Allerorts in den erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen und Instituten wird bzw. wurde gerade im Zuge von Studienreformen (Stichworte: Kerncurriculum, Modularisierung, BA / MA-Studium) darum gerungen, was zum disziplinären Selbstverständnis gehört und was nicht. In diesen Zeiten zu den zahlreichen Beiträgen zur Strukturdiskussionen gegenwärtiger Erziehungswissenschaft noch einen weiteren hinzuzufügen, ist undankbar. Aber Scheu und Befangenheit angesichts der Unmenge an Argumentationen und dazu gehörender Literatur, die diesbezüglich "bewegt" werden muss, ist nicht Sache des Autors.
Jürgen Osterlohs Anliegen ist es, in Auseinandersetzung mit Wilhelm Flitners Werk mit Hilfe des Begriffes der pädagogischen Verantwortung den disziplinären Kern der Erziehungswissenschaft zu bestimmen. Die derzeitigen Kontroversen im Zusammenhang mit erziehungswissenschaftlichen Strukturdiskussionen zeigen an, dass hier kein einfacher Fingerzeig genügt, um eine Relektüre von Flitners Werken für ein Standortbestimmung der derzeitigen Erziehungswissenschaft für zwingend erforderlich zu halten. Der Autor weiß allerdings um die Differenzen zwischen einer geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik als "réflexion engagée", zu deren Protagonisten Wilhelm Flitner gehörte, und einer sich mehrheitlich sozialwissenschaftlich verstehenden Pädagogik, deren Vertreter viel Wert darauf legen, zu betonen, dass die Erziehungswissenschaft eine moderne Wissenschaft sei wie jede andere auch. Es zeugt von "riskantem Denken" im positiven Sinne, die Maschen zwischen diesen unterschiedlichen Perspektiven enger ziehen zu wollen.
Die Habilitationsschrift von Osterloh ist in drei große Kapitel unterteilt: Zunächst geht es im ersten Kapitel um die Rekonstruktion von Wilhelm Flitners pädagogischer Systematik. Sodann wird im zweiten Kapitel der für die vorliegende Arbeit zentrale Begriff der pädagogischen Verantwortung analysiert und ein Modell pädagogischer Verantwortung entwickelt. Das dritte Kapitel dient schließlich dazu, das Modell pädagogischer Verantwortung zur näheren Bestimmung des Kerns disziplinärer Identität zu verwenden. Bevor Osterloh sich jedoch der Bestimmung des Flitnerschen erziehungswissenschaftlichen Selbstverständnisses zuwendet, widmet er sich in einem ausführlichen einleitenden Kapitel der Strukturdiskussion gegenwärtiger Erziehungswissenschaft und erst in einem weiteren Kapitel der Fragestellung.
In dem einleitenden Kapitel zur Strukturdiskussion konstatiert der Autor einen Verlust an disziplinärer Identität. Als Gründe für diesen Zustand nennt er den Entwurfscharakter der Erziehungswissenschaft, die starke subdisziplinäre Ausdifferenzierung und die damit zusammenhängende Verselbstständigung der Subdisziplinen, so dass es bisweilen unmöglich erscheine, einen gemeinsamen Referenzpunkt zu finden. Neben der Uneinheitlichkeit ihrer vielfältigen theoretischen Orientierungen seit den 1970er und anfänglichen 80er Jahre bestünden inzwischen auch noch Irritationen über die praxisbezogene Zuständigkeit der Erziehungswissenschaft. Das heißt, es sei unklar, für welche gesellschaftlichen Handlungsfelder die Erziehungswissenschaft zuständig sein solle und könne. Zwar akzeptiere die Erziehungswissenschaft die Pluralität ihrer Ansätze, aber es bleibe ungeklärt, worin der Zusammenhang im Spiel erziehungswissenschaftlicher Ansätze bestünde. Im Anschluss an diese disziplinäre Situationsbeschreibung benennt Osterloh zwei Aspekte, die zu beachten, der erziehungswissenschaftlichen Strukturdiskussion gut täten: Zum einen sei positionsübergreifendes Denken quer zu den Positionen der Erziehungswissenschaft nötig und zum anderen fehle bisher die Betonung von systematischem und (sprach-)analytischem Denken. Methodisch lässt sich Osterloh von diesen beiden Aspekten im weiteren Gang seiner Studie leiten, obgleich er dies nur in geringem Ausmaß verdeutlicht.
Die Entscheidung des Autors, noch vor der Explikation der Fragestellung die Einleitung für einen Überblick der Strukturdiskussion gegenwärtiger Erziehungswissenschaft zu nutzen, geht gleich zu Beginn für den Leser mit einem geringen "Tempoverlust" einher. Nach der Ausdifferenzierung des Erkenntnisinteresses beschleunigt sich dann jedoch das Tempo der Arbeit – die leitende Fragestellung lautet konkret formuliert: Ist eine Identitätsfindung der Erziehungswissenschaft über Wilhelm Flitners Ethos pädagogischer Verantwortung möglich?
Anhand einer plausiblen und auch einer zeitlich aufgefächerten Auswahl aus dem umfangreichen Œuvre Wilhelm Flitners präpariert der Autor Schritt für Schritt das von dem geisteswissenschaftlichen Pädagogen vertretene pädagogische Verantwortungsethos und die damit verbundene Bestimmung des seinerzeitigen Selbstverständnisses der Erziehungswissenschaft heraus: Aus den zu den "Klassikern der Pädagogik" gezählten Texten Flitners gehe hervor, dass er von der praktischen Erziehungsaufgabe und –tätigkeit auf die Erziehungswissenschaft blicke. Das damit verbundene – auch christlich-religiös eingefärbte - Denken vom Standort des verantwortlichen Erziehers aus verweise auf den Typus einer hermeneutisch-pragmatischen Berufswissenschaft, zu dem neben der Erziehungswissenschaft z.B. auch noch die Theologie und Jurisprudenz gehören. Charakteristisch für diese Berufswissenschaft sei das "Verantwortungsethos eines geistig gebildeten Amtes für ein allgemeines, öffentliches, mitmenschliches Interesse". Osterlohs rekonstruktiver Durchgang durch das Werk Flitners verdeutlicht streckenweise aber auch, dass viele Gedanken, die in zeitgenössischen pädagogischen Diskussionen als aktuell gelten, in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Flitnerscher Prägung schon vorformuliert waren. So heißt es bei Flitner, dass Erziehung nicht idealistisch sein dürfe, sondern ihr Ziel darin liege, dass sich der wachsende Mensch selbst zu helfen wisse. Oder an anderer Stelle gilt für Flitner, dass man sich von der Vorstellung lösen müsse, bei der Erziehung handele es sich um ein Gestalten des jungen Menschen nach einem geplanten Modell mit rational überschaubaren Mitteln. Vielmehr sei Erziehung keine berechenbare Technik, sondern "schöpferische Kunst", und stets unterwerfe sich der Erzieher der Ungewissheit des Erziehungserfolgs. Mit dem Flitnerschen Bild des Erziehers als partnerschaftlichen Wegbereiters, für den die personale Freiheit des Edukanden als unantastbar gelte, bejaht Osterloh die sich selbst gestellte Frage, ob "uns" Flitner im Horizont der Frage nach erziehungswissenschaftlicher Identität noch etwas zu sagen habe.
Ist Flitners Werk durch diese Rekonstruktionsarbeit erkennbar sakrosankt für die heutige Erziehungswissenschaft geworden? Mitnichten. Ohne Zweifel zu retuschieren und mit Akribie macht sich der Autor selbst an die Arbeit, kritische Stimmen zu Flitners erziehungswissenschaftlichen Auffassungen zu referieren. Während im ersten Teil jeweils die Argumente einer empirisch und einer kritisch sich verstehenden Erziehungswissenschaft schon ansatzweise gegen die geisteswissenschaftliche Pädagogik aufgeführt werden, wird im zweiten Teil der Arbeit die Kritik konkretisiert: Der Begriff der pädagogischen Verantwortung wird sprachanalytisch regelrecht "aufgeschlossen". So offenbart sich auch, dass geisteswissenschaftliche Pädagogen ihn gebrauchen, ohne die (diffuse) Gesamtheit der Konnotationen aufzulösen. Angefangen mit dem Einwand, dass der geisteswissenschaftlichen Konzeption der pädagogischen Verantwortung die logisch gebotene Trennung von Sach- und Wertaussagen fehle, bis hin zur Anmerkung, dass der Verantwortungsdiskurs sich der "Qualifizierung nach beweisfähigen Zuschreibungen" zu entziehen versuche, reicht das Spektrum der vorgestellten und in die Auseinandersetzung integrierten Kritik. Auf dieser Grundlage gelingt es dem Autor überzeugend nachzuweisen, dass die geisteswissenschaftlich geprägte Vorstellung von pädagogischer Verantwortung definitorisch, ethisch und teilweise erkenntnislogisch benutzt wird.
Die unzulässige Vermischung verschiedener Gebrauchsweisen eines Begriffs zum Anlass nehmend, entwickelt Osterloh selbst ein Modell pädagogischer Verantwortung. In einem aufwendigen Argumentationsverfahren mit Seitenblicken auf klassische und nicht-klassische Verantwortungskonstruktionen gelangt Osterloh anstelle eines Verantwortungsgedanken mit christlich-religiösen Implikationen zu einem rational-ethischen Verantwortungsmodell. Dieses Modell – auf dem Fairness- und Solidaritätsprinzip fußend – lässt sich auf die Formel der "individualen Hilfe bei der Entwicklung von Identität und Lebensfähigkeit" bringen. Eine solche Verantwortungsauffassung gelte, weil vernunftethisch plausibilisiert, universell. Die Formel mit dem "Fürsorge-Gedanken" lasse sich sowohl auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene als auch auf alle Kulturen beziehen, begründet Osterloh abschließend im zweiten Teil der Arbeit. Allerdings wirkt das von Osterloh modellierte Konstrukt einer rational-ethischen Verantwortung der Pädagogik an einigen Stellen etwas artifiziell und baukastenartig. Dessen ungeachtet ist das Vermögen des Autors hervorzuheben, erziehungswissenschaftlich relevante Argumente zu entfalten und wieder zu bündeln.
Im dritten Teil der Arbeit holt der Autor zum letzten großen Argumentationsschritt aus. Kann es analog zur individualen Fürsorge-Verantwortung für die pädagogische Praxis auch eine besondere Fürsorge-Verantwortung für die Erziehungswissenschaft im Sinne einer Metaverantwortung geben? Diese Metaverantwortung als Bestimmungsgröße des disziplinären Identitätskerns könne eventuell sich auf theoretische Konzeptionen oder praxisbezogene Wissenseruierung und Wissenstransfer beziehen. Nicht als Imperativ, sondern "lediglich" als Diskussionsvorschlag verstanden, sieht Osterloh für die Disziplin die Möglichkeit, sich ethisch zu verankern: nämlich am Standort pädagogischer Verantwortung. Da diese normierende Auffassung keine theoretische Position, keine geistesgeschichtliche Tradition oder methodologische Ausrichtung bestimme, könne für ein derartiges disziplinäres Verständnis das Leitbild der "verantwortungsverankerten Erziehungswissenschaft der Normativität und Pluralität" angemessen sein.
Insgesamt führt Osterlohs Studie zu der Einsicht, dass Wilhelm Flitners Vorstellungen für eine Beantwortung der Frage nach erziehungswissenschaftlicher Identität nur eingeschränkt weiterhelfen. Weder Flitners christlich-religiösen Erziehungsbilder und –ziele noch seine Auffassung einer hermeneutisch-pragmatischen Erziehungswissenschaft wären in der heutigen Strukturdiskussion überzeugend oder gar mehrheitsfähig. Hier liefert der Autor einen wichtigen Erkenntnisgewinn. Aktuell bleiben Flitners Überlegungen dort, wo Verantwortung – die bei ihm stets ein umwölkter Begriff blieb – für die Bestimmung des spezifisch Pädagogischen eine zentrale Rolle spielt.
Die Lektüre lohnt – nicht zuletzt, weil sie neue (teilweise auch im Sinne von wieder vergessene) Perspektiven auf die gegenwärtige Strukturdiskussion der Erziehungswissenschaft eröffnet. Wer diese Strukturdiskussion führen will, der kommt an vielen in diesem Buch aufgeführten Argumentationen nicht vorbei.
EWR 2 (2003), Nr. 2 (März/April 2003)
Identität der Erziehungswissenschaft und pädagogische Verantwortung
Ein Beitrag zur Strukturdiskussion gegenwärtiger Erziehungswissenschaft in Auseinandersetzung mit Wilhelm Flitner
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002
(299 Seiten; ISBN 3-7815-1248-7; 29,80 EUR)
Andreas Hoffmann (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Hoffmann: Rezension von: Osterloh, Jürgen: Identität der Erziehungswissenschaft und pädagogische Verantwortung, Ein Beitrag zur Strukturdiskussion gegenwärtiger Erziehungswissenschaft in Auseinandersetzung mit Wilhelm Flitner, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151248.html
Andreas Hoffmann: Rezension von: Osterloh, Jürgen: Identität der Erziehungswissenschaft und pädagogische Verantwortung, Ein Beitrag zur Strukturdiskussion gegenwärtiger Erziehungswissenschaft in Auseinandersetzung mit Wilhelm Flitner, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/78151248.html