Dass wesentliche Aspekte des Lebens und des Werkes von Minna Specht heute vergleichsweise gut bekannt sind, ist zahlreichen Veröffentlichungen, nicht zuletzt den Forschungsarbeiten von Inge Hansen-Schaberg, insbesondere ihrer 1992 in der von Wolfgang Keim herausgegebenen Reihe „Studien zur Bildungsreform“ erschienenen Dissertation, zu verdanken [1].
Zahlreiche Veröffentlichungen von Minna Specht aus den Jahren von 1917 bis 1933 und von 1945 bis 1960 sind vergleichsweise leicht zugänglich. Schwieriger gestaltete sich bislang der Zugang zu von ihr verfassten Texten, die Auskunft über ihre pädagogische und konzeptionelle Arbeit im Exil geben. Mit dem vorliegenden Band veröffentlicht Inge Hansen-Schaberg 13 Jahre nach Abschluss ihrer Dissertation in der von Hildegard Feidel-Mertz herausgegebenen Reihe „Schriften des Exils zur Bildungsgeschichte und Bildungspolitik“ entsprechende Dokumente, die bislang teilweise unveröffentlicht, teilweise nicht in deutscher Originalsprache veröffentlicht bzw. nur schwer zugänglich waren und daher noch nicht hinreichend beachtet wurden.
Ziel der kommentierten Textausgabe ist es – wie dem Klappentext zu entnehmen ist – „einen Großteil der Exilschriften Minna Spechts erstmalig der Öffentlichkeit zugänglich [zu machen]“, damit eine Grundlage dafür zu schaffen, die „pädagogische und konzeptionelle Arbeit Minna Spechts im Exil in Dänemark und in Großbritannien“ besser beachten zu können, und vor allem, „den spezifischen reformpädagogischen Ansatz Minna Spechts, der eine Verbindung von Politik, Pädagogik und Philosophie darstellt, zu dokumentieren und seine Entwicklungsfähigkeit unter den Bedingungen des Exils nachzuweisen“. Weiter heißt es dort: „Die Erziehungspläne und Schulkonzeptionen für die Weiterführung des Landerziehungsheims Walkemühle im Exil, die Studien zur Kindheit und Jugend unter der NS-Herrschaft, die Pläne für die Erneuerung der Erziehung sowie die Bestandsaufnahmen und Entwürfe für die Perspektiven des Schulwesens im Nachkriegsdeutschland sind politische Stellungnahmen, wissenschaftliche Analysen und praktische Lösungsvorschläge zu wichtigen zentralen Fragen der Bildung im 20. Jahrhundert.“
In drei Abschnitte gegliedert werden 26 Texte ediert:
I. Erziehungspläne und Schulkonzeptionen im Exil
- Die Schule (11.06.1942)
- Minna Specht / Gustav Heckmann: Erziehungsplan der Schule in Mollevangen(Februar 1934)
- Speech on the Nelson School (07.01.1935)
- Die Kinder und der Erzieher (o.J.)
- Die Erziehung der Erzieher (o.J.)
- Problems of Teachers (Februar 1936)
- Eine Schule in Wales. Die Situation in unserer dänischen Schule (27.11.1936)
- The Scheme for an International School (Ende 1939)
- Education for Confidence – A School in Exile (1944)
- Gesinnungswandel. Die Erziehung der deutschen Jugend nach dem Weltkrieg(1943)
- Camps and Divisions. Nazi-Youth to-day (März 1945)
- German Education To-Day and To-Morrow (31.01.1945)
- Deutsche Jugend nach der Niederlage (April 1945)
- International Education – A Practical Task (November 1942)
- Socialism and Education (1943)
- Gedanken zur Erneuerung der Erziehung (o.J.)
- How I got the job with the Fabians (03.01.1943)
- Erziehungsprobleme in der deutschen Jugend (19.09.1945)
- Kinder als Kriegsopfer (15.01.1946)
- Deutsche Reformschulen vor Hitler (08.04.1944)
- Minna Specht / Kurt Weckel: Kulturpolitik, Schule und Erziehung(11.05.1943)
- Der kĂĽnftige Aufbau des Schulsystems in Deutschland (Dezember 1944)
- Kontrolle der Erziehung im Nachkriegsdeutschland (August 1943)
- Vorbereitende Schritte vor und bei Eröffnung der Schule (18.01.1945)
- Deutsche Erziehungsprobleme. NotmaĂźnahmen in der Schule (09.03.1945)
- Bericht und Pläne für das Landerziehungsheim Odenwaldschule bei Heppenheim an der Bergstraße, Groß-Hessen (02.01.1947)
In ihrer Danksagung weist die Herausgeberin darauf hin, dass sie gemeinsam mit Christine Lost bereits 1991 den Plan für die Herausgabe ausgewählter Schriften Minna Spechts aus dem Zeitraum 1918-1957 konzipiert habe, sich jedoch kein Verlag dafür gefunden habe, d.h. vermutlich: dass eine frühere Veröffentlichung an fehlenden Druckkostenzuschüssen scheiterte.
Vielleicht sollten solche, sicher vielen auf dem bildungshistorischen Feld Tätigen bekannten Erfahrungen, dass Verlage kein Interesse an der Veröffentlichung von Quelleneditionen haben oder von Herausgebern immense Druckkostenzuschüsse verlangen – und dafür ggf. nicht einmal entsprechende verlegerische Leistungen erbringen (siehe unten) – zu entsprechenden Konsequenzen führen, etwa zu einer verstärkten Digitalisierung von historischen Quellentexten und deren Bereitstellung auf verlässlichen Dokumentenservern über das Internet resp. zu elektronischen Veröffentlichungen „kritischer Quelleneditionen“ ohne teure Umwege über das Verlagswesen.
Zweifellos ist die Veröffentlichung des Bandes sehr verdienstvoll und wird die weitere Beschäftigung mit Minna Specht und ihrem Werk befördern helfen. Gleichwohl kann die Vielfalt der editorischen „Lässigkeiten“ nicht übersehen werden, die weder der Herausgeberin, der Herausgeberin der Reihe oder dem Verlag aufgefallen sind oder als relevant erachtet wurden.
Das beginnt mit Fehlern und Uneinheitlichkeiten in der formalen Gestaltung der Bibliographie, mit fehlerhaften Zeichensetzungen, Punkten und Kommas, fehlendem „In:“ bei einem Aufsatztitel (250), doppeltem „S.“ bei Seitenangaben (248), fehlenden Seitenangaben (251), der doppelten Nennung von Literaturtiteln (249f.) und der Vernachlässigung der Nennung neuerer Auflagen von aufgeführten Titeln (251: Monographie von Birgit S. Nielsen: Erziehung zum Selbstvertrauen. Ein sozialistischer Schulversuch im dänischen Exil 1933-1928. Wuppertal 1985. – 2. Aufl. Weinheim 1999).
Das gilt gleichermaßen für die Kommentierungen zu in den edierten Texten genannten Personen. Diese enthalten in der Regel hilfreiche Lebensdaten derselben. In einigen Fällen fehlen diese Lebensdaten jedoch – obgleich deren Eruierung unproblematisch ist, wie z.B. die Lebensdaten von Alfred Andreesen (1886-1944) (174) und die Lebensdaten von Sebald Schwarz (1866-1934) (179). In einem Falle werden gar völlig irre führende Angaben gemacht, wenn es auf Seite 168 in der Anmerkung 74 zu Alfons Rosenberg heißt: „geboren 1904, war von 1930-1933 an der Berliner Karl-Marx-Schule; siehe Karen Hoffmann: Alfons Rosenberg. In: Gerd Radde u.a. (Hrsg.): Schulreform, Kontinuitäten und Brüche, Bd. 2: Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln. Berlin 1933, S. 231-233“. – In dem zweibändigen, von Gerd Radde herausgegebenen Werk findet sich jedoch nur auf Seite 234 in Band 1 eine kurze Nennung „des Kollegen Rosenberg“, während der von Hansen-Schaberg genannte Aufsatz von Karen Rosenberg auf den Seiten 231-233 in Band 2 einen Aufsatz über „Marion Ruperti, verh. Löffler“ (geb. 1904) enthält, in dem Alfons Rosenberg nicht genannt wird.
Bedauerlich ist, dass mit editorischen Hinweisen sehr sparsam umgegangen wird, etwa wenn z.B. deutlich wird, dass das Schlüsseldokument „Gesinnungswandel“ aus dem Jahr 1943 stammt, das Vorwort von Minna Specht auf Juli 1943 datiert ist, eine in dem Vorwort angekündigte englische Fassung 1944 (mit auf den Januar 1944 datiertem Vorwort) veröffentlicht wurde, aber keine Auskunft darüber gegeben wird, dass neben der „eigentlichen“ deutschsprachigen Fassung eine zweite, vermutlich frühere Fassung, etwa im DIN A4 Format, in vervielfältigter Schreibmaschinenschrift, aber mit gedrucktem Umschlag und Titelblatt erschienen war.
Unschön ist, dass aus der Formulierung von Minna Specht „Wir können unsere Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß die Verführung der Jugend unter Hitler einmalig ist in der Weite, der Ausdehnung, der Intensität der Methode, in der Verwerflichkeit des Zieles. Noch niemals sind Erzieher vor eine schwerere und verantwortungsvollere Aufgabe gestellt worden, als die des Verstehens und der Behandlung der Nazijugend.“ (Gesinnungswandel, 80) in der Einleitung des Bandes (XXI) wird: „Wir können unsere Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß die Verführung der Jugend unter Hitler einmalig ist in der Weite der Ausdehnung, in der Intensität der Methode und in der Verwerflichkeit des Zieles. Noch niemals sind Erzieher vor eine schwerere und verantwortungsvollere Aufgabe gestellt worden als die des Verstehens und der Behandlung der Nazijugend“.
Schwerwiegender sind allerdings Fehler in den edierten Texten selbst, wenn Unterstreichungen im Original in der Edition nicht durchgängig gekennzeichnet bzw. wiedergegeben werden und getrennte Absätze im Original zu einem Absatz zusammengefasst werden, wenn, wie zum Beispiel in dem Beitrag „Deutsche Reformschulen vor Hitler“ gleich zu Beginn des Textes sinnentstellend und damit Fehlinterpretationen provozierend aus „Ein frischer Wind wehte plötzlich durch die deutsche Schule [...]“ in der Edition „Ein frischer Wind wehte durch die deutschen Schulen [...]“ und im zweiten Satz aus „Er riß Fenster auf und lockte die Jugend hinaus auf neue, freiere Wege“ in der Edition „Er riß Fenster auf und lockte die Jungen hinaus auf neue, freiere Wege“ wird, oder wenn an späterer Stelle im gleichen Text aus „in dem Gymnasium der Kleinstadt“ in der Edition wird „in dem Gymnasium einer Kleinstadt“, aus „sein ‚Emlohstobba’“ „seine ‚Emlohstobba’‚ aus „die er vorerst nur pachtete“, „die er vorerst pachtete“, aus „wodurch sie von Lietz abrückten, fast a priori deduzieren“ „wodurch sie von Lietz abrückten, fast a priori reduzieren“, aus „Da sie fast alle von DLEH ausgingen, von geführt von Männern mit starker erzieherischer Begabung“ „Da sie fast alle von DLEH ausgingen, von Männern mit starker erzieherischer Begabung“ und aus „Einfluß des Leiters des DLEH“ „Einfluß des Leiters der DLEH“.
Im Zweifelsfall bleibt denjenigen, die sich durch die Lektüre der in dem Band zusammengetragenen hochinteressanten Texten zu einer vertieften Beschäftigung mit Minna Specht angeregt fühlen, nur der Blick in die der Edition zu Grunde liegenden Quellen (233-235). Der Großteil der erstmals veröffentlichten Quellen befindet sich im Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und hier größtenteils im Nachlass Minna Specht.
[1] Hansen-Schaberg, Inge (1992): Minna Specht, eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung (1918 bis 1951). Untersuchung zur pädagogischen Biographie einer Reformpädagogin. Frankfurt a.M.: Lang.