EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Wiltrud Gieseke / Karin Opelt / Helga Stock / Inge Börjesson
Kulturelle Erwachsenenbildung in Deutschland
Exemplarische Analyse Berlin/Brandenburg (Europäisierung durch Kulturelle Bildung; Bd. 1)
MĂĽnster: Waxmann 2005
(412 S.; ISBN 3-8309-1475-X; 29,90 EUR)
Kulturelle Erwachsenenbildung in Deutschland Die vorliegende Studie verkörpert gewissermaßen idealtypisch das Niveau der gegenwärtigen Erwachsenenbildungsforschung: Sie ist arbeitsteilig von einer Forschergruppe in internationaler Kooperation erstellt worden, arbeitet mit einem Methodenmix von quantitativen und qualitativen Verfahren, untersucht ihr Objekt, das den engen Kreis der von Erwachsenenbildungsinstitutionen organisierten Bildungsangebote um nicht-explizit erwachsenenpädagogische Initiativen erweitert, aus unterschiedlichen Perspektiven und schließt theoretisch an die aktuellen Diskurse in den Sozial- und Erziehungswissenschaften an.

Die Studie hat zwei Bezugspunkte: Inhaltlich geht es um kulturelle Erwachsenenbildung, methodisch um die multiperspektivische Erfassung von aktuellen Angebotswirklichkeiten in diesem Bereich, exemplarisch fokussiert auf das Gebiet Berlin/Brandenburg. Das Buch ist im Zusammenhang einer vom BMBF geförderten universitären Kooperation zwischen Polen und Deutschland entstanden und hat sein Pendant in dem Band „Kulturelle Erwachsenenbildung in Polen am Beispiel Lubuskie, Warschau und Płock, herausgegeben von Henryk Depta, JĂłzef Kargul, und JĂłzef PĂłłturzycki, ebenfalls 2005 bei Waxmann erschienen. Ein weiterer, von der deutsch-polnischen Forschergruppe gemeinsam herausgegebener Band „Interkulturelle Betrachtungen kultureller Bildung in Grenzregionen“ ist im gleichen Jahr in einer Reihe der Berliner Humboldt-Universität publiziert worden (Die Texte aller dieser Bände sind zeitgleich auch in einer polnischen Version erschienen).

In ihrem Vorwort unterscheidet Gieseke drei Zugänge zur kulturellen Bildung: den systematisch-rezeptiven, den selbsttätig-kreativen und den verstehend-kommunikativen. Dies kann als Präzisierung der früher an Volkshochschulen gebräuchlichen Einteilung der kulturellen Bildung in „Kunst“ und “manuell-künstlerische Bildung“, die auch immer soziale Interaktion und Verständigung als Bildungsziele umschloss, verstanden werden. Nach einem knappen, Kulturpolitik, Kulturwissenschaft und Theorie kultureller Erwachsenenbildung umschließenden Überblick zur Situation der kulturellen Bildung, wird die umfangreiche empirische Untersuchung vorgestellt. Diese besteht aus vier Teilstudien:

 eine Programmanalyse der Erwachsenenbildungseinrichtungen
 zwei Regionalanalysen von beigeordneter Bildung
 vier Fallanalysen zu Institutionalformen kultureller Bildung
 eine Spartenanalyse von vereinsorientierter kultureller Bildung.

Die Programmanalyse von Weiterbildungseinrichtungen der Stadt Berlin und des Landes Brandenburg bezieht sich auf die Jahre 1996 und 2001. Das 126 Variablen umfassende Kategorienraster beinhaltet organisatorische, pädagogische und inhaltliche Items. Die auf dieser Grundlage präsentierte Auswertung ergibt, dass die selbsttätig-kreative Bildung den höchsten Anteil hat, gefolgt von der systematisch-rezeptiven und – mit einem deutlichen Abstand – der verstehend-kommunikativen. In Ergänzung zur Programmanalyse wurden Interviews mit Erwachsenenbildnerinnen aus den untersuchten Einrichtungen durchgeführt, die erkennen lassen, dass die Programmverantwortlichen weitgehend von einem anthropologischen Bildungsverständnis ausgehen und sich um die Einbeziehung integrativer Elemente bemühen. Dass Bemühungen um Zusammenarbeit mit den polnischen Nachbarn häufig wenig erfolgreich sind, wird mit Hinweis auf die verschiedenen Lebenskulturen, Bildungstraditionen, rechtlichen Rahmenbedingungen, aber auch persönliche Ressentiments begründet.

Während die Programmanalyse auf Einrichtungen der Erwachsenenbildung bezogen ist, geht es in den beiden Regionalanalysen um Angebote unterschiedlicher Einrichtungen wie Museen, kleinen Vereinen, Cafés oder soziokulturelle Zentren, die sich nicht primär als Bildungsinstitution, sondern eher als Kulturvermittler verstehen. Ausgewählt wurde für die im Sommer/Herbst 2002 stattgefundene Erhebung eine urbane und eine ländlich-kleinstädtische Region. Die Regionalanalysen, jeweils eingeleitet mit Skizzen historischer und aktueller Entwicklungen, enthalten Angaben zu Anbieterstruktur und -selbstverständnis, zu Finanzierung, Kooperation und Kontakten nach Polen, zu den inhaltlichen Ausrichtungen der Kulturzugänge und zu den im- und expliziten Bildungsaufträgen.

Für die Fallanalysen wurden fünf Institutionen in Berlin und Brandenburg vorgestellt, die sich mehr oder weniger explizit mit kultureller Bildung beschäftigen. Grundlage der Darstellungen bildeten Interviews mit Mitarbeitern zum Programm und zur Institution, teilnehmende Beobachtungen und Dokumentenanalysen. Besonderes Gewicht wurde auf die Aspekte Wissensvermittlung, Beteiligungsformen des Lehrens und Lernens und die Vielfalt der Lehr-/Lernmöglichkeiten gelegt.

Die letzte Teiluntersuchung widmet sich dem Thema aus Sicht von Sparten im Kultursektor, die – in der Bundesrepublik – durch Verbände und Berufsorganisationen repräsentiert werden. Ausgewählt wurden Sparten wie Musik, Darstellende Kunst, Literatur, Bildende Kunst Design, Film/Audiovision/Medien. Als Untersuchungsinstrumente wurden Interviews und Dokumentenanalysen eingesetzt. Als ein Ergebnis neben anderen konnte festgestellt werden, dass fast alle der in diesem Zusammenhang untersuchten Einrichtungen ihren Schwerpunkt auf kulturelle Praxis legen und sich – wie auch die eigentlichen Bildungsinstitutionen – auf einen anthropologischen Bildungsansatz beziehen.

Die ungeheure Vielfalt des Angebots kultureller Bildung, die die Untersuchung belegt, entspricht der Komplexität der Bedingungen lebenslangen Lernens in verschiedenen, alten und neuen, Milieus. Die Idee einer Kultur für alle ist dabei allerdings – nach Meinung der Autorinnen - nicht eingelöst: Kulturelle Bildung könne – im Sinne Bourdieus – auch zur Stabilisierung des einmal erworbenen Habitus beitragen, sollte dies aber nicht tun, sondern sich um eine Überschreitung solcher Grenzen bemühen. Das betrifft auch und gerade die so genannte Event-Kultur, die scheinbar verschiedene Schichten zusammenführe, dabei aber die unterschiedlichen Voraussetzungen nicht notwendig verändere. Bei der Diskussion des Kulturbegriffs werden im Anschluss an aktuelle Diskussionen und in Verbindung mit dem Auftrag der Studie Fragen der Ökologie bzw. des Raums und damit die Themen Interkulturalität und Globalisierung in besonderer Weise berücksichtigt. Daneben nimmt das Thema Leiblichkeit und Emotionalität, dargestellt am Beispiel Tanz, den ihm hier gebührenden Platz ein.

Der umfangreiche Untersuchungsbericht beschränkt sich also nicht auf die Darstellung von Fakten, sondern enthält auch kritische Einschätzungen und engagierte Empfehlungen. So wird beispielsweise der geringe Anteil an aktuell notwendigen interkulturellen Angeboten mit einem Mangel an „bildungspolitischem Rückenwind, der notwendig wäre, um auf diese aktuellen Anforderungen passgenau, finanziell unterstützt, zu reagieren“ (321) erklärt und für eine entsprechende Förderung votiert. Oder es werden Mängel der erwachsenenbildnerischen Professionalität bei Programmverantwortlichen beschrieben, deren Bildungsbegriff eng an schulische Kontexte gebunden ist.

Der kritische Impetus wird gegen Ende noch einmal deutlich, wenn es heißt: „Kulturelle Bildung heilt nicht, schafft keine Schonräume und ist schon gar nicht unerheblich, vielmehr fördert sie individuelle Potentiale, lässt Kraft und Aktivität schöpfen und erhält das zivilisatorisch-kulturelle Gewebe einer Gesellschaft. Dieses ist nicht nur durch die Milieus, sondern auch durch den Grad der Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse geprägt“ (374). Derartige Einschätzungen fehlen übrigens weitgehend in dem Pendant-Band zur kulturellen Erwachsenenbildung in Polen, dessen empirischer Teil eine gute Vergleichsgrundlage zur besonderen Situation der kulturellen Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik Deutschland bietet. Die Studie, die sich methodisch komplex und theoretisch anspruchsvoll dem widmet, was in Deutschland unter kultureller Bildung angekündigt wird, schließt die Bildungs- und Verwertungsinteressen der TeilnehmerInnen bewusst aus. Die Erforschung dieser Seite (auch im Vergleich zu den bildungstheoretischen Positionen der Forscherinnen) bleibt künftigen Untersuchungen vorbehalten.
Sigrid Nolda (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sigrid Nolda: Rezension von: Gieseke, Wiltrud / Opelt, Karin / Stock, Helga / Börjesson, Inge: Kulturelle Erwachsenenbildung in Deutschland, Exemplarische Analyse Berlin/Brandenburg (Euroäisierung durch Kulturelle Bildung; Bd. 1). MĂĽnster: Waxmann 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/83091475.html