Die vorliegende Studie, mit der Sandra Donner 2004 an der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Hannover promoviert wurde, nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand in vier Kapiteln an. Nach der Einleitung (Kap. I) resümiert die Autorin in Kap. II den Diskurs des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts zur Mädchen- und Frauenbildung (II.1.), referiert die wichtigsten Entwicklungsschritte des preußischen höheren Mädchenschulwesens (II.2.), des Lehrerinnenbildungswesens (II.3.) und erörtert die Bedeutung der bürgerlichen Frauenbewegung als „Wegbereiter“ (!) der höheren Mädchen- und Frauenbildung. Die Kap. III und IV bilden das eigentliche Herzstück der vorliegenden Untersuchung, die dem Leben und Wirken zweier Pädagoginnen im Herzogtum Braunschweig gewidmet ist. Die Biographien der Protagonistinnen – Henriette Schrader-Breymann und Anna Vorwerk – werden in den Kapiteln III.1. und III.2. vorgestellt, ihre Bildungskonzeptionen in III.3.
Kapitel IV thematisiert die institutionelle Entwicklung der Schlossanstalten Wolfenbüttel, der Einrichtung, in der beide Pädagoginnen zunächst aktiv waren. Nach dem Zerwürfnis über unterschiedliche Bildungskonzeptionen und die weitere institutionelle Ausrichtung der Anstalten trennte sich 1870 der Lebens- und Berufsweg der Frauen. Henriette Schrader-Breymann zog mit ihrem Mann nach Berlin, setzte dort ihre Bildungsvorstellungen im neu gegründeten Pestalozzi-Fröbel-Haus um und gehört damit zu den Pionierinnen der Kindergärtnerinnenausbildung in Deutschland. Ihr Leben und Werk ist ansatzweise gut erforscht, zuletzt durch die Biographie, die Elisabeth Moltmann-Wendel vorgelegt hat [1]. Anna Vorwerk, die bislang weniger im Rampenlicht bildungshistorischer Forschung gestanden hat, übernahm als private Unternehmerin die Wolfenbütteler Schlossanstalten und baute diese zielstrebig und unter hohem Einsatz ihres privaten Vermögens zu einer höheren Mädchenschule mit einem angeschlossenen Lehrerinnenseminar und einer Kindergärtnerinnenausbildungsstätte aus.
Anspruch auf Originalität können eigentlich nur die beiden letzten lokalgeschichtlich angelegten Teile der Studie über das Wolfenbütteler Engagement Schrader-Breymanns und Vorwerks erheben. Die vorangestellten Kapitel bieten bildungshistorisch informierten Leserinnen und Lesern wenig Neues. Der aktuelle Forschungsstand zur Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland wird damit nicht eingeholt. Im Gegenteil: Wegweisende Studien der bildungshistorischen Frauen- und Geschlechterforschung der letzten fünfzehn Jahren sind von der Autorin nicht zur Kenntnis genommen worden. Ihre Rousseau-Interpretation (31f.) kommt ohne die Monographien von Christine Garbe und Heide von Felden aus, desgleichen fehlt in den Ausführungen zu Campe (34) Christa Kerstings „Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert“. Caroline Rudolphi und Betty Gleim werden flugs zu „Schülerinnen“ Pestalozzis erklärt (40), wobei die Autorin im Wesentlichen den 1996 erschienenen Artikel von Martina Käthner/Elke Kleinau über „Höhere Töchterschulen um 1800“ im Handbuch zur „Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung“ paraphrasiert, nicht aber den neueren, aus dem Jahr 2000 stammenden Aufsatz in „Tugend, Vernunft und Gefühl“ heranzieht. Zur Geschlechtertrennung im Elementarschulwesen müssten die Studien von Sylvina Zander und Monika Fiegert ausgewertet werden, zur Institutionalisierung und Normierung des höheren Mädchenschulwesens die Untersuchungen von Martina Käthner, Elke Kleinau, zur Lehrerinnenbildung die von Karin Ehrich, Barbara Stolze und Claudia Huerkamp. Über bürgerliche Frauenvereine informiert die Monographie von Brigitte Kerchner. Die Liste der nicht berücksichtigten Arbeiten ließe sich beliebig fortsetzen [2].
Die Einleitung krankt daran, dass die Autorin keine klar benannte Fragestellung verfolgt. Dort heißt es: „Die höhere Mädchen- und Frauenbildung ist ein Spiegelbild gesellschaftlicher Prozesse, in denen sich die Situation der Frau grundlegend veränderte. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch diese Wandlungen im 19. Jahrhundert nachzuzeichnen“ (12). Das sieht zunächst nach einem rein deskriptiven Vorgehen aus. Im weiteren Verlauf der Arbeit kann sich Sandra Donner allerdings nicht zwischen zwei diametral unterschiedlichen Sichtweisen auf den Institutionalisierungsprozess des höheren Mädchenschulwesens entscheiden. Im ersten Teil der Arbeit vertritt sie die These, das Bildungsniveau vieler Institute sei ausgesprochen niedrig gewesen „und die dort vermittelte Bildung sehr einseitig“ (55). Auch wenn sie dann im Folgenden festhält, dass ohne die privaten Bildungsinitiativen von Frauen gar keine Entwicklung im höheren Mädchenschulwesen stattgefunden hätte, sitzt sie damit einer Interpretation auf, die von Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorgegeben wurde und die ihre bildungspolitischen Vorstellungen zur Reform des höheren Mädchenschulwesens legitimieren sollte. Sandra Donner erkennt nicht, dass hier ein Topos bemüht wurde, der die Bedeutsamkeit der eigenen bildungstheoretischen und bildungspolitischen Leistung hervorheben sollte.
Die These vom mangelnden intellektuellen Niveau der höheren Mädchenschulen wird von der Autorin etliche Seiten später wiederholt, jedoch dahingehend ergänzt, dass diese privaten Schulen auch die Chance geboten hätten, „einen eigenen Weg zu gehen und nicht dem herrschenden Bildungsziel der Ehefrau und Mutter zu folgen. Engagierte Lehrerinnen und Schulleiterinnen leisteten durchaus auch qualifizierte Bildungsarbeit, die sich an den Inhalten gymnasialer Knabenbildung orientierte. Solange nämlich der Staat so wenige Vorgaben erließ, war das Mädchenschulwesen offen für alle Entwicklungen. Erst mit der zunehmenden Reglementierung der Schulen wurde endgültig ein Bildungskanon für Mädchen etabliert, der sich ausschließlich auf die Bildung einer zukünftigen Ehefrau und Mutter konzentrierte“ (84). Die Orientierung am gymnasialen Fächerkanon und die ausschließliche Konzentration auf die Bildung als Ehefrau und Mutter wird zwar nur behauptet und nicht belegt, aber zumindest wird konstatiert, dass die Nichtreglementierung durch den Staat auch pädagogische Freiräume eröffnete. Damit ist der aktuelle Stand bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung endlich eingeholt – allerdings ohne Kenntlichmachung bildungshistorischer Vorläufer.
Im Schlusswort zeigt sich die Autorin dann gänzlich überzeugt von der pädagogischen Freiraum-These, wenn sie bilanziert, dass die privaten Mädchenschulen „die Freiheit“ gehabt hätten, sich „an den Erlassen zu orientieren, die förderlich für die Entwicklung des Unterrichts waren und sich über die Bestimmung hinwegzusetzen, die die Verbesserung der Bildung hemmten“ (255). Dass man, am Ende einer langjährigen Forschungsarbeit angelangt, manchmal andere Thesen vertritt als zu Beginn, ist – wenn man ergebnisoffen forscht – durchaus zu erwarten, aber den Prozesscharakter von Forschung sichtbar zu machen, heißt doch, die eigene veränderte Sichtweise zu thematisieren und den Weg aufzuzeigen, der zu dieser neuen Perspektive auf den Forschungsgegenstand geführt hat. Diesen Prozess für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar zu gestalten, ist eine – in diesem Fall nicht optimal gelöste - Aufgabe wissenschaftlicher Forschung.
In der Einleitung war die Fragestellung der Autorin seltsam unbestimmt geblieben. Um so deutlicher wird sie auf dem Klappentext formuliert: „Die Entwicklung der Höheren Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert wurde lange Zeit nur im Zusammenhang mit der Geschichte der organisierten Frauenbewegung gesehen.“ Den Vertreterinnen der organisierten Frauenbewegung werden die privaten Unternehmerinnen – Henriette Schrader-Breymann und Anna Vorwerk – gegenüber gestellt, deren Bedeutung für das deutsche Mädchenschulwesen bislang zu wenig berücksichtigt worden sei. Beide Frauen waren aber – wie die Autorin selbst zugesteht – im gemäßigten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung aktiv (193), auch wenn sie nie in der ersten Reihe der frauenrechtlerischen Aktivistinnen zu finden waren. Unternehmerisch tätig und in der Frauenbewegung aktiv zu sein, sind – wie sich u.a. an den Biographien Lida Gustava Heymanns, Anita Augsburgs und Hedwig Heyls aufzeigen lässt – durchaus keine Gegensätze. Aber nicht immer, das gebe ich gerne zu, waren die Frauen so geschäftstüchtig und unternehmerisch erfolgreich wie die Wolfenbütteler Pädagogin Anna Vorwerk.
[1] Elisabeth Moltmann-Wendel (2003): Macht der Mütterlichkeit. Die Geschichte der Henriette Schrader-Breymann. Berlin.
[2] Christine Garbe (1992): Die ‚weibliche’ List im ‚männlichen’ Text. Stuttgart; Heide von Felden (1997): Die Frauen und Rousseau. Die Rousseau-Rezeption zeitgenössischer Schriftstellerinnen in Deutschland. Frankfurt a.M.; Christa Kersting (1992): Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim; Martina Käthner/Elke Kleinau (1996): Höhere Töchterschulen um 1800. In: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Bd. 1. Frankfurt a.M./New York, S. 392-408; Elke Kleinau (2000): Pädagoginnen der Aufklärung und ihre Bildungstheorien. In: Claudia Opitz/Ulrike Weckel/Elke Kleinau: Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten. Münster/New York/München/Berlin, S. 309-338; Sylvina Zander (1996): Zum Nähen wenig Lust, sonst ein gutes Kind... Mädchenerziehung und Frauenbildung in Lübeck. Lübeck; Monika Fiegert (1999): Pragmatische Geschlechtertrennung. Die Anfänge elementarer Mädchenbildung im geistlichen Fürstentum Osnabrück. Ein Beitrag zur Historischen Mädchenbildungsforschung. Bochum; Martina Käthner (1994): Der weite Weg zum Mädchenabitur. Der Strukturwandel der höheren Mädchenschulen in Bremen 1854-1916. Frankfurt a.M./New York; Elke Kleinau (1997): Bildung und Geschlecht. Sozialgeschichte des höheren Mädchenschulwesens vom Vormärz bis zum Dritten Reich. Weinheim; Karin Ehrich (1995): Städtische Lehrerinnenausbildung in Preußen. Eine Studie zu Entwicklung, Struktur und Funktionen am Beispiel der Lehrerinnen-Bildungsanstalt Hannover 1856-1926. Frankfurt a.M. u.a.; Barbara Stolze (1995): Ausbildung und Berufstätigkeit von Volksschullehrerinnen in Westfalen 1832-1926. Eine institutionengeschichtliche Studie und berufsbiographische Studie. Pfaffenweiler; Claudia Huerkamp (1996): Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und akademischen Berufen 1900-1945. Göttingen; Brigitte Kerchner (1992): Beruf und Geschlecht. Frauenberufsverbände in Deutschland 1848-1908. Göttingen.
EWR 4 (2005), Nr. 6 (November/Dezember 2005)
Von Höheren Töchtern und Gelehrten Frauenzimmern
Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert (Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 1006)
Frankfurt: Peter Lang 2005
(275 S.; ISBN 3-631-53355-1; 51,50 EUR)
Elke Kleinau (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elke Kleinau: Rezension von: Donner, Sandra: Von Höheren Töchtern und Gelehrten Frauenzimmern, Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert (Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 1006). Frankfurt: Peter Lang 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63153355.html
Elke Kleinau: Rezension von: Donner, Sandra: Von Höheren Töchtern und Gelehrten Frauenzimmern, Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert (Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 1006). Frankfurt: Peter Lang 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63153355.html