EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Andreas Wernet
Pädagogische Permissivität
Schulische Sozialisation und pädagogisches Handeln jenseits der Professionalisierungsfrage
Opladen: Leske + Budrich 2003
(181 S.; ISBN 3-8100-4028-2; 16,80 EUR)
Pädagogische Permissivität Permissivität bedeutet Gewährenlassen. Pädagogisch wird Permissivität, wenn sich dieses Gewährenlassen z.B. im Kontext schulischer Interaktion vollzieht. Damit wird nicht – wie man vermuten könnte – einer Renaissance des Laissez-faire das Wort geredet, sondern vielmehr entwickelt Wernet ein Modell pädagogischen Handelns, das maßgeblich zum Gelingen schulischer Funktionalität beitragen kann. Es geht dabei um die Aufrechterhaltung der gesellschaftlich vorgegebenen universalistisch-unpersönlichen Leistungsorientierung. Der Autor nähert sich dieser Thematik in drei Schritten. Zunächst geht es um Problemerkennung aus alltagsweltlicher Perspektive, daran anschließend um Problembearbeitung aus professionstheoretischer Perspektive und schließlich um die Formulierung und Erprobung eines alternativen Theoriemodells.

Im einleitenden Kapitel greift der Autor eine Reihe von Situationen auf, die mehr oder weniger unschwer einen schulischen Kontext nahe legen. Diese Situationen beschreiben „misslingende pädagogische Interaktion[en]“ (7), die sich aufgrund der Regelmäßigkeit ihres Auftretens im schulischen Handlungskontext als „typische Phänomene pädagogischen Handels“ (18) interpretieren lassen. Gemein haben alle Interaktionsbeispiele, dass im Grunde jeweils die Lehrperson selbst verantwortlich ist für das Auftreten der von Wernet als Entgrenzungen bezeichneten Phänomene. Es sind keine „schwierigen Situationen […] auf die der Lehrer eine ´kunstvolle´ Antwort finden müsste, sondern […] zunächst harmlose Alltagssituationen, die durch die pädagogische Aktion selbst erst zu Problemen führen“ (47f.). Ihr Auftreten hätte vermieden werden können, wenn die Lehrperson nicht von einem spezifischen in einen diffusen Handlungsrahmen gewechselt wäre (53).

Die Verwendung des Begriffspaares diffus-spezifisch macht dabei bereits auf die theoretische Basis aufmerksam – und darin liegt ein wesentlicher Beitrag der Publikation begründet –, in die Wernets Argumentation eingebettet ist: „Talcott Parsons entworfenes Begriffssystem der pattern variables“ (57) wird eingehend thematisiert.

Im Untertitel des Werkes heißt es: „jenseits der Professionalisierungfrage“. Damit könnte man vermuten, dass die Veröffentlichung keinen Beitrag zur Diskussion über Professionalisierung und Professionalität pädagogischen Handelns leisten möchte. Das Gegenteil ist der Fall. Wernet schlägt vor, „den Lehrerberuf weder als professionalisiert, noch als professionalisierungsbedürftig oder professionalisierungsfähig zu verstehen“ (7). Er verzichtet darauf, „den vielen Übersichtsreferaten zur Theorie der Professionen“ ein „weiteres hinzu[zu]fügen“ (21). Der Versuch, das Problem der pädagogischen Entgrenzung zu lösen, geschieht aber im Rückgriff auf die Ansätze handlungslogischer Professionalisierungstheorien von Helsper und Oevermann. Beide Modelle werden eingehend behandelt (29-45) und ihre voraussetzungshaften Annahmen für ein allgemeines, professionelles Handlungsmodell nicht grundsätzlich abgelehnt. Fazit der Auseinandersetzung mit diesen Theorieansätzen ist indessen das grundlegende Infragestellen der Idee der Vermittlung von Widersprüchen als Gelingensmodell pädagogisch-professionellen Handelns. Alternativ begründet Wernet die Idee der Widerspruchsvermeidung als sinnvollen Ausweg. Gerade hierin äußere sich jedoch die mangelnde „Professionalisierungsbedürftigkeit des Lehrerberufs“ (167): Im Kern eines begrifflich verbindlichen Modells professionalisierten Handelns stünde die Annahme einer widersprüchlich konstellierten beruflichen Problemlösungspraxis. Die Kunst der professionalisierten Berufsausübung würde hier zentral als Kunst der Vermittlung verstanden. Dieses Modell aber ließe sich auf den Lehrerberuf nicht überzeugend anwenden (ebd.).

Um diese Interpretation nachvollziehen zu können, diskutiert Wernet zunächst die „handlungstheoretische Begriffssystematik der pattern variables“ (58), die „wie kein anderes theoretisches Konzept […] den Dreh- und Angelpunkt gesellschaftstheoretischer, schultheoretischer, professionalisierungstheoretischer, sozialisations- und familientheoretischer Elementarbestimmungen [bilden]“ (57). Dabei wird einleitend erwähnt, dass man Parsons „theoretische Konstruktion nicht einfach übernehmen“ könne, sondern „sie spezifisch interpretiert und reformuliert“ werden müsse (58). Der Autor vergisst in diesem Zusammenhang auch nicht anzumerken, dass Parsons selbst im Laufe seiner Arbeit auf die Verwendung der pattern variables verzichte: „Das AGIL-Schema ist auf die pattern variables nicht mehr angewiesen“ (57f.). Dennoch, die – erneute – Betrachtung der „pattern variables und ihrer Paaralternativen […] als idealtypisch konstellierte Einheiten“ (66) liefere, so Wernet, ein „ausgesprochen erhellendes Instrumentarium der Analyse gesellschaftlicher Phänomene“ (ebd.).

Im Anschluss an die grundlegende Auseinandersetzung mit den pattern variables (59-74) kommt Wernet auf die Ausdifferenzierung von Familie und Gesellschaft in der modernen Gesellschaft zu sprechen (74-85). Familie repräsentiere dabei idealtypisch einen askriptiven, affektiv-diffusen Partikularismus und stünde der universalistischen, affektiv-neutralen und spezifischen Leistungsorientierung der Gesellschaft gegenüber.

Als dritter und letzter Schritt der Theorieentfaltung wird schließlich die Institution Schule fokussiert. Wernet referiert und diskutiert Parsons´ Schulmodell (87-92). In der Argumentationsstruktur weist Schule auffällig deutlich alle o.g. Charakteristika von Gesellschaft auf. Er merkt an, „dass ein zentrales Konstruktionsprinzip dieser basalen Schultheorie darauf beruht, Schule als Gegenmodell zur Strukturlogik familialer Interaktion zu konzipieren“ (92). Schule wird zum Repräsentanten der Gesellschaft. Der m.E. neue Gedanke ist nun, dass Schule nicht als „Zwischenwelt“, als bloßer Ort der Vorbereitung auf das gesellschaftliche Muster universalistischer Leistungsorientierung betrachtet wird. Vielmehr stellt sich Schule sogar als „gesteigerter oder purifizierter Ausdruck dieses Musters“ (95) dar. „Die sozialisatorische Bedeutung der Schule ist dann darin zu sehen, die gesellschaftliche Gegenthese zur Strukturlogik familialer Interaktion in einem gesteigerten Modell der Geltung des universalistischen Leistungsmusters zu repräsentieren“ (97).

Im Lehrerberuf liege damit die Aufgabe, „dieses Muster in möglichst reiner Form wirklich werden zu lassen. Er ist kein Agent der Vermittlung […]“ (115). Erst der Versuch, zwischen den gegensinnigen Mustern, also zwischen Familie und Gesellschaft, zu vermitteln, erzeugt Widersprüchlichkeiten. Die berufliche Handlungssituation wird spannungsreich, möglicherweise sogar paradox (116). Das Gelingensmodell pädagogischer Interaktion entspricht somit der Vermeidung von Widersprüchen und nicht ihrer Vermittlung. Dies wiederum negiert die Frage nach Professionalisiertheit oder Professionalisierungsbedürftigkeit des Lehrerberufs.

Es stellt sich unweigerlich die Frage, was pädagogische Permissivität in diesem Zusammenhang bedeuten soll bzw. warum dieses Konzept ein Lösungsmodell darstellt. Die Gemeinsamkeit der von Wernet angeführten Interaktionsbeispiele liegt, wie oben bereits angedeutet, in einem Entgrenzungsproblem begründet. Mindestens ein Interaktionspartner verlässt in allen Situationen den spezifischen Handlungsrahmen, was zu einem Misslingen des pädagogischen Handelns führt bzw. gerade dieses Misslingen erst ermöglicht. Pädagogische Permissivität soll hier verstanden werden als „Modell der Vermeidung von Widersprüchlichkeiten“, das daran ausgerichtet ist, „den institutionalisierten Handlungsrahmen aufrecht zu erhalten“ (117). Es wird weiter charakterisiert als „zurückhaltendes und reduziertes Konzept der Problembearbeitung“, mehr noch als „Verzicht auf Problembearbeitung im Sinne einer partikular-diffusen, die Person des Schülers fokussierenden Intervention“ (ebd.). Damit geht es also um die (Wieder-)„Herstellung von Rollenförmigkeit angesichts eines Rollendefizits“ (158). Nicht gemeint mit pädagogischer Permissivität ist hingegen ein „pädagogisch-empathisches, wohlwollendes Gewährenlassen des Schülers“ (163). Gewährenlassen meint an dieser Stelle, dass Konflikte welcher Form auch immer und sofern sie keine spezifische Verortung aufweisen, aus dem schulisch/unterrichtlichen Handlungskontext zu verbannen sind, nicht aber bloß zu blockieren. Konkret bedeutet dies: Schüler können prinzipiell denken/sagen/machen, was sie wollen – wenn eine Verletzung des universalistischen Spezifizitätsprinzips vorliegt, dann nur eben nicht im direkten Rahmen der pädagogischen Interaktion. Eine Verlagerung der partikular-diffusen Auseinandersetzung bleibt allerdings möglich, z.B. in eine außerunterrichtliche Situation. Damit erhält das Modell pädagogischer Permissivität zusätzlich eine dynamische Komponente: „Die Gewährungslogik […] stellt keine Reduktion, keine Trübung und keine Vermittlung des universalistischen Handlungsrahmens dar. Sie macht diesen Handlungsrahmen geschmeidig. Aber diese Geschmeidigkeit lässt den unbedingten Geltungsanspruch der schulischen Bewährungslogik nur umso klarer und eindeutiger praktisch werden“ (164).

Wernet liefert hier ein theoriesprachlich fundiertes und durchaus auch (selbst-) kritisches Werk ab, dessen Stärke insbesondere in der Anwendung und Weiterentwicklung der handlungstheoretischen Begriffssystematik der pattern variables liegt. Im Fokus der kritischen Auseinandersetzung stehen dabei nicht nur Annahmen und Schlussfolgerungen der bis zu einem gewissen Grad an Popularität gewonnen habenden handlungslogisch orientierten Professionalisierungstheorien, sondern auch die eigene Position wird immer wieder und systematisch hinterfragt. Der Kritik, die dem Leser gelegentlich in den Sinn kommen könnte, wird regelmäßig vorweg gegriffen, die Trivialität mancher Überlegungen im Lichte des Professionalisierungsdiskurses eingestanden, zurechtgerückt und/oder enttrivialisiert. Einen Überblick über diesen Diskurs zu haben, ist dabei nicht unabdingbare Voraussetzung, sicherlich aber auch nicht unvorteilhaft. Ähnlich verhält es sich mit den Parsons´schen Begrifflichkeiten, wobei als Besonderheit hier hervorgehoben werden muss, dass das Verständnis der pattern variables eben nicht einfach vorausgesetzt wird, sondern die Dichotomien durch systematische Rekonstruktion und Anwendung nachvollziehbar entfaltet und teilweise weiterentwickelt werden.

Die gewählten, teils fiktiven, teils realen Interaktionsbeispiele, die insbesondere im ersten und im letzten Kapitel dargestellt und aus objektiv-hermeneutischer Sichtweise interpretiert werden, sind an dieser Stelle bewusst nicht wiedergegeben worden. Die Auswahl kann in ihrer Inhaltlichkeit und Interpretation durchaus kritisch gesehen werden. Sie erscheinen gelegentlich überinterpretiert oder aus einer doch sehr normativen Perspektive betrachtet. Zweifelsohne leisten sie aber zum Verständnis von Problem und Modellentwicklung und schließlich im Sinne einer empirischen Überprüfung des Permissivitätsmodells einen wichtigen Beitrag.
Andreas Ortenburger (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Ortenburger: Rezension von: Wernet, Andreas: Pädagogische Permissivität, Schulische Sozialisation und pädagogisches Handeln jenseits der Professionalisierungsfrage. Opladen: Leske + Budrich 2003. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/81004028.html