EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)

Klaus-M. Kodalle (Hrsg.)
Der geprüfte Mensch
Über Sinn und Unsinn des Prüfungswesens
Würzburg: Königshausen & Neumann 2006
(134 S.; ISBN 3-8260-3300-0; 19,80 EUR)
Der geprüfte Mensch Das Prüfen und die Prüfungen des Menschen sind in einem ganz weiten Sinne die Themen des vorliegenden Bandes, hervorgegangen aus dem Thüringertag für Philosophie. Die einzelnen Beiträge stammen nicht nur aus verschiedenen disziplinären Kontexten (darunter Erziehungswissenschaft, Philosophie, Theologie, Psychologie); sie gehen "die Prüfung" aus unterschiedlichen Perspektiven an: aus didaktischer, aus (normativ-)anthropologischer, aus gegenwartskritischer Sicht. Dem Leser werden die weitreichenden Traditionen, die Bedingungen und Bedeutungen des Prüfens aufgezeigt, welches so oft hinter seiner unmittelbaren Faktizität verschwindet. Zutreffend ist sicher auch die Bemerkung, dass die Möglichkeiten und Grenzen, die Ideale und die Realität des Prüfens nur unzureichend wissenschaftlich reflektiert werden, besonders im Hinblick auf die Hochschule. Ein Teil der vorliegenden Beiträge versteht sich im Sinne einer solchen ausstehenden wissenschaftlichen Reflexion, während der andere Teil mit einem begrenzten wissenschaftlichen Anspruch auftritt – um ein Schlaglicht auf die Praktiken des Prüfens zu werfen. Die vorliegende Besprechung konzentriert sich auf jene Beiträge, die aus erziehungswissenschaftlicher Sicht von Interesse sind: Dies sind zum einen Beiträge mit bildungs- und erziehungsphilosophischen Bezügen (Meyer-Drawe, Sparn, Tenorth). Zum anderen werden diejenigen Beiträge aufgegriffen, welche die Prüfungen in Bildungsinstitutionen beleuchten (Becker, Köster, Strauß).

In ihrem Beitrag "Der kontrollierte Mensch" liefert Käte Meyer-Drawe eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger Lebensführung unter der Chiffre des "lebenslangen Managements". In diesem Zusammenhang verdienen nicht nur die sprachlichen Umstellungen zur Beschreibung von Selbstverhältnissen und deren Regulierung Beachtung, sondern auch, dass mit dieser Umstellung "ebenfalls die Bedingungen des Sagbaren und Denkbaren sowie damit auch des Wahrnehmbaren" (122) verändert werden. Für das Fach Erziehungswissenschaft exemplifiziert die Verfasserin dies durch den in gegenwärtigen Stellenausschreibungen häufig auftretenden Zusatz "empirisch", der das Denken auf Effizienz orientierte Sichtweisen ausrichtet und zum vorauseilenden Gehorsam verleiten kann. Für die Subjekte schließe der Begriff des Selbstmanagements eine Selbstdeutung ein, die kaum noch für Erfahrungen der Fragilität und Zweideutigkeit geöffnet sei. Meyer-Drawe zeigt in einer phänomenal dichten Beschreibung, wie Autopoiesis, Selbstbeobachtung, Selbstgestaltung und -kontrolle einen sich gegenseitig ergänzenden Zusammenhang bilden, der vor dem Hintergrund einer durch Disziplinartechniken bestimmten Kontrollgesellschaft lesbar sei.

Für den Beitrag Heinz-Elmar Tenorths, der sich mit der Frage nach Bildungsstandards und deren Überprüfung beschäftigt, liefert die Analyse Käte Meyer-Drawes Möglichkeiten kritischer Rückfragen und Reflexion, da Tenorth meint, sich pädagogisch auf die Ebene verschiedener Kompetenzmodelle sowie die Kontroverse von Mindest- versus Regelstandards beschränken zu können. Tenorth votiert für die Idee einer Grundbildung, die aus gesellschaftlicher Sicht einen zeitlichen und sachlichen Primat beanspruchen könne. Sie fasse zudem bildungspolitisch wie bildungstheoretisch die Realisierbarkeit der Bildungsansprüche ins Auge und erlaube Verantwortungszuschreibungen an die Bildungsinstitutionen. Besonders die von Tenorth betonte Notwendigkeit und Unausweichlichkeit von Bildungsstandards provoziert nach dem Beitrag Meyer-Drawes die Frage, in welchem Sinne noch alternative Deutungen von Schule, von Lehrenden und Lernenden, zuletzt von Bildung in den Blick kommen können. Dass Tenorth meint, sich solchen Überlegungen durch seine Kritik an "traditionellen Bildungstheoretikern" (23) entziehen zu können, zeugt nicht nur von der Missachtung oder Unkenntnis einer reflektierten und selbstkritischen Bildungsphilosophie; es zeigt sich zudem, dass die Argumentation nicht im Verhältnis zum in der Argumentation Verhandelten steht: Für das Grundbildungskonzept lässt sich kaum pädagogisch argumentieren, indem man kritisch auf die emphatischen Bezugnahmen auf Bildung von Humboldt bis Hegel oder von der Görres-Gesellschaft bis zur GEW rekurriert. Zu fragen wäre demgegenüber nach der pädagogischen Bedeutung von "Grund-" in "Grundbildung", nach der komplexen Verschränkung bildungstheoretischer und bildungspolitischer Gesichtspunkte und nach der Möglichkeit ihrer kritischen Reflexion, ohne sich auf die Differenz von idealem Anspruch und kruder Realität zurück zu beziehen.

Aus systematisch pädagogischer Sicht ist außerdem der Beitrag des Theologen Walter Sparn interessant, der die Bedeutung der göttlichen Prüfung und ihr Bestimmungsmoment im Verhältnis zwischen Gott und Mensch beleuchtet. Es wird dargelegt, wie sich die göttliche Prüfung ebenso wie das Verhältnis zwischen Gott und Mensch auf ihren positiven Sinn, z.B. Läuterung, hin vereindeutigt, wenn man die göttliche Prüfung im Sinne einer Pädagogie versteht. Die Selbstbegrenzung dieses monotheistischen Gottesverständnisses zeige sich darin, dass durch die pädagogische Logik ein Maßstab über die Selbstbestimmung Gottes hinaus eingeführt wird, der zuletzt Gott am Maßstab seiner Prüfung prüft. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Verunklarung und Verschärfung der Prüfung der Menschen durch Gott eine doppelte Bedeutung. Diese sind zum einen ein Zeugnis dafür, dass der Mensch sein Verhältnis zu Gott nicht ausloten kann, dass Gott sich verbirgt. Zum anderen erhält die Prüfung selbst eine positive Bedeutung für den Glauben. Dies wird durch einen Rekurs auf eine Unterscheidung aus Luthers Übersetzung des Jakobusbriefs von "Versuchung" und "Anfechtung" expliziert. Anhand von Sparns Beitrag ließe sich der systematisch-pädagogische Horizont des Prüfens reflektieren, z.B. dahingehend wie die Prüfung, die immer über die Prüfungsgegenstände hinausweist, bedacht oder unbedacht in das Selbstverständnis des Geprüften hineinspielt.

Diese Überlegung führt auf die Beiträge der zweiten Gruppe, die sich mit den Prüfungen in Bildungsinstitutionen befassen. Juliane Köster befasst sich in ihrem Beitrag mit den unterschiedlichen Prüfungsmustern im deutschen Schulwesen. Nach einer Charakterisierung der beiden heute wichtigen Aufgabentypen (Multiple-Choice-Test versus diskursives Aufgabenformat) exponiert sie das Problem, dass diskursive Formate durch ihre Ausrichtung auf die Kompaktheit und Vollständigkeit der Antwort an den Maximalstandards ausgerichtet seien und dadurch keine hinreichende Differenzierung unterschiedlicher Leistungsniveaus erlauben würden. Neben einer größeren Differenzierung sei außerdem die Zugänglichkeit und der Aufforderungscharakter der Aufgaben bedeutsam, welche für die Erfolgschancen der Geprüften nicht zu vernachlässigen seien. Prüfer wie Geprüfte sähen auch hier einen Vorzug des Multiple-Choice-Formats, das einen Antwortrahmen vorgebe. An dieser Stelle erscheint es allerdings geboten, die Prüfungsgegenstände als solche zum Thema zu machen: Häufig spielen hier gerade die Grenzen solcher Vorgegebenheiten und Bestimmtheiten eine wichtige Rolle, z.B. Reflexionen über die Reichweite theoretischer Aussagen. Diese lassen sich in Form eines Multiple-Choice-Formats nicht adäquat erfassen, wenn auch Köster darin zuzustimmen ist, dass Multiple-Choice-Aufgaben durchaus anspruchsvoll gestaltet werden können und dann über simple Techniken des Anwendens hinausgehen.

Das von Köster genannte Ziel, Produktivität anzustoßen, setzt dann auch bei einem dritten Weg an, der die Bestimmtheit der Multiple-Choice-Aufgabe mit der Gedanklichkeit diskursiver Aufgaben verbindet. Was zuvor das Problem des Maximalstandards genannt wurde, taucht hier wieder auf und wirft die Frage danach auf, ob die Qualität des in einer Prüfung Gelieferten an die Diskursivität gebunden bleibt; denn (wenn überhaupt, dann gibt) nur sie zuletzt Aufschluss darüber, ob und wie die zugrunde liegenden Zusammenhänge verstanden worden sind oder nicht. Erscheint es nicht dringlicher, das Prüfungsunternehmen vor dem Hintergrund der Fiktion von sachlicher Prüfung und angemessener Bewertung zu reflektieren (Grenzen der Prüfbarkeit, Unvermeidbarkeit der Bewertungsfehler)?

Neben Werner Beckers "kritischen Bemerkungen zur Prüfungspraxis in den Geisteswissenschaften", die sich insbesondere auf das traditionelle Prüfungsdenken der Ordinarius-Universität beziehen, deuten sich die Grenzen des Prüfens im Beitrag Bernhard Strauß' an, der sich der Psychologie des Prüfens und Geprüft-Werdens zuwendet. Zunächst wird die Prüfungsangst aus psychoanalytischer Sicht erörtert, wobei besonders die bewussten und unbewussten "Gründe" der Prüfungsangst Beachtung finden. In einem weiteren Schritt werden die aus der Prüfungsinteraktion resultierenden Urteilsfehler sowie die Aspekte von Macht und Abhängigkeit in der Prüfungssituation beleuchtet. Mit der Betonung des unhintergehbaren Interaktionszusammenhangs in Prüfungen kommt Strauß auf die Verwicklungen von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen zu sprechen. Zuletzt wird mit der Provokation der Psychoanalyse nicht ernst gemacht – sonst wäre die Frage zu stellen, inwieweit die Prüfung überhaupt noch von der Prüfungsinteraktion abzuheben ist. Muss die Prüfung nicht mit Blick auf eine (für beide Seiten) undurchsichtigen Erwartung an den Anderen und ihre (für beide Seiten) unvorhersehbaren Reaktionen verstanden werden – ein Austausch, den man nur in den wenigsten Fällen angemessen, in jedem Fall aber verkürzt als Dialog bezeichnen könnte? Diese Frage gibt Anlass, abschließend den Band und seine Dimensionierung des Themas insgesamt in den Blick zu nehmen.

Ohne Zweifel ist "Prüfen" ein weit verzweigtes Thema, das komplexe Probleme birgt. Gemessen daran ist es zugleich gerechtfertigt und ungerechtfertigt zu sagen, dass dieser Band viel vermissen lässt, z.B. eine grundsätzliche Erörterung der Grenzen der Prüfbarkeit aus (bildungs-)philosophischer Sicht, möglicherweise untersetzt durch linguistische Analysen von Prüfungen, die zeigen, dass in diesen sozialen Interaktionen so viel mehr im Gange ist, als alle Prüfungsweisheit sich träumen lässt. Aus einer bildungssoziologischen Perspektive wäre eine Reflexion des Prüfungswesens vor den Hintergründen der Reproduktion sozialer Ungleichheit in unseren Bildungsinstitutionen angezeigt. Aus pädagogischer Perspektive ist eine kritische Diskussion der Bedeutung von Prüfungen und eine skeptische Inblicknahme ihrer gesellschaftlichen Funktionen notwendig. Aus hochschuldidaktischer Sicht wären Bildungsmaßnahmen bzw. alternative Praxen des Prüfens zu reflektieren. Während den Beiträgen der ersten Gruppe eine breite Leserschaft zu wünschen ist, bietet dieser Band für eine erziehungswissenschaftliche Erarbeitung bzw. Bearbeitung der oben genannten Probleme eher wenig Anregung.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Kodalle, Klaus-M. (Hg.): Der geprüfte Mensch, Ãœber Sinn und Unsinn des Prüfungswesens. Würzburg: Königshausen & Neumann . In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82603300.html