Sind Männer und Frauen gleichwertig, aber andersartig? Soll es unterschiedliche Bildungsangebote für Mädchen und Jungen geben? Welche pädagogischen und fachdidaktischen Konzeptionen haben Frauen entwickelt? Welche Aufgabe kommt dabei dem Religionsunterricht zu? Diese Fragen haben auch schon die Erste Frauenbewegung und die Bildungsdebatte in Kaiserreich und der Weimarer Republik beschäftigt.
Anke Edelbrock bewältigt mit ihrer Untersuchung die schwierige Aufgabe, die unterschiedlichen Diskurse zur schulischen Bildung, zum evangelischen Religionsunterricht und zur Mädchenbildung in Deutschem Kaiserreich und der Weimarer Republik aufeinander zu beziehen. In ihrer an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen vorgelegten religionspädagogischen Dissertation verfolgt sie zwei Leitfragen: „(1) Sollten die Mädchen im Kaiserreich und der Weimarer Republik einen speziell auf ihr Geschlecht zugeschnittenen evangelischen Religionsunterricht erhalten? (2) Haben sich Frauen an der Diskussion über einen geeigneten Religionsunterricht für Mädchen beteiligt und ggf. eigene religionsdidaktische Konzepte entworfen? Wie wurden darin die Mädchen berücksichtigt?“ (2)
Im ersten Hauptteil (43-152) untersucht sie die Situation von Mädchenbildung und Religion in Gesellschaft, Theologie, Schule und Religionsunterricht. Der zweite Hauptteil (153-388) widmet sich der Profession der Religionslehrerinnen und ihrer Stellung zum Mädchenreligionsunterricht. Der dritte Hauptteil (389-418) fasst die Ergebnisse bezüglich der beiden Leitfragen zusammen, um sie dann kurz in andere Bezüge, etwa der Frauenbewegung, der Schulgeschichte, der Modernisierung und des Kulturprotestantismus zu stellen. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister beschließen den Band.
Da Quellen, die die tatsächliche Praxis des Religionsunterrichts widerspiegeln (z.B. Unterrichtstranskripte), nicht zur Verfügung stehen, stützt sich Edelbrock auf staatliche Erlasse, d.h. Lehrpläne und ihre Vorgaben, und damit auf einen von Staat und Kirche „akzeptierten Konsens“ bzgl. des evangelischen Religionsunterrichts. Zur Frage der spezifischen Inhalte für Mädchen untersucht sie Verbandsorgane und Tagungsdokumentationen von Lehrerinnenvereinen, zeitgenössische religionspädagogische Zeitschriften sowie ausgewählte Veröffentlichungen von Protagonistinnen. Die Untersuchung verarbeitet eine enorme Fülle an Quellen und Literatur und ist dadurch eine Fundgrube für historisch Interessierte. Um der durch den Detailreichtum drohenden Unübersichtlichkeit entgegenzuwirken, bietet die Autorin immer wieder strukturierende Einleitungsabschnitte und Zusammenfassungen. Diese eignen sich auch für einen schnellen Überblick.
In der Einleitung werden Forschungsstand, Ziele und Gegenstand, Vorgehensweise wie Methode, Grenzen und Aufbau der Untersuchung skizziert. Der Forschungsstand wird in drei Richtungen ausgelotet: a) Religionspädagogische Forschung zur Geschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, b) Religionspädagogische Forschung zu Mädchenbildung und Religion, c) Allgemeinpädagogische Forschung zur Geschichte der Mädchenbildung. Dabei wird deutlich, dass die religionspädagogische Forschung der Mädchenbildung bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat, die Erziehungswissenschaft bzw. die historische Bildungsforschung die Bedeutung der Religion weitgehend ausblendet.
Im ersten Hauptteil zur Frage nach einem besonderen evangelischen Religionsunterricht für Mädchen betrachtet die Autorin zunächst Zuordnungsverhältnisse zwischen den Bereichen Erziehung/Bildung, Religion/Christentum und Mädchen/Frau in Gesellschaft und Theologie. Das zweite Kapitel fragt nach der Entwicklung der Bildungsbeteiligung von Mädchen an Volksschulen und Höheren Schulen im 19. und frühen 20. Jahrhundert und stellt die Diskussion über die Bildungsziele des höheren Mädchenschulwesens unter besonderer Berücksichtigung religiöser Bildung und des Religionsunterrichts dar. Das dritte Kapitel widmet sich der Stellung des evangelischen Religionsunterrichts in verschiedenen Schulformen, seinen Inhalten und Zielen auf der Basis staatlicher Erlasse.
Es wird deutlich, dass Religion im bürgerlichen Bildungsdiskurs eine zentrale Rolle spielte. Einerseits speiste sich aus ihr die Motivation vieler in der Bildung engagierter Frauen. Andererseits sprach man Mädchen/Frauen eine tiefergehende Religiosität zu als Jungen. Die besondere weibliche religiöse Eigenart sollte Niederschlag auch in schulischen Angeboten, insbesondere im Religionsunterricht, finden. In der Volksschule hatte der Religionsunterricht einen Anteil von 10-20 %, in der Weimarer Republik nahm dieser ab, zeigte aber keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Je höher die Schulstufe, desto geringer wurde der prozentuale Anteil des Religionsunterrichts, desto größer wurde aber auch der Geschlechterunterschied zugunsten eines umfangreicheren Angebots für Mädchen. Nach der Reform des höheren Schulwesens 1924/25 glichen sich die Zahlen zum Religionsunterricht an. Die ersten staatlichen Richtlinien für das höhere Schulwesen 1925 bestätigten allerdings den Mädchen ein besonderes Interesse an sittlichen, religiösen und ästhetischen Fragen (115). Je dezidierter die besondere Eigenart der Mädchen betont wurde, desto höher lag der Anteil des Faches. Dies galt insbesondere für das Oberlyzeum, das eine der weiblichen Eigenart entsprechende Erziehung anbieten sollte (z.B. 114).
Wie schlug sich diese Präferenz in den Inhalten des Faches nieder? Die Lehrpläne des Religionsunterrichts greifen diese Debatte im höheren Schulwesen erst in der Weimarer Zeit auf. Während im Kaiserreich nicht einmal die allgemeinen Aussagen über Religion und Geschlecht reflektiert sind, weisen die Bestimmungen der Weimarer Republik spezielle Ziele und Themen aus, die sich an den bürgerlichen Geschlechterrollen, etwa der liebenden Frau, orientieren. Eine hervorragende Stellung nimmt dabei die Orientierung an weiblichen bzw. männlichen Gestalten der Kirchengeschichte ein.
Im zweiten Hauptteil zur Frage nach der Beteiligung von Frauen und ihren didaktischen Konzeptionen konzentriert sich die Autorin nach einem Überblick zum Forschungsstand hinsichtlich der (Religions-)Lehrerinnenvereine auf drei ausgewählte Lehrerinnenvereine: den »Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein« (ADLV), die »Konferenz von Religionslehrerinnen«, später »Verband evangelischer Religionslehrerinnen« und den »Verein für religiöse Erziehung«, der später mit dem »Bund für Reform des Religionsunterrichts« zum »Bund für Religionsunterricht und religiöse Erziehung« fusionierte. Die Vereine mit ihren Zielen und Arbeitsweisen werden im Überblick dargestellt, die Diskussionen zum Religionsunterricht skizziert, die Beurteilung der staatlichen Erlasse zu dem Fach durch die Lehrerinnen des Vereins zusammengefasst und schließlich zentrale fachdidaktische Konzeptionen erläutert, insbesondere bezogen auf Mädchenbildung anhand der Konzepte einzelner Protagonistinnen. Dabei stehen – in der Reihenfolge der Vereine – Gertrud Bäumer (1873-1954), spätere Ministerialrätin im Reichsinnenministerium, Magdalene von Tiling (1877-1974), langjährige erste Vorsitzende, sowie Ada Weinel und Carola Barth (1879-1959) als Vorstandsmitglieder im Zentrum.
Deutlich wird die Vielfalt der Positionen sowohl zwischen als auch innerhalb der Vereine. Die Positionen variierten dabei je nach der Gewichtung politischer, theologisch/kirchlicher, pädagogischer, professions- und geschlechtsbezogener Einschätzungen. Zwar verfolgten alle Verbände das Ziel, die Stellung der Lehrerinnen zu verbessern und ihren Forderungen mehr Gehör zu verschaffen, doch stand etwa für die „Konferenz von Religionslehrerinnen“ das Bewusstsein, Bibel und Bekenntnis zu vertreten, mehr im Vordergrund „als der Gedanke, sich als Frauen zusammengeschlossen zu haben“ (289). Konsequent erfolgte auch eine Auseinandersetzung mit geschlechterdifferenten Inhalten des Religionsunterrichts erst, als dies von der Weimarer Schulpolitik gefordert wurde.
Deutlich wird auch, dass der Blick der verschiedenen Vereine auf evangelische Religion und den entsprechenden Religionsunterricht keineswegs eine einheitliche politische, geschlechtsbezogene oder pädagogische Sichtweise mit sich brachte, sondern dass eine große Bandbreite von Positionen zu finden war. Entscheidenden Einfluss hatte dabei z.B. die Gründungsmotivation des jeweiligen Vereins (382f.). Wenn auch die Idee der Gleichwertigkeit, aber Andersartigkeit von Frau und Mann in allen Vereinen durchgängig vorhanden war, zeigen sich doch Unterschiede. So begrüßte bspw. der ADLV die Bestrebungen der Weimarer Schulpolitik einer Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen, vertrat aber doch unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich einer besonderen Erziehung zu Frau und Mann. Emmy Beckmann befürwortete sie, Gertrud Bäumer lehnte sie ab (384). Der Verband ev. Religionslehrerinnen trat für eine eindeutig geschlechterdifferente Erziehung und gegen die Koedukation ein. Zu diesem Zwecke gab M. v. Tiling Bücher mit weiblichen Vorbildern für Mädchen heraus. Der Verein für religiöse Erziehung setzte sich für eine Gleichbehandlung ein, betonte aber die wichtige Rolle der Lehrerinnen in der Erziehung.
Auf der Basis dieser Untersuchung können nun weitere Forschungen erfolgen. Im Anschluss etwa an Juliane Jacobi stellt Edelbrock die Frage, ob bestimmte Argumentationen lediglich aus strategischen Gründen verwendet wurden, wenn etwa immer wieder die wichtige Rolle von weiblichen Lehrkräften für Schülerinnen betont und damit die Professionalisierung der Lehrerinnen gestützt wurde. Hier wäre eine weitere Analyse der Debatten sicher aufschlussreich. So könnten vielleicht private Briefe der Protagonistinnen Licht in eine mögliche Ambivalenz der verwendeten Diskurse bringen. Gefragt werden könnte auch nach der Ambivalenz von Religion und Religionsunterricht für die bürgerliche Mädchenerziehung, etwa im Kontrast zur „proletarischen Frauenbewegung“.
Mit ihrer soliden quellengestützten Arbeit vertieft Edelbrock – neben den Ergebnissen zum evangelischen Religionsunterricht in Kaiserreich und Weimarer Republik – vor allem zwei bisher unterbelichtete Perspektiven: In der historischen Bildungsforschung unterstreicht sie mit ihren Ergebnissen die zentrale Bedeutung von Religion im Bildungsdiskurs, insbesondere hinsichtlich der religiösen Erziehung von Mädchen in der Schule. Für die Religionspädagogik entfaltet sie die Bedeutung der Geschlechterdifferenz und der (religiösen) Mädchenbildung und stellt somit einen durchaus weiterführenden Beitrag für die Diskussion der Entwicklung von religionspädagogischer Mädchenbildung dar.
EWR 7 (2008), Nr. 4 (Juli/August)
Mädchenbildung und Religion in Kaiserreich und Weimarer Republik
Eine Untersuchung zum evangelischen Religionsunterricht und zur Vereinsarbeit der Religionslehrerinnen
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgemeinschaft 2006
(490 S.; ISBN 3-7887-2152-9; 39,90 EUR)
Annebelle Pithan (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Annebelle Pithan: Rezension von: Edelbrock, Anke: Mädchenbildung und Religion in Kaiserreich und Weimarer Republik, Eine Untersuchung zum evangelischenReligionsunterricht und zur Vereinsarbeit der Religionslehrerinnen. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgemeinschaft 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 4 (Veröffentlicht am 06.08.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78872152.html
Annebelle Pithan: Rezension von: Edelbrock, Anke: Mädchenbildung und Religion in Kaiserreich und Weimarer Republik, Eine Untersuchung zum evangelischenReligionsunterricht und zur Vereinsarbeit der Religionslehrerinnen. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgemeinschaft 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 4 (Veröffentlicht am 06.08.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78872152.html