EWR 4 (2005), Nr. 2 (MĂ€rz/April 2005)

Andreas Dörpinghaus/ Karl Helmer (Hrsg.)
Topik und Argumentation
WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2004
(312 S.; ISBN 3-8260-2779-5; 39,80 )
Topik und Argumentation Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die Dokumentation einer Tagung von 2003, welche um zehn weitere BeitrĂ€ge von zumeist TeilnehmerInnen der Tagung erweitert worden ist. Die Herausgeber stellen den umfangreichen Band unter die These, dass Denken topische Orientierungen, seien sie empirisch abgelesen oder artifiziell arrangiert, benötige. Die ursprĂŒnglich auf die Mnemonik zurĂŒckgehende Topik, welche im Rahmen einer Theorie der Argumentation Möglichkeiten argumentativer AnschlĂŒsse organisiert oder als Topologie Wissen verortet, kann sich, so die Herausgeber, auch in der theoretischen PĂ€dagogik bewĂ€hren, insofern sie dieser – als kontingenten Bedingungen unterworfen – Ordnungen zur Wissensformation und -bearbeitung anbietet. Karl Helmer verweist im Anschluss an seine Überblicksdarstellung zur Topik gesondert auf die gesellschaftliche, politische und kulturelle Situiertheit topischen Denkens. Diese Aspekte bilden den Ausgangspunkt der Tagung wie des Sammelbandes. – Die BeitrĂ€ge des Bandes lassen sich grob drei Bereichen zuordnen. Die im Folgenden als erste verhandelte Gruppe befasst sich mit der Topik aus systematisch pĂ€dagogischer Sicht: Welche Bedeutung kommt der Topik fĂŒr die Ordnung sowie Handhabung pĂ€dagogischen Wissens und damit fĂŒr eine innerdisziplinĂ€re VerstĂ€ndigung zu? Im Zentrum der zweiten Gruppe steht die Analyse verschiedener pĂ€dagogischer Topoi, also von Orten, von denen aus pĂ€dagogische Argumentationen strukturiert werden. Eine dritte Gruppe von BeitrĂ€gen behandelt das Thema unter literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten.

Anton HĂŒgli untersucht in seinem Beitrag den systematischen Ort, die systematische Verankerung unserer Überzeugungen als begrifflich fassbare faktische bzw. normative Einstellungen gegenĂŒber der Welt. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit der Position des Überzeugungsholismus (Brandom), nach dem Überzeugungen ihren Ort innerhalb eines Systems von weiteren Überzeugungen besitzen. Den Schwierigkeiten eines solchen Ansatzes (z.B. wie sich die InfinitĂ€t und NormativitĂ€t des Überzeugungsgeflechts erklĂ€ren) wird mit einer Anbindung oder Situierung des Konnexes von Überzeugungen in der sozialen Praxis begegnet. Welche Bedeutung haben jedoch 'Argumentieren' und 'Rechenschaft geben' als soziale Praktiken im Hinblick auf unsere Überzeugungsgeflechte? Mit der Annahme einer rationalen Auflösbarkeit unserer Überzeugungen fĂ€llt man hinter die 'Vorschuss- und Anfechtungsstruktur' zurĂŒck, von der schon Wittgenstein in "Über Gewissheit" sprach. Im Anschluss an seine Brandom-LektĂŒre hebt Andreas Dörpinghaus an dieser Stelle hervor, dass soziale Praxis nicht als "Großkategorie" (139) die Sinnhaftigkeit topischer Argumentation verbĂŒrgt, sondern dass sie in sich perspektivisch bzw. intersubjektiv gegliedert ist und dadurch auf eine latente NegativitĂ€t, ein mögliches Scheitern des Gemeinsamen, verweist. Von hier aus wird ein Übergang zu Bildungsprozessen angestrengt, "die einen Ort in dem Zwischen der Perspektiven haben" (141); denn PerspektivĂŒbernahmen können immer scheitern. Welcher Art ist aber diese NegativitĂ€t, dieses Differenzgeschehen, im Bildungsprozess? Und: LĂ€sst sich diese/s mit der Bildungstradition kurzschließen, wie der letzte Teil des Beitrags nahe legt?

Im Anschluss an ein Bielefelder Forschungsprojekt zur Analyse von pĂ€dagogischen Texten geht Harm Paschen den Fragen nach, inwieweit pĂ€dagogischen Argumenten ein Gewicht zukommt und wie sich daraufhin PlausibilitĂ€tskalkĂŒle von pĂ€dagogischen Argumentationen entwickeln ließen. Die Fragen zielen auf eine begriffliche Fassung und KlĂ€rung pĂ€dagogischer Kompetenz sowie auf eine Umgrenzung und Inventur pĂ€dagogischer Argumentationen zum Zwecke disziplinĂ€rer SelbstverstĂ€ndigung. So begreiflich der Wunsch danach ist, dass die PĂ€dagogik endlich mit anderen Wissenschaften gleichziehe, so problematisch ist die Zielsetzung eines solchen Projekts angesichts der PluralitĂ€t erziehungswissenschaftlicher ZugĂ€nge, die sich bis in die Formation pĂ€dagogischer RealitĂ€t hinunter dekliniert. Der konzise Tagungsbericht von Barbara Platzer hat die kritischen Repliken der Vortragsdiskussion festgehalten, in denen außerdem der fehlende Adressatenbezug sowie das unklare VerhĂ€ltnis von deskriptiver und normativer Dimension in der Argumentgewichtung moniert werden. Dass ein Argument nicht eine gegenstĂ€ndliche und unabhĂ€ngige Einheit darstelle, dass Argumente einen Anlass hĂ€tten, entwickelt Jörg Ruhloff in seinem Beitrag. Nach Ruhloff ist eine Topologie als Verortung von Argumenten in einem logisch geschlossenen Raum unmöglich. Die These Paschens, dass eine topische Argumente-Sammlung den GĂŒltigkeitsindex pĂ€dagogischer Praktiken bzw. ihrer BegrĂŒndungen berĂŒhre, wird von Ruhloff kritisiert, da es nicht das topisch geordnete Wissen sei, welches fĂŒr den GĂŒltigkeitsgrad ausschlaggebend sei, sondern das wissenschaftliche Denken, welches sich skeptisch mit den WahrheitsansprĂŒchen der vorliegenden Propositionen auseinander zusetzen habe. Die Konsequenzen fĂŒr den Wahrheits- und GĂŒltigkeitsbegriff werden ĂŒber das Stichwort der RelationalitĂ€t hinaus nicht weiter verfolgt; problematisch bleibt das VerhĂ€ltnis des skeptischen Denkens zu den bestehenden Wissensordnungen.

Auch Elisabeth Sattler diskutiert in ihrem Artikel die Möglichkeiten und Grenzen topischer Ordnungen in der PĂ€dagogik, was auf die Schwierigkeit des Allgemeinen in der PĂ€dagogik und damit auf die Offenheit und Wege der Überschreitung von gegebenen Wissensformationen der Disziplin verweist. Die vorsichtigen Markierungen und Umrisse im Anschluss an die Arbeiten von O. Pöggeler und Ch. Schönherr bleiben im Unscharfen, wĂ€hrend Lothar Wigger in seinem Beitrag das Schicksal der systematischen PĂ€dagogik heute ausdrĂŒcklich zu machen sucht. Nach Herausstellung der gegenwĂ€rtigen AnsĂ€tze und Probleme systematischer PĂ€dagogik und der Beobachtung, dass gegenwĂ€rtig wenige systematische PĂ€dagogiken in Buchform erscheinen, geht Wigger auf die Logik und inhaltlichen Konturen der in letzter Zeit zahlreich erschienen erziehungswissenschaftlichen EinfĂŒhrungen und Grundkurse ein. Die These, dass die Orientierung am Common Sense der Disziplin "an die Stelle der alten AnsprĂŒche systematischer PĂ€dagogik" tritt (294), provoziert die Frage nach der Differenz zwischen der Systematik des Common Sense und der Systematik des PĂ€dagogischen, die wahrgenommen, aber nicht behandelt wird. Lutz Koch setzt in seinem Beitrag bei der systematisch pĂ€dagogischen Bedeutung von Kants Tafel der Reflexionsbegriffe an. Ausgangspunkt ist die Frage nach der inneren Gliederung, dem Maß der Verbindung von pĂ€dagogischen Vorstellungen. Koch plausibilisiert die Reflexionsbegriffe in Bezug auf pĂ€dagogische GedankengĂ€nge, indem er z.B. den Bildungsbegriff unter RĂŒckgriff auf das Begriffspaar Stoff und Form expliziert (formale vs. materiale Bildung). Wenn auch anhand der Beispiele deutlich wird, dass die Reflexionsbegriffe der Darstellung pĂ€dagogischer Sachverhalte dienlich sind, so ist damit keinesfalls geklĂ€rt, wie sich an sie eine Entwicklung pĂ€dagogischer Theorie (172) anschließt.

Als Beitrag aus der zweiten Gruppe versucht Elmar Anhalt, den Begriff der Bildsamkeit aus topologischer Sicht als fĂŒr Herbarts Gesamtwerk bestimmend auszuweisen. Der Beitrag ist auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Bildsamkeit-Interpretation Josef Leonhard Blaß' fokussiert, welche Anhalt durch eine konzise auf Bildsamkeit angelegte LektĂŒre der 'Hauslehrerberichte' zu ergĂ€nzen bzw. zu korrigieren sucht. Im Artikel von Gaby Herchert ist der in pĂ€dagogischen Diskussionen grundstĂ€ndige Topos der Wildheit Thema. Analysiert wird, wie "im Übergang vom Mittelalter zur Moderne der Gedanke der Wildheit mit wechselnden Inhalten als Topos von Gegenwelten fungiert" (151). Materialreich wird anhand pĂ€dagogischer und literarischer Quellen die Wildheit als unzivilisierte Gegenwelt des aufklĂ€rerischen Bildungsideals, im Sinne einer Zivilisationskritik und als Rekurs auf einen Naturzustand entwickelt. Die Überlegungen Alfred SchĂ€fers kreisen um die Rhetorik des Opfers, die nicht nur einen prominenten Platz im pĂ€dagogischen AlltagsverstĂ€ndnis, sondern auch systematische PlausibilitĂ€t besitzt, da sie die Verquickung von Freiheit und Unterwerfung einerseits darstellbar mache und andererseits deren rhetorische BewĂ€ltigung erlaube. Mit Rousseau geht SchĂ€fer daraufhin der Bedeutung der Opferrhetorik fĂŒr die nicht lösbare Rechtfertigungsproblematik pĂ€dagogischen Handelns nach, um im Anschluss und im Zusammenhang mit der Psychoanalyse-Rezeption der Studentenbewegung zu zeigen, wie im Lichte der alltĂ€glich-pĂ€dagogischen Opferrhetorik pĂ€dagogische Handlungen zugleich als legitimiert wie unerfĂŒllbar erscheinen. Der Topos von Heim(en) ist das Thema von Reinhold Stipsits Beitrag, der sich nicht zwischen Reisebericht, pĂ€dagogischer Reflexion und literarischer LektĂŒre entscheiden will. GegenĂŒber den eindeutigen Bestimmungen (Heim als Himmel oder Hölle auf Erden) hĂ€tte die Mehrdeutigkeit im Heim bzw. der Heimat, diesem unbezĂŒglichen Bezugspunkt des Eigenen, zu dem man sich nie nur anknĂŒpfend oder absetzend verhalten kann, eine subtilere Perspektive abgeben können.

Zur dritten Gruppe der BeitrĂ€ge: Hans-RĂŒdiger MĂŒllers Beitrag kreist um die Differenz und Vermittelbarkeit von Autobiographik und Bildungstheorie als unterschiedlichen Wissensordnungen. Autobiographische Texte haben es mit Erfahrungsstrukturen und Bildung zu tun, ohne dass diese "vollstĂ€ndig in die Sprache erziehungswissenschaftlicher Bildungstheorie ĂŒbersetzbar ist" (76). Gesondert aufgegriffen wird jene Station des autobiographischen Bildungsdiskurses seit 1800, in dem sich das Wissen vom Ich als das Wissen vom Nicht-Wissen darstellt. In diesem Kontext verdeutlicht MĂŒller den Vorteil, dass dieser Diskurs nicht der RationalitĂ€t von Wissenschaft und Praxis unterworfen ist und sprachlich weitreichende Möglichkeiten besitzt: Da Bildungserfahrungen erst vor dem Hintergrund von SinnentwĂŒrfen verstĂ€ndlich werden, ist das sich in der autobiographischen ErzĂ€hlung zeigende Wechselspiel von Realem und ImaginĂ€rem bedeutsam fĂŒr den Bildungsgedanken, in dem nun die Verstrickungen des werdenden Subjekts, die Selbstbestimmung durch Selbstsuche und die Selbstsuche in der Selbstbestimmung, erfahrbar werden. Welche Implikationen hat dies fĂŒr die 'RealitĂ€t' und die Zeitlichkeit von Bildungsprozessen? Auch im Artikel von Micha Brumlik ist das schwierige VerhĂ€ltnis von Literatur und Bildungstheorie Thema. Die Betrachtung von GenerationenverhĂ€ltnissen in Romanen der Jahrtausendwende spitzt sich zu der Frage zu, inwieweit die Texte als sozialhistorische Zeugnisse zu nehmen sind oder "in welchem Ausmaß auch Autoren wie Roth, Houllebecq und Kolb vom trivialisierten wissenschaftlichen Wissen ihrer Zeit" beeinflusst sind (73). Am Ende steht das RĂ€tsel und die unlösbare Offenheit von BildungsgĂ€ngen. Sascha Löwensteins Beitrag konzentriert sich auf eine kritischen PrĂŒfung des in der Literaturwissenschaft der 1950er bis 1970er Jahre etablierten verengten Toposbegriffs (zum Stoff, Motiv oder Thema). Was an der anvisierten Neukonturierung der literaturwissenschaftlichen Toposforschung (gemeint ist hier vornehmlich die Ausrichtung topischer Strukturen auf eine Zustimmung des Publikums) pĂ€dagogisch bedeutsam sein soll, wird nicht deutlich.

Der umfangreiche Band "Topik und Argumentation" versammelt nach Thematik und gedanklicher SchĂ€rfe unterschiedliche BeitrĂ€ge, die hier nicht erschöpfend behandelt werden können. Dem Anliegen der Herausgeber, das Feld von PĂ€dagogik und Topik zu weiten und zu differenzieren, kommen m.E. vor allem jene BeitrĂ€ge nach, die versuchen, aktuelle Debatten normativ-pragmatischer Provenienz systematisch pĂ€dagogisch auszuloten. Gleiches gilt fĂŒr die analytisch motivierten BeitrĂ€ge pĂ€dagogischer Topoi sowie das VerhĂ€ltnis von Literatur und Bildungstheorie. Daneben wiederholen sich bekannte Problemkonstellationen, die immer noch auf ihre (Ein)lösung hoffen.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Dörpinghaus, Andreas / Helmer, Karl (Hg.): Topik und Argumentation, Königshausen & Neumann: WĂŒrzburg 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82602779.html