EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

Hans-Ulrich Musolff/Stephanie Hellekamps
Die Bildung und die Sachen
Zur Hermeneutik der modernen Schule und ihrer Didaktik
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003
(368 Seiten; ISBN 3-631-39942-1; 44,80 EUR)
Es gehört Mut dazu, wenn man in Zeiten, in denen die empirische Bildungsforschung und die Pädagogische Psychologie einen deutlichen Reputationszuwachs erfahren, das schulpädagogische Establishment daran erinnert, dass zur Bearbeitung von Schulentwicklungs- und Unterrichtsfragen mehr gehört als Systemevaluations-, Qualitätsmanagements- oder Instruktionskompetenz. Hans-Ulrich Musolff und Stephanie Hellekamps, beide durch schultheoretische und historiographische Veröffentlichungen ausgewiesen, unternehmen in ihrer gemeinsam verfassten Monographie den ebenso gewagten wie anspruchsvollen Versuch, der fortschreitenden "Szientifizierung" der schulpädagogischen Diskussion mit bildungstheoretischen Argumenten entgegen zu treten.

Ausgehend von der klassischen Annahme, dass sich die Grundfragen des Unterrichts auf die dreiseitige didaktische Beziehung zwischen Lehrer, Schüler und Sache zurück führen lassen, geht es ihnen darum, zu zeigen, dass die schulische Organisation von Bildungsprozessen ohne einen pädagogisch reflektierten und an den Verstehensmöglichkeiten der Schüler orientierten Bezug zur symbolisch strukturierten Sachwelt nicht denkbar ist. Dabei ist ein Buch von beachtlicher thematischer Fülle, mit hilfreichen Registern (und einer etwas eigenwilligen Bibliographie) entstanden, das beim Lesepublikum profunde Fachkenntnisse voraussetzt. Ihre These, dass didaktische Fragen nur im Kontext einer bildungstheoretisch fundierten Theorie der Schule adäquat zu bearbeiten sind, entfalten die Autoren in 20 Kapiteln.

In Anknüpfung an Herbarts Konzept des erziehenden Unterrichts werden im ersten der vier Hauptteile, in die sich die Arbeit thematisch gliedert, mit den personalen Formen des pädagogischen Handelns zugleich die sachlichen Bezüge in Erinnerung gerufen. Im Kern geht es darum, Unterricht als eine sachorientierte, in soziale Handlungspraktiken eingebettete Bildungstätigkeit zu rekonstruieren, die wesentlich auf den subjektiven Interpretations- und Verstehensleistungen von Lehrern und Schülern basiert. Auf den Grundstrukturen der didaktischen Triade aufbauend, gibt es jedoch keine Möglichkeit, so die Pointe der Argumentation, die "Sachen" in ihrer puren Gegenständlichkeit zu thematisieren. Diese kommen vielmehr in der "Darstellungsform des Unterrichts, die der Lehrende im Hinblick auf bestimmte Lernende gewählt hat" (21), immer nur als interpretierte Sachverhalte zur Sprache.

Bezogen auf die Lerngegenstände, die als integrale Bestandteile der symbolischen Kultur einer Gesellschaft vorgestellt werden, agieren Lehrer als deren Interpreten. Aus bildungstheoretischer Sicht muss die "Artikulation des Unterrichts" dabei nicht nur den symbolischen Strukturen einer pragmatisch und begrifflich geordneten Sinnwelt Rechnung tragen, sondern auch auf die Lernsituation, den Klassenkontext und die individuellen Lern- und Verstehensvoraussetzungen der Schüler Rücksicht nehmen. Die damit verbundenen didaktischen Fragen der zeitlichen Sequenzierung und der pädagogischen Synchronisierung der Unterrichtstätigkeit, des Bildungsgehaltes, des Verhältnisses von klassischem und exemplarischem Lernen, von Wissenschaftsorientierung und Sinnstiftung diskutieren die Autoren in Auseinandersetzung mit Theorien von Johann Friedrich Herbart (erziehender Unterricht), Klaus Prange (Unterrichtsablauf), Karl Gerhard Pöppel (Öffnungsmodelle), Wolfgang Klafki (Kategoriale Bildung), Josef Derbolav (Wissenschaftlichkeit) und Wilhelm Flitner (Kritik der instrumentellen Bildung).

Im Verständnis von Musolff und Hellekamps verstellt die disziplinäre Entwicklung der Pädagogik von einer theologisch, philosophisch und später kulturtheoretisch fundierten Bildungs- zur empirischen Erziehungswissenschaft den Blick auf die hermeneutischen Grundlagen ihrer Praxis. Wie sehr die Autoren diese Entwicklung als einen Traditionsbruch empfinden, zeigt sich daran, dass sie im zweiten Teil ihrer Arbeit den Vertretern einer sich qualitativ gerierenden Sozialforschung ein verfehltes hermeneutisches Methodenverständnis vorwerfen. Denn das Ziel der traditionellen Hermeneutik, an der sie sich selbst orientieren, sei nicht die Produktion von neuem Wissen, sondern verstehendes Erinnern "an ein bereits erreichtes Theorie- und Reflexionsniveau" (68). Dieser Prämisse folgend referieren, kommentieren, interpretieren, kritisieren und rekonstruieren sie im Weiteren die erziehungswissenschaftlichen, bildungstheoretischen, didaktischen und historischen Konzeptionen von Wolfgang Brezinka, Klaus Prange, Dieter Lenzen, Günther Buck, Dietrich Benner, Herwart Kemper, Josef Derbolav, Heinz-Elmar Tenorth und Horst Rumpf.

Mit Blick auf die Geschichte der institutionalisierten Bildung wird im dritten Teil gezeigt, dass sich die Schule in modernen Gesellschaften mit widersprüchlichen Forderungen konfrontiert sieht, die aus den Grundbestimmungen ökonomischer, sozio-politischer und kultureller Freiheit resultieren: die Heranwachsenden durch pädagogisches Handeln gegen Fremdbeeinflussung immunisieren und sie zur Selbstbestimmung "führen" zu wollen, wirkt paradox. Im Rückgriff auf Hegel versuchen Musolff und Hellekamps sodann zu zeigen, dass die moralische Forderung an das Subjekt, die Rechte des Anderen zu respektieren, bildungstheoretisch im Sinn von "Höflichkeit" und "Vertrauen" (183) – von Toleranz ist hier nicht die Rede – zu verstehen sei. Die systemtheoretische These, dass die Entwicklung von Bildungseinrichtungen eigenlogischen Gesetzlichkeiten folgt, wird mit Herwart Kemper bestritten. Die Schulreform, so das Argument, ist nur ein Moment der Dynamik der Moderne. Wie in den Ideen von Rationalität, Freiheit und Chancengleichheit werden auch im Leistungsprinzip weit über die Logik des Pädagogischen hinausreichende ökonomische und gesellschaftspolitische Systemerwartungen manifest.

Vor diesem modernisierungs- und bildungstheoretischen Hintergrund konkretisieren die Autoren schließlich im vierten Teil ihre Überlegungen, indem sie sowohl zu fachdidaktischen Fragen des literarischen, naturwissenschaftlichen und historischen Unterrichts als auch zur Kanondebatte und zur interkulturellen Diskussion in der Erziehungswissenschaft Stellung nehmen. Gegen Heinz-Elmar Tenorths Unterscheidung von Kanon und Lehrplan wird der Einwand formuliert, dass die Bildungstheorie mit ihrer sozialwissenschaftlichen Relativierung keinesfalls erledigt ist. Denn an der wertbezogenen Frage nach den "gelungenen, repräsentativen, exemplarischen" Werken, "an denen die individuelle menschliche Seele ihre Form finden kann" (258), kommt die Schulpädagogik auch unter postmodernen Vorzeichen nicht vorbei. Nach Ansicht von Musolff und Hellekamps gibt es durchaus verlässliche Kriterien, die es ermöglichen, ohne einzelne Kulturen abzuwerten, Differenzen der Komplexität und des Geschmacks zu definieren. Bildung zielt auf reflexives Verstehen und sinnvolles Interpretieren von Sachverhalten und erschöpft sich nicht im Fachwissen für den instrumentellen Gebrauch. Zur Sinn erschließenden Klärung sind unter anderem methodische Formen wie das Unterrichtsgespräch geeignet, das nach Meinung der Autoren so geführt werden kann, "als ob jede teilnehmende Person nur an einer Idee und am besprochenen Gegenstand interessiert wäre und nicht an Noten und am eigenen Vorankommen" (266).

Schon diese wenigen, durchaus auch provokativ wirkenden Thesen, genügen, um den Anregungsgehalt, den das Buch zu geben vermag, zu illustrieren. Verdienstvoll erscheint nicht nur die Fokussierung auf die sachbezogenen Interpretations- und Verstehensleistungen, die das Unterrichtsgeschehen konstituieren, sondern auch die Erinnerung daran, dass die Schulpädagogik in der rückbesinnenden Auseinandersetzung mit ihren bildungstheoretischen Klassikern dem administrativ geprägten Jargon, der in den öffentlichen Diskussionen dominant ist, selbstbewusst begegnen kann. Allerdings bleibt fraglich, ob die Autoren mit ihrem sehr dezidiert vorgetragenen methodologischen Votum für die klassische Hermeneutik, zugeschlagene Türen wieder öffnen können. Denn zugespitzte Formulierungen gegen die Praxis der sozialwissenschaftlichen Forschung irritieren und signalisieren keine Gesprächsbereitschaft. Genau diese aber wäre erforderlich, wenn man das reflexive Potential der Bildungstheorie im Sinne der Autoren wieder deutlicher zur Geltung bringen will. Aber schon der Versuch ist lohnenswert.
Hermann Veith (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hermann Veith: Rezension von: Musolff, Hans-Ulrich / Hellekamps, Stephanie: Die Bildung und die Sachen, Zur Hermeneutik der modernen Schule und ihrer Didaktik, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/63139942.html