob die moderne Universität „Bildungsinstitution oder Durchlauferhitzer für die Wirtschaft“ sei, scheinen die Dichotomien etwas zu simpel: In seiner Argumentation steht eine „ursprüngliche“ und „überaus bewährte“ „Bildungsinstitution humboldtscher Prägung“ (32) auf der einen Seite, der gegenwärtig eine „Zwangsjacke [...] seitens der Wirtschaft und seitens ökonomisch orientierter Kreise der Politik übergestülpt wird“ (ebd.). In idealistischer Manier verkennt der Autor, welche gesellschaftliche Funktion die Hochschulen schon vor der jüngsten Reformphase hatten, und behauptet schlicht, der Bildungsbegriff sei „vormals gefestigt“ (29) gewesen. Der konservative Ton erreicht bereits in dessen einleitenden Bemerkungen einen argumentativen Tiefpunkt: „Vorbei sind offenbar die Zeiten, in denen man stolz sein durfte, im Land der Dichter und Denker zumindest studiert zu haben“ (25). Dass der Status quo hingegen nicht als Ideal herhalten kann, macht Hans Pechar deutlich. Indem er auf die gegenwärtigen Mechanismen der Selektion in der Hochschule aufmerksam macht, die nur von dem formal offenen Hochschulzugang verdeckt und „als Studienabbruch individualisiert“ (37) worden seien, macht er plausibel, dass der Übergang in den Tertiärbereich zu überdenken ist. Ob aber der Vorschlag des Autors, eine Eingangsselektion mit den dafür auszuarbeitenden Kriterien in die „Verantwortung des Managements“ der Hochschule zu legen (41), tatsächlich die „Chancengerechtigkeit erhöht […] als auch das gesamtgesellschaftliche Humankapital“ (39), bleibt äußerst fraglich. Wie schnell die „Innovationsrhetorik“ des Reformjargons über „akademische Realitäten“ (45ff.) hinweggeht, zeigt Helga Eberherr im Hinblick auf das widersprüchliche Verhältnis von angestrebter Interdisziplinarität und karrierewirksamer Verortung innerhalb einer Disziplin. Auch Wilfried Datler misst in seinem Beitrag den bildungspolitischen Anspruch an der universitären Wirklichkeit. Er zeigt, inwiefern die durch die Reformen anvisierte Verkürzung der Studiendauer auf Kosten der Qualität des Studiums gehen. Die Orientierung an Quantitäten allein könne keineswegs zu dem erklärten Ziel beitragen, bei weltweiten „Uni-Rankings“ zur „Weltklasse“ aufzuschließen (57f.). Eher bildungsphilosophisch argumentieren die beiden folgenden Beiträge von Nikolaus Kremen und Richard Kubac. Beide weisen auf die Vielzahl von differenten und irreduziblen Weltzugängen hin, deren Eigenrecht gegen die Vereinnahmung von äußerlichen Zweckbestimmungen wie Effizienz und Anwendungstauglichkeit zu betonen sei. Kremen richtet sich dabei explizit an die Bildungspolitik, die diese Eigenlogiken zu respektieren und zu schützen habe, wenn sie nicht die „Rücknahme der Moderne unter modernen Bedingungen“ (70) betreiben will. Kubac wendet sich in selbstkritischer Perspektive dem „Teufelskreis disziplinärer Delegitimation“ (76) zu und fragt mit Lyotard nach den Möglichkeiten einer kritischen Positionierung und „Verteidigung beschränkter Legitimationsbereiche“ (78). Barbara Schneider begreift die universitäre „Krise als Entwicklungsaufgabe“ (83ff.), mit der sich insbesondere die Erziehungswissenschaft zu beschäftigen habe, um die Bedingungen einer Einheit von Forschung und Lehre als „wissenschaftlichen Lehr- und Lernprozess von eigener Art“ (89) zu bestimmen.
Damit ist eine Fragestellung aufgeworfen, der auch im zweiten Teil einige Beiträge nachgehen: Barbara Pichler zeigt zunächst, dass die Eigenständigkeit der Erziehungswissenschaft nicht bedeutet, in einfacher Opposition zu „dem wirkmächtigen ökonomischen Diskurs“ (98) zu stehen. Vielmehr gewinne diese aus der Einsicht in ihre „Verwobenheit“ (ebd.) ihre besondere Verantwortung. Andreas Poenitsch überlegt in Erinnerung an eine frühe Arbeit von Gernot Koneffke, inwiefern die Konzeption eines allgemeinpädagogischen Kerncurriculums in der erziehungswissenschaftlichen Ausbildung über die „integrativen Züge des politischen und ökonomischen Zeitgeists“ (111) hinaus diesen zu „durchschauen“ verhelfe und damit „wenigstens tendenziell und zeitweise subversiv außer Kraft setzen“ (ebd.) könne. Ines Maria Breinbauer folgt ihrerseits der Frage nach der spezifischen Aufgabenstellung universitärer Lehre und überlegt, ob die insbesondere mit eLearning verbundenen Qualitäts-Erwartungen überhaupt zur „Bildungsaufgabe der Universität“ (113) passen. Die Autorin schlägt vor, die Eigentümlichkeit des Studierens, die auch in der „Kultivierung des Zweifels“ besteht, als „Maßstab der Orientierung“ (119) von Innovationen der Hochschullehre zu bestimmen. Helene Babel untersucht in ihrem Beitrag die Hintergründe der verbreiteten Praxisforderung, die insbesondere in der LehrerInnenbildung auch von den Studierenden selbst erhoben werde. Sie zeigt eindrucksvoll, dass die „Praxis-Hybris“ einer „unreflektierten Verinnerlichung“ des „steigenden Utilitätsdrucks“ (125) entspricht, und stellt dieser die Notwendigkeit einer „wissenschaftlich fundierte(n) Bildung“ (128) für die Professionalität der Lehrerinnen und Lehrer gegenüber. Anders gelagerte Beiträge folgen auf Gertrude Brinek, die glaubt, dass den „Risiken einer autonomen Universität“ durch „Improvisationskunst“ gut beizukommen sei. Maria Magdalena Spindler und Martin Steger versuchen anhand einer gewagten Verbindung von Lyotard und Luhmann das „Szenario eines Konsensvorschlags“ (145) von Hochschulinteressen und Hochschulpolitik zu umreißen. Josef Fragner und Ulrike Greiner zeigen mit Argumenten der Systemtheorie und poststrukturalistischer Differenztheorie die „Grenzen der Kontrollierbarkeit von Lern- und Bildungsprozessen“ (151) auf und weisen damit die bildungspolitischen Vorstellungen von pädagogischen Steuerungsprozessen zurück. Auch Ilse Schrittessers Beitrag richtet sich gegen die Vorstellung von „rezeptologisch fixierten Handlungsanweisungen zur Situationsbewältigung“ (164) in pädagogischen Kontexten. In Anknüpfung an Ulrich Oevermann und Michael Wimmer skizziert sie einen Begriff pädagogischer Professionalität, zu dessen Kern „‚Nicht-Wissen’ und ‚Nicht-Wissen-Können’“ (ebd.) gehört, und schlägt vor, die universitäre Lehrerbildung daran zu orientieren. Wolfgang Schmidl zeigt, dass sich Forschung im Bildungsbereich nicht unbedingt in Drittmittel übersetzen lässt. Vielmehr gehöre „Forschung im Sinn methodisch betriebener Selbstaufklärung“ (173) strukturell zur Bildung dazu. Reinhold Stipsits reflektiert auf den normativen Rahmen sozialpädagogischen Handelns und verortet diesen in einem differenzierten Begriff von Gemeinwohl, zu dessen Bildung die Reflektion „diverser auch widerstreitender gesellschaftlicher Entwicklungen“ (195) gehöre. Zuvor sieht Oskar Dangl die Idee der Bildung, die er in Anlehnung an Dietrich Benner als „nicht-hierarchische(s) Verhältnis der Einzelpraxen ausdifferenzierter Humanität“ (179) begreift, durch die Ökonomie als „dominante Diskursart“ (ebd.) gefährdet. Er vermutet, dass „die fundamentale Leitdifferenz der Pädagogik eben doch in der Unterscheidung zwischen Ausbildung und Bildung gesucht werden“ (182) könne. Diese bipolare Perspektive erfährt durch den Beitrag von Christine Rabl, der den zweiten Teil abrundet, eine wichtige Entgegnung. Die Frage, ob und wie „Widerstand gegen die totale Vereinnahmung der Bildung denkbar“ (197ff.) ist, wenn sich die Erziehungswissenschaft ihre „Voraussetzungen und Verstrickungen“ (197) eingesteht, wirkt wie eine erfrischende Rückfrage an verbreitete, aber kraftlose Gegenüberstellungen von humboldtscher Universität und ökonomischer Indienstnahme. Entgegen der „Tendenz zur Harmonisierung von Widersprüchen“ (202), die dem neuhumanistischen Bildungsbegriff und dessen gegenwärtigen Zitationen innewohne, reflektiert sie den historischen Zusammenhang von Ökonomisierung und institutioneller Bildung. In Anknüpfung an Jörg Ruhloffs Verständnis von Bildung als problematisierendem Vernunftgebrauch zeigt sie, dass Kritik unter diesen Bedingungen immer beides meint: die Überprüfung der „vorgebrachten Sachzwanglogik“ ebenso wie die selbstkritische Reflexion auf die „Bedingungen unseres Denkens“ (204).
Im dritten Teil nehmen sich die Beiträge unter der Überschrift „formation – Ökonomien des Körpers“ vor allem den veränderten Institutionen und Organisationsformen von Bildung an. Kurt Finger überlegt, inwiefern in Begriff und Praxis lebenslanger Weiterbildung die Gegenüberstellung von Bildung und Ausbildung überwunden werden kann. Bildung und Ausbildung seien zwar zu unterscheiden, könnten aber in einer „ausgewogenen Balance“ (213) „einander als Korrektiv“ (212) dienlich sein. Katharina Pewny untersucht Theater-Performances als Bildungsform. Sie plädiert für eine „Zuwendung zu den Körpern“ (223) und interpretiert Performativität als „Scharnierbegriff“, „um das dezentrierte Subjekt postmoderner Bildungstheorie mit politischer Bildung zu verbinden“ (222). Alfred Schirlbauer analysiert auf bissig-ironische Weise das Fitnessstudio als Verwirklichung der humboldtschen Bildungsideale von „Selbstzweckhaftigkeit und Proportionierlichkeit“ – hier allerdings auf den Körper und nicht auf den Geist bezogen. Susanne Maria Weber wirft eine gouvernementalitätstheoretische Perspektive auf die „neoliberale Politikstrategie“ (238). Während andere die Möglichkeit zur Forschung verschwinden sehen, analysiert die Autorin die Ausweitung der „Forschung zum generalisierten Handlungsmodus“ (243) als Konsequenz des „verinnerlichten Imperativ(s) der Steigerung der Leistungsfähigkeit“ (242). Alexander Brunner fragt, inwiefern die Identifikation von Bildung mit den Begriffen ‚Ware’ oder ‚Dienstleistung’ überhaupt theoretisch zu rechtfertigen ist und plädiert für eine gesellschaftskritische Pädagogik, die „dem vermeintlich ‚Nutzlosen’ zu seinem Recht zu verhelfen“ (250) habe. Christian Gary und Karoline Iber betonen, dass die Ausgestaltung der Reform auch von den Universitäten selber abhänge und deren Angehörige sich verstärkt als Akteure dieser Gestaltung zu begreifen hätten, damit „die Universität aus der defensiven Haltung“ und Situation, „Gegenstand der Reformen“ (261) zu sein, zu einer Universität werde, die selbst reformiere. Josef Bakic hingegen kritisiert die Widerstandslosigkeit des Universitätspersonals und sieht in Anknüpfung an Paul Natorp insbesondere die Pädagogik in der Position, die Normen der „universitären Gemeinschaft“ gegen die „permanenten Normverletzungen“ (271) durch Wirtschaft und Politik zu behaupten. Im letzten Beitrag interpretiert Edgar Forster den intervenierenden Charakter der Dekonstruktion als „politischen Überschuss“ (275). Im Anschluss an Jacques Derridas Vortrag ‚Die unbedingte Universität’ liest Forster ‚Unbedingtheit’ als Denkmodell, mit dem sich Positionen beziehen und Forderungen formulieren lassen. Politisch in diesem Sinne wäre die Beanspruchung der Universität als einen Ort, „an dem nichts außer Frage steht“ (277).
Zusammengefasst: Mit „Bildung riskiert“ liegt ein außerordentlich vielstimmiger und nicht nur von daher interessanter Sammelband vor, der explizit erziehungswissenschaftliche Reflexionen der bildungspolitischen Reformprozesse und -vorhaben vorantreibt. In diesem Sinne bereichert er die öffentliche Diskussion um die selten gehörte, aber auch selten formulierte Fachperspektive und zeigt damit, welche gesellschaftliche Relevanz die häufig innertheoretisch verbleibenden Zugänge und Begrifflichkeiten zu entfalten vermögen.
EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)
Bildung riskiert
Erziehungswissenschaftliche Markierungen
Wien: Löcker 2005
(285 S.; ISBN 3-85409-409-4; 22,00 EUR)
Carsten BĂĽnger (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten BĂĽnger: Rezension von: Dzierzbicka, Agnieszka / Kubac, Richard / Sattler, Elisabeth (Hg.): Bildung riskiert, Erziehungswissenschaftliche Markierung. Wien: Löcker 2005. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/85409409.html
Carsten BĂĽnger: Rezension von: Dzierzbicka, Agnieszka / Kubac, Richard / Sattler, Elisabeth (Hg.): Bildung riskiert, Erziehungswissenschaftliche Markierung. Wien: Löcker 2005. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/85409409.html