EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Andreas Gestrich / Jens-Uwe Krause / Michael Mitterauer
Geschichte der Familie
Stuttgart: Kröner 2003
(750 Seiten; ISBN 3-520-37601-6; 24,00 EUR)
Geschichte der Familie Der Band eröffnet die neue Reihe zur "Europäischen Kulturgeschichte", die von Andreas Gestrich herausgegeben wird. Das vorgelegte Kompendium umfasst die Geschichte der Familie in Europa von der griechischen Antike bis in die Moderne, wobei die Antike von Jens Krause, das Mittelalter von Michael Mitterauer bearbeitet wurden, während Andreas Gestrich die Darstellung der Neuzeit übernommen hat.

Das Unternehmen ist anspruchsvoll: Unterschiedliche Forschungsergebnisse und -traditionen sollen aus der Perspektive einer Kulturgeschichte der Familie zusammengeführt, der interdisziplinäre Forschungsstand bilanziert werden – dies alles über einen immensen Zeitraum und für das gesamte Europa, wobei auch regionale Differenzen berücksichtigt werden sollen. Das einigende Band durch die drei Teile sieht Andreas Gestrich in den zentralen Themenbereichen "Familie und Verwandtschaft", "Europäische Haushaltstrukturen", "Wohnverhältnisse", "Partnerwahl und Eheschließung", "Rollen", "Familie - Erbschaft – Gesellschaftsstruktur" und "Veränderungen in der Gegenwart" (vgl. Einleitung). Diese Kategorien beschreiben jedoch eher eine indirekte Systematik. Bezüge zur Gegenwart liefert nur der letzte Teil.

Jens Krause hebt angesichts der lückenhaften Quellenlage die Problematik eines solchen Unterfangens für die Antike hervor. Nach einleitenden demographischen und familienstrukturellen Charakteristiken mit vielen quantitativen Angaben werden in zwei größeren Kapiteln die Ehe und Familie in Griechenland und in Rom in Bezug auf rechtliche und materielle Aspekte der Eheschließung, Möglichkeiten der Auflösung, Wiederverheiratung und des Konkubinats beschrieben. Das "Familienleben" wird in Bezug auf die Rollen von Vater und Mutter, Kindern, Waisenkindern unterschieden. Weitere Abschnitte behandeln die rechtliche Funktion von Adoptionen und die Rolle der Alten.

Die mittelalterliche Familie wird von Michael Mitterauer in zwei umfangreichen Kapiteln beschrieben: Das erste untersucht die Verwandtschaftsfamilie, das zweite die Haushaltsfamilie. Zentraler Ausgangspunkt für Mitterauer sind zwei Thesen. Der "Schmid-Duby-These" zufolge hat sich im mittelalterlichen Verwandtschaftsverhältnis ein agnatischer Typ (Abstammungslinie von Männern) entwickelt und durchgesetzt, durch den die Rechte der Frauen zunehmend schwächer wurden. Die Goody-These besagt, dass zentrale Veränderungen der Familie vom 4. Jahrhundert n.Chr. an durch Verschärfung der Inzestregeln und, damit verbunden, Veränderungen des Erbrechts hervorgerufen wurden, die auf das Bestreben der Kirche Besitz zu akkumulieren zurückzuführen sind. Vor allem die Schmid-Duby-These zu widerlegen, ist Ziel Mitterauers.

Die Entwicklung der Verwandtschaftsfamilie wird anhand der sprachgeschichtlichen Begriffsentwicklung von Verwandtschaftsbezeichnungen, differenziert für den gesamten europäischen Raum, untersucht. Tendenzen zur Individualisierung lassen sich Mitterauer zufolge seit dem Mittelalter finden. Als grobe Strukturen werden die westlichen und mitteleuropäischen Familienformen von denen im osteuropäischen Raum unterschieden. Während sich im letzteren partilineare und agnatische Formen durchsetzten (Mitterauer führt das auf die vorherrschende Wirtschaftsform der Schafweidewirtschaft zurück), zeichneten sich die west- und mitteleuropäischen Familienformen (eine Ausnahme bildet in vielerlei Hinsicht Irland) durch koagnatische Formen aus. Die patrilinearen Abstammungsformen verloren - auch durch den Einfluss der Kirche - an Bedeutung, die Bedeutung der Gattenbeziehung nahm zu, so die Argumentation Mitterauers gegen Duby.

Gestrich beschreibt einleitend zentrale Faktoren familialen Wandels seit dem Mittealter (protestantische Ehelehre, Spiritualisierung des Haushalts, Leitbilder des 9. Jahrhunderts) und setzt sich kritisch mit der Familiensoziologie auseinander (Mythos der vorindustriellen Großfamilie, Funktionsverlust der Familie, Pluralisierung der Familienformen). Die Haushaltsfamilie wird beschrieben hinsichtlich der materiellen Grundlagen sowie Konstanz und Wandel von Heiratsmustern. Deutlich wird die Notwendigkeit Haushaltsformen auf den Familienzyklus hin zu beziehen. Die rechtliche und die soziale Bedeutung von Haus und Wohnung werden differenziert nach Stadt und Land sowie für Adel, Bürgertum und Arbeiter. Das 3. Kapitel ist den Familienbeziehungen gewidmet. Unterschieden werden verschiedene Modelle der Eheschließung, (vor-)eheliche Sexualität und Fruchtbarkeit, Geschlechterrollen (geschlechtsspezifische Arbeitsteilung), Möglichkeiten von Scheidung und Wiederverheiratung. Das Verhältnis von Eltern und Kindern wird mit den Kategorien Ammenwesen, Aussetzung, Erziehungsvorstellungen (vom Adel der frühen Neuzeit über Kinderarbeit bis zur sog. Verhäuslichung) zu fassen versucht. Weitere Aspekte sind: Gesinde, Familienrituale, Waisenkinder und schließlich verwandtschaftliche Netzwerke, Freunde, Nachbarn und professionelle Helfer. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem 19. und noch stärker auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Abgrenzung zu familiensoziologischen Studien. Die frühe Neuzeit, der Übergang bzw. der Zeitraum vom 15. bis zum 17 Jahrhundert kommen entschieden zu kurz.

Dem Anspruch, vor dem Hintergrund des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses zu diskutieren, werden die Autoren (bezogen auf die eigene Disziplin) gerecht. Die regionale Binnendifferenzierung des gesamteuropäischen Raum wird durchgängig berücksichtigt. Das Buch enthält viele interessante Details und liefert ein facettenreiches Bild der Familie, ihrer Formen und Funktionen: etwa die hohe Zahl der Waisenkinder in Rom, Formen der Mitgift, Sklavenhaltung, Blutrache bei den Friesen, Familie als Kultgemeinschaft, Wandel von Bestattungsformen, Pluralität von Erbrechtsregelungen, soziale Funktionen des Wohnens, u.v.a.m. Durchgängig deutlich wird die Notwendigkeit, in der Forschung einerseits zwischen Haushalts- und Verwandtschaftsfamilie zu differenzieren und andererseits "Familie" nicht statisch, sondern als dynamischen Zyklus (von der Eheschließung bis zum Alter) zu fassen. In den Teilen von Krause und Gestrich spielen Quantifizierungen (das Buch enthält zahlreiche Statistiken und Tabellen) eine zentrale methodische Rolle. Zwar verdeutlicht Gestrich die Problematik solcher Durchschnittsangaben für den gesamteuropäischen Raum - sie sind (etwa: durchschnittliches Heiratsalter) nicht nur wenig aussagekräftig, sondern führen wegen regionaler u.a. Spezifika zu Verzerrungen (428) - , doch argumentiert er selbst über weite Strecken in dieser Form. Mitterauer verzichtet dagegen konsequent auf quantifizierende Argumentation.

Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht bieten aber jene Abschnitte über Familienbeziehungen wenig Neues. Das Buch liefert entsprechend der historisch-soziologischen Fragestellung allenfalls Aspekte der Rahmenbedingungen für Familienleben und insbesondere Familienerziehung und kommen ihnen nicht wirklich nahe. Die erziehungswissenschaftliche historische Forschung und deren zahlreiche Studien, die hier Aufschluss geben könnten, werden von den Autoren nicht zur Kenntnis genommen, Bezugsdisziplin bleibt auch hier die Soziologie. Die These von der Verhäuslichung des Kindes um 1900 etwa, von Gestrich unhinterfragt übernommen, gilt nur für eine bestimmte zahlenmäßig kleine Gruppe: die Söhne wohlhabender bürgerlicher Eltern. Aufschlussreich sind dagegen die Argumente Mitterauers gegen die Thesen von Ariès und Gillis über die fehlende Jugendphase im Mittelalter. Mit Hilfe zahlreicher Beispiele über besondere Funktionen der Jugend in unterschiedlichen Gegenden Europas (etwa Kontrolle des Heiratsmarkts u.a.) wird die Existenz einer eigenständigen Jugendphase nachgewiesen.

Für Studieneinsteiger ist das Buch ungeeignet. Es wendet sich als spezialisierte Forschung an Fortgeschrittene bzw. Experten. Die andererseits sind eher auf bestimmte Zeiträume und/oder Regionen spezialisiert, so dass sie vermutlich kaum den gesamten Band verwenden können. Für Erziehungswissenschaftler eignet sich der Band als Nachschlagewerk für Hintergrundinformationen zu bestimmten Themenbereichen. Das umfangreiche Sachregister liefert dafür eine gute Hilfestellung.
Dorle Klika (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dorle Klika: Rezension von: ,: Geschichte der Familie, Stuttgart: Kröner 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/52037601.html