EWR 3 (2004), Nr. 6 (November/Dezember 2004)

Eva Matthes / Caroline Hopf
Helene Lange und Gertrud BĂ€umer
Ihr Beitrag zum Erziehungs- und Bildungsdiskurs vom Wilhelminischen Kaiserreich bis in die NS-Zeit. Kommentierte Texte
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003
(257 Seiten; ISBN 3-7815-1275-4; 19,50 )
Helene Lange und Gertrud BĂ€umer Die Herausgeberinnen Eva Matthes und Caroline Hopf versammeln in diesem Band Texte von Helene Lange und Gertrud BĂ€umer, die sich in diesem Fall einmal nicht in erster Linie auf Fragen der MĂ€dchen- und Frauenbildung beziehen, sondern vielmehr die Position der beiden Vertreterinnen der bĂŒrgerlichen Frauenbewegung im allgemeinen bildungstheoretischen Diskurs ihrer Zeit deutlich werden lassen sollen. Insofern verstehen die Herausgeberinnen diesen Band als Fortsetzung und Kontextualisierung ihrer bereits frĂŒher erschienenen kommentierten Sammlung von Texten der beiden Autorinnen zur MĂ€dchen- und Frauenbildung [1].

Die Quellentexte sind zu vier thematischen Schwerpunkten vereinigt worden, die jeweils zusammen mit einer einleitenden Kommentierung und einer kurzen Auswahlbibliographie ein eigenes Kapitel bilden. Die Literaturhinweise enthalten sowohl weitere Quellentexte aus dem thematischen Umfeld als auch - ĂŒberwiegend erziehungshistorische - SekundĂ€rliteratur. FĂŒr die beiden ersten Abschnitte zur "Erziehungs- und Bildungstheorie" und zur "Schultheorie und Schulpolitik" hat Eva Matthes die Kommentierung ĂŒbernommen, fĂŒr die beiden Abschnitte zu den "Reflexionen zu Jugend und Jugendbewegung" und ĂŒber die "SozialpĂ€dagogische Theorie" stammt diese von Caroline Hopf. Dabei nehmen die beiden erstgenannten Themenbereiche etwa drei Viertel des Bandes ein, allein der Abschnitt zur Schultheorie und -politik umfasst rund einhundert Seiten.

Die sieben Texte zur "Erziehungs- und Bildungstheorie" zeigen Helene Langes Betonung einer Erziehung zu Gemeinsinn und sozialer Verantwortung sowie Gertrud BĂ€umers Auseinandersetzung mit dem Entwurf Ellen Keys und anderen Elementen der ReformpĂ€dagogik im Hinblick auf die Frage nach dem Stellenwert des Individualismus in der Erziehung. Interessant sind auch die Überlegungen BĂ€umers von 1930 zur Gestalt und Rolle des FĂŒhrers in der Erziehung in Auseinandersetzung mit Theodor Litts Position der Ablehnung solchen FĂŒhrertums.

Mit seinen 14 Texten dominiert der Abschnitt zur "Schultheorie und Schulpolitik". Nur drei davon stammen von Helene Lange, die sich vehement gegen den Gesinnungszwang des Herbartschen Formalstufenunterrichts ausspricht. Weiter ist ihr Bericht von der Reichsschulkonferenz von 1920 enthalten sowie ein Text zur Reform des deutschen höheren Schulwesens, in dem sie fĂŒr die Herstellung klarer Bildungstypen mit eindeutiger inhaltlicher Ausrichtung plĂ€diert. BĂ€umer bezieht zur Frage nach der Gemeinschafts- oder Konfessionsschule auf der Grundschulebene eindeutig fĂŒr die Gemeinschaftsschule Position – und zwar interessanterweise mit einer religiösen BegrĂŒndung. Weitere Texte behandeln das VerhĂ€ltnis von Schule und Elternrecht und den Entwurf des Reichsschulgesetzes von 1927. Die beiden nach der nationalsozialistischen MachtĂŒbernahme erschienenen Texte zur Grundschulreform von 1936 problematisieren den Verlust der weltanschaulichen NeutralitĂ€t des Staates, zeigen sich aber mit der Festlegung der Grundschulzeit auf vier Jahre und der Schließung der verbliebenen privaten Vorschulen einverstanden.

BĂ€umers Texte zur Neuordnung des höheren Schulwesens von 1924 und 1938 sprechen sich ebenfalls fĂŒr ein System klar zugeschnittener Bildungstypen aus, wobei sie aber der Reduktion der Gymnasien und den EinschrĂ€nkungen in der MĂ€dchenbildung, die die nationalsozialistische Neuordnung mit sich bringt, mit Skepsis begegnet. Drei weitere Texte behandeln die schulische Aufgabe der Selektion fĂŒr den Hochschulbereich sowie die Problematik des Übergangs in das BeschĂ€ftigungssystem. Dem ÜberfĂŒllungsproblem der Hochschulen möchte sie durch BeschrĂ€nkung der Oberstufe auf die Hochschulvorbereitung und ergĂ€nzende EinfĂŒhrung eines mittleren Schulwesens fĂŒr den Zugang zu den mittleren Berufen begegnet wissen.

Der Abschnitt ĂŒber Jugend und Jugendbewegung enthĂ€lt fĂŒnf Texte von Gertrud BĂ€umer aus den Jahren 1914 bis 1926, die ihr Interesse und ihre Aufgeschlossenheit der Jugendbewegung gegenĂŒber zeigen, aber auch ihre kritische Distanz. So bemĂ€ngelt sie etwa die fehlende Zukunftsperspektive und mahnt die Umsetzung der neuen Ideen auf gesellschaftlicher Ebene zumindest als Zielvorstellung an.

Den Abschluss bildet das Kapitel zur sozialpĂ€dagogischen Theorie mit drei Texten von Gertrud BĂ€umer und einem von Helene Lange. Letztere behandelt in ihrem Beitrag von 1919/20 das VerhĂ€ltnis von Familie, Gesellschaft und Kind, wobei sie die Familienerziehung als vorrangig ansieht und die Aufgabe des Staates im außerschulischen Bereich in der UnterstĂŒtzung der Familien sieht. Die Texte BĂ€umers stammen aus den Jahren 1921/22 bis 1931. Sie wĂŒrdigt die Bedeutung des gerade verabschiedeten Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, das den Bereich der Jugendwohlfahrt systematisiert und als zweites großes System der ErziehungsfĂŒrsorge neben die Schule stellt. Der Text ĂŒber "Wesen und Aufbau der öffentlichen ErziehungsfĂŒrsorge" umreißt erneut das VerhĂ€ltnis von Familie, Schule und der neuen SozialpĂ€dagogik und enthĂ€lt deren auch heute oft zitierte Definition als "alles was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist". Der letzte Beitrag betont den eigenstĂ€ndigen erzieherischen Auftrag der Jugendwohlfahrtspflege als wichtige gesellschaftliche Aufgabe gegenĂŒber einer Sichtweise, die ihren Charakter als reine Nothilfe bei Versagen der Familie in den Vordergrund stellt.

Insgesamt leistet der Band durchaus einen wichtigen Beitrag zur Einordnung der beiden Autorinnen in den Kontext der pĂ€dagogischen Debatte, weg von der isolierten Behandlung als Verfechterinnen der Frauen- und MĂ€dchenbildung. Der Anspruch, diese ForschungslĂŒcke tatsĂ€chlich schließen zu wollen, erscheint aber fĂŒr eine Textsammlung vielleicht doch etwas hoch. Er setzt zudem sehr informierte Leserinnen und Leser voraus, die in den Texten und Kommentierungen nicht Gesagtes ergĂ€nzen können. Dem zweiten Anspruch, als Grundlage fĂŒr die Arbeit mit Studierenden dienen zu können, wird der Band jedoch durch den kapitelweisen Aufbau mit jeweils einfĂŒhrender Kommentierung und Literaturhinweisen in vollem Umfang gerecht.

[1] Eva Matthes/Caroline Hopf: Helene Lange und Gertrud BĂ€umer. Ihr Engagement fĂŒr Frauen- und MĂ€dchenbildung. Kommentierte Texte. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2001.
Stefanie Leßmann (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefanie Leßmann: Rezension von: Matthes, Eva / Hopf, Caroline: Helene Lange und Gertrud BĂ€umer, Ihr Beitrag zum Erziehungs- und Bildungsdiskurs vom Wilhelminischen Kaiserreich bis in die NS-Zeit. Kommentierte Texte, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 6 (Veröffentlicht am 30.11.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151275.html