EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)

Hildegard Stratmann
Lehrer werden
Berufliche Sozialisation in der Volksschullehrer-Ausbildung in Westfalen (1870-1914)
MĂĽnster u.a.: Waxmann 2006
(352 S.; ISBN 3-8309-1563-2; 24,90 EUR)
Lehrer werden Vor einigen Jahren schon ist in der bildungshistorischen Forschung eine Tendenz konstatiert worden, die sich als Wende von den quasi-subjektlosen Systemen hin zu den konkreten Akteuren und ihren lokalen und regionalen Lebenswelten beschreiben lässt [1]. Auch das vorliegende Buch lässt sich dieser Tendenz zuordnen. Es ist eine Regionalstudie, die sich mit der Volksschullehrer-Ausbildung in Westfalen, sowohl der Ausbildung von Lehrern als auch von Lehrerinnen im Zeitraum von 1870 bis 1914 beschäftigt. Gegenstand sind aber nicht die Institutionen und Inhalte der Volksschullehrerbildung, sondern die Prozesse der beruflichen Sozialisation, die im 19. Jahrhundert durch die spezifische Konstellation der Präparandenanstalten und Lehrerseminare mit teilweisem Internatsbetrieb geprägt sind.

Das Buch geht auf eine volkskundliche Dissertation zurück, die 2004 von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster angenommen wurde. Die wissenschaftliche Zuordnung macht neugierig auf die Perspektive und den Blick, der hier aus einer hauptsächlich auf Region und Kultur schauenden historischen Teildisziplin auf ein Thema gerichtet ist, das in der Bildungsgeschichte seit langem interessiert und das, wenn überhaupt, bislang nur für einzelne Institutionen genauer bearbeitet wurde (für Westfalen vor allem in Bezug auf die Volksschullehrerinnenausbildung [2]).

‚Lehrer werden’. Dieser zeitgenössische Ausdruck aus dem 19. Jahrhundert weist schon im Titel auf den Fokus der Untersuchung hin. Es geht um den berufsbiografischen Prozess aus der Perspektive der beteiligten Subjekte, um Sozialisationserfahrungen und Deutungshorizonte von jungen Männern und Frauen, die sich für den Lehrerberuf entschieden hatten. Im Grunde genommen wird eine Fragestellung bearbeitet, die in der Diskussion um die Wirkungen von Lehrerbildung von höchst aktuellem Interesse ist, die aber methodisch alles andere als einfach zu erforschen ist. Insofern ist es auch aus der Perspektive der aktuellen Lehrerforschung interessant zu sehen, wie die berufliche Sozialisation von Lehrern historisch rekonstruiert und als kulturelle Praxis dargestellt werden kann.

Wie kommt man möglichst dicht an die Akteure? Welcher theoretische Bezugsrahmen ist sinnvoll und wie kann an einem historischen Gegenstand, der relativ weit zurückliegt, tatsächlich die berufliche Sozialisation erforscht werden? Stratmann wählt mit Talcott Parsons als Mittler zwischen Struktur, System und Person sowie mit der aktuellen Ritualforschung einen Zugang, durch den sich die Untersuchung in einem mehrperspektivischen Zwischenfeld historischer Zugänge ansiedeln lässt. Mit Rekurs auf Parsons verortet sie den Prozess der Sozialisation von Volkschullehrern und -lehrerinnen „in einem Spannungsfeld ..., das sich aus den teilweise widersprüchlichen Anforderungen der Herkunftsfamilien, der peer group und den Seminaren als den mit der Lehrerbildung beauftragten staatlichen Institutionen aufbaute“ (11). Was damit gemeint ist, wird eingangs im Hinblick auf die männlichen Lehramtskandidaten dahingehend erläutert, dass es das Ziel der staatlichen Unterrichtsverwaltung gewesen sei, Volksschullehrer im Sinne einer „Integration durch Bildung zu Multiplikatoren bürgerlicher Kultur zu machen“ (12), was aufgrund der mehrheitlich ländlichen Herkunft einen z.T. schwierigen Anpassungsprozess erforderlich gemacht hätte. „Diesen Prozess erstmals mit allen Facetten zu beschreiben und zu analysieren“ (ebd.), ist das erklärte Ziel der Studie. Ein hohes Ziel, das Stratmann unter Nutzung eines zeitlich wie regional begrenzten, freilich aber ungemein heterogenen Quellenmaterials zu erreichen sucht. Sie hat einerseits für 16 der 25 staatlichen Lehrerseminare Westfalens die überlieferten Verwaltungsakten durchgesehen und in Bezug auf ihre Fragestellung vor allem auf Disziplinarakten zurückgegriffen. Ihre anderen Quellen sind autobiografische Dokumente, Jugenderinnerungen, Erinnerungen an die Präparandenzeit, Lebensberichte und Erinnerungen „aus Vaters Jugendzeit“ (320), die als maschinenschriftliche Manuskripte v.a. im Westfälischen Archiv für Volkskunde vorliegen. Zusätzlich wurde der Briefwechsel einer Familie herangezogen. Der Umgang mit derartigen Quellen ist nicht einfach. Stratmann verwendet sie in Auszügen in aller Regel in Ergänzung und Gegenüberstellung mit Daten der Seminare selbst, etwa Hausordnungen oder Briefen mit Aussagen über das Verhalten der ‚Zöglinge’ im Seminar. Interessant ist auch der Versuch, die Frage nach der beruflichen Sozialisation nicht nach Lehrern und Lehrerinnen getrennt zu beantworten, obwohl dies die institutionelle Trennung der Ausbildung nahe gelegt hätte. Im Zuge der Darstellung zeigt sich freilich, dass angesichts der schwierigeren Quellenlage die Sozialisation von Lehrerinnen eher unterbelichtet bleibt.

Den theoretischen Überlegungen Stratmanns folgend ist das Buch in drei Teile gegliedert, die die Zeit vor, während und nach der Ausbildung in den staatlichen Institutionen der Volksschullehrerausbildung erfassen. Die amtlichen Quellen liefern empirische Daten über die Herkunftsfamilien, die Schuljahre oder auch die Kosten der Ausbildung. Es lassen sich Normen des Umgangs rekonstruieren, die in Vorschriften festgehalten sind, und die Disziplinarakten ermöglichen Aussagen über das Überschreiten von Normen, die Konfliktlagen der Seminaristen und die Auseinandersetzungen, die sie zu gegenwärtigen hatten. Die autobiografischen Dokumente wiederum lassen Rückschlüsse zu auf Entscheidungsprozesse über den Verbleib im Seminar, Sorgen und Nöte der Einordnung in die vorgegebene Ordnung, aber auch auf gruppeninterne Hierarchien zwischen den Jahrgängen und deren Fixierung durch Muster gegenseitigen Verhaltens. Auch und gerade die herangezogenen Lebensbeschreibungen sind ein durchaus spannendes Material, aber Stratmann nimmt sie gleichsam immer schon als empirische Realität. Sie reflektiert sie nicht als Konstrukte der Selbstdarstellung und somit in ihrer für die Frage nach der Sozialisation eher begrenzten Reichweite. Gleichwohl erfährt man viel über die erlebten Alltage, die Normen und Rituale, über die sich möglicherweise auch die peer groups in den Seminaren konstituiert haben.

Das Konzept der peer group, mit dessen Hilfe die Autorin methodisch eine Brücke zwischen den verschiedenen Ebenen herzustellen sucht, ist in seiner quasi experimentellen Verwendung interessant, aber auch ausgesprochen diskussionswürdig. Dass es überhaupt genutzt werden kann, liegt an der institutionellen Organisation der Volksschullehrerausbildung in den Seminaren, die Ähnlichkeiten mit der Schule hatte. Insofern lässt sich Parsons Ansatz durchaus übertragen. Es gab Klassengemeinschaften, die man im Sinne Parsons als soziale Systeme verstehen kann. Aber meint Stratmann mit peer group das oder etwas anderes? Aus Sicht der Erziehungswissenschaft ist die Verwendung dieses Begriffs für die historische Analyse des vorliegenden Quellenkorpus eher problematisch, nutzt z.B. die Jugendforschung den Begriff peer group doch eher zur Beschreibung und Analyse jener Subsysteme, die das normative Gefüge der Institutionen und ihrer Ordnungen unterlaufen. Bei Stratmann liegt aber offenbar ein Verständnis von peer group vor, mit dem intendierte Prozesse der Anpassung an Normen vornehmlich gestützt werden. Von daher ließe sich über den theoretischen Zugang streiten, der vielleicht mit Bourdieu besser gelungen wäre, zumal die berufliche Sozialisation von Stratmann auch als Einübung in habituelle Praxen und kulturelle Verortung des Volksschullehrer-werdens gesehen wird.

Fazit: Der Wert der Untersuchung liegt m.E. vor allem in der geschickten Kombination der verschiedenen Quellengattungen und der Zusammenführung zu dichten Beschreibungen des Erlebens der langen Ausbildungszeit zum Volksschullehrer (Präparandie – Seminar – Junglehrerprobezeit) an der Wende des 20. Jahrhunderts. Stratmann ist es gelungen, die Verschiedenheit dieses Erlebens, aber auch die Gemeinsamkeiten und die Verbundenheit durch eine Symbolik von Ordnung, Disziplin und kultureller Zugehörigkeit, die bis in Kleiderordnungen hinein reichte, spannungsreich zu rekonstruieren. Für die Untersuchung einer tatsächlich beruflichen Sozialisation wären allerdings Quellen heranzuziehen, die nicht mehr nur die Junglehrerzeit erfassen, sondern die Zeit des Lehrerlebens nach tatsächlichem Eintritt in die Volksschullehrertätigkeit. Insofern tut sich hier ein weites Feld von Anschlussmöglichkeiten auf, für das Stratmann gute Vorarbeit geleistet hat.

[1] Vgl. Heidemarie Kemnitz / Heinz-Elmar Tenorth / Klaus-Peter Horn (1998): Der Ort des Pädagogischen. Eine Sammelbesprechung bildungshistorischer Lokal- und Regionalstudien. In: Zeitschrift für Pädagogik 44, 127-147.

[2] Vgl. etwa Barbara Stolze (1995): Ausbildung und Berufstätigkeit von Volksschullehrerinnen in Westfalen 1832-1926. Eine institutionengeschichtliche berufsbiografische Studie. Pfaffenweiler: Centaurus; oder Udo Stroop (1992): Preußische Lehrerinnenbildung im katholischen Westfalen. Das Lehrerinnenseminar in Paderborn (1832-1926). Schernfeld: SH Verlag.
Heidemarie Kemnitz (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heidemarie Kemnitz: Rezension von: Stratmann, Hildegard: Lehrer werden, Berufliche Sozialisation in der Volksschullehrer-Ausbildung in Westfalen (1870-1914). MĂĽnster u.a.: Waxmann 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091563.html