EWR 1 (2002), Nr. 4 (September 2002)

Renate Nestvogel
Aufwachsen in verschiedenen Kulturen
Weibliche Sozialisation und Geschlechterverhältnisse in Kindheit und Jugend
Weinheim und Basel: Deutscher Studien Verlag 2002
(600 Seiten; ISBN 3-407-32010-8; 39,00 EUR)
Eine Trouvaille!

Wer möchte nicht ab und zu unterhalten sein? Im Film "My Big Fat Greek Wedding", der gegenwärtig überall zu sehen ist, werden alle Vorurteile bestätigt, wie weibliche Sozialisationsprozesse unter der Bedingung kultureller Differenz ablaufen. Modelle und Typisierungen leben von starken Bildern, die uns nahe legen, bestimmte Dinge zu erwarten, das Griechische als "das Griechische" zu nehmen, ebenso wie wir für jede andere Nation zutreffende Beschreibungen zu finden bereit sind.

"Das Aufwachsen in verschiedenen Kulturen. Weibliche Sozialisation und Geschlechterverhältnisse in Kindheit und Jugend" in der Bearbeitung von Renate Nestvogel geht weit über eine Simplifizierung und Reduktion der oben erwähnten Art des Films hinaus, obwohl ebenfalls ästhetisches Material als Grundlage der Studie dient.Gefragt wird, was Erzählungen, Romane, Biographien, Autobiographien und biographische Interviews vermitteln, was mit üblichen wissenschaftlich-empirischen Methoden nicht erfassbar wäre. Sagen uns die ästhetischen Produktionen mehr über die Wirklichkeit als empirische Befunde?

Wer sich derartigen Überlegungen aussetzt und vermutet, dass die Sublimierungen der Realität in Form von Texten mindestens so viel Information zu bieten haben wie Kategorisierungen, Auszählungen und Interpretationen empirisch erfasster Wirklichkeit, hält mit Renate Nestvogels Buch eine wahre Schatzkiste in der Hand: Insgesamt ca. 650 von Frauen geschriebene Buchtitel sind ausgewertet, beschränkt auf den Zeitabschnitt der letzten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts und auf vorliegende deutsche Übersetzungen. Die Textauszüge aus Erzählungen, Romanen, Märchen, Biographien und Autobiographien von Frauen aus verschiedenen Ländern spiegeln entsprechend ihrer Genres Insider-Wissen, das sich aus kognitiver und emotionaler Erfahrung speist. Die Themen berühren unterschiedliche Bereiche weiblicher Sozialisation wie Familie, Kindheit, Jugend, Feste, Rituale usw., sie facettieren die Kulturen, ihren Alltag und menschliche Entwicklung im wechselseitigen Anpassungsprozess zwischen Person und Umwelt, so dass die Vielfalt ebenso wie die Gleichförmigkeit von Diskriminierung von Mädchen und Frauen als interkultureller Standard in Erscheinung tritt - der Zugang zum Einzigartigen, das immer in soziale Bezüge eingebettet bleibt, stellt kulturübergreifende Gemeinsamkeiten her.

Im 1. Kapitel bearbeitet Renate Nestvogel theoretische Basiskonzepte zur Erklärung von Sozialisationsverläufen anhand der Frage: Wie gelingt es dem Individuum weiblichen Geschlechts seine Persönlichkeit herauszubilden? Die kurzen Beschreibungen theoretischer Positionen und ihre Differenziertheit bieten ein ausgezeichnetes Instrument zur Einsicht in weibliche Sozialisation, sie zeigt sich nicht isoliert, sondern eingefügt in variable kulturelle Praxis. Es ist das Verdienst dieser Studie, dass sie differenziert statt festschreibt: Niemand kann die Kultur wählen, in die er oder sie hinein geboren wird, niemand kann sich kulturellen Bezügen entziehen, Kultur wird meist unbewusst gelebt und in der Regel ist es in der Auseinandersetzung oder im Kontakt mit der fremden Kultur, dass Kultur als eine zweite Haut verstanden wird. Um in der Metapher zu bleiben: Lässt sie sich abstreifen?

Renate Nestvogel zeigt, dass ein konstruktivistischer Sozialisationsbegriff von Handlungsräumen und Handlungszwängen sich dazu eignet, weibliche Sozialisationsprozesse in verschiedenen Gesellschaften zu klären: In jedem System finden sich Machtverhältnisse, wie Foucault sie beschreibt, ohne die weder historische noch gegenwärtige Geschlechterverhältnisse beschrieben werden müssten. Unterschiede bestehen in der Gewichtung: Systemtheoretisch-ökologische Ansätze betonen die äusseren Faktoren der Beeinflussung, reflexiv-handlungsorientierte Konzeptionen setzen endogene und exogene Impulse in wechselseitige Beziehung, sozial-deterministische stellen das Milieu ins Zentrum. Biologistische Konzeptionen der Persönlichkeitsbildung präferieren die Natur und neigen zur Ungleichwertigkeit der Geschlechter. Auch die interkulturelle Forschung verweist auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen Kultur und Persönlichkeit. Es wird deutlich, dass einfache Erklärungen nicht für das Verständnis von komplizierten Sozialisationsprozessen taugen. Prozessorientierte Sichtweisen fokussieren das Potential von Konflikten; bilden gerade sie die Voraussetzung zur Veränderung herkunftsbestimmter Limiten in der Persönlichkeitsentwicklung? Gestützt wird diese These durch einen dynamischen Kulturbegriff, d.h. Kulturen zeigen sich zunehmend weniger homogen, Traditionen sind veränderbar.

Begriffe wie "Globalisierung", "Vergesellschaftung im Weltmaßstab", "Multikulturelle Gesellschaft" ebenso wie "eine Welt" sind Ausdruck einer vielfältigen wirtschaftlichen und politischen Praxis, die unter verschiedenen analytischen Perspektiven reflektiert wird oder reflektiert gehört. Renate Nestvogel fragt, inwieweit die Sozialisationsforschung die Bildung der Persönlichkeit als einen im Weltsystem sich abspielenden Prozess begreift. Im Anschluss an das Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen von Geulen und Hurrelmann werden Fragen diskutiert und um eine Ebene erweitert, die einen Standort ungebundenen Blickwinkel voraussetzen. Die Tatsachen sprechen dafür: In einer Welt, die Millionen von Menschen zu Migration veranlasst, muss es auch global wirksame Bilder bzw. Vorstellungen geben, welche die individuelle Migrationswilligkeit fördern. Die durch Migration beeinflussten Sozialisationsprozesse können dank der Erweiterung des Strukturmodells mit einer globalen Reflexionsebene eher erklärt werden, als wenn nur gesellschaftlich oder nationalstaatlich argumentiert wird, wie dies lange Zeit auch in der Interkulturellen Erziehung der Fall war. Die Migrationsfreudigkeit der Menschen aus allen Richtungen besagt immerhin soviel, dass die moderne Welt mit globalisierten Strukturen eine enorme Faszination ausübt: Moderne Kultur funktioniert als ein Konstrukt – es scheinen sich viele Menschen vorstellen zu können an individualisierter Kultur teilzuhaben oder weiterzubauen. Allerdings gilt auch, dass in Industrieländern viele Menschen nicht-westlicher Herkunft sowie Angehörige kolonialisierter Kulturen die moderne Individualisierung als Druck empfinden, als Auflösung sozialer Bindungen verstehen und mit gewandelten kollektiven Sozialformen darauf reagieren.

Das 2. Kapitel folgt Postmans These einer Kindheit als "gesellschaftliches Kunstprodukt", das je nach historischer Epoche unterschiedlich ausgestaltet wird. Dementsprechend tradieren Kulturen verschiedene Vorstellungen vom Wesen des Kindes, die sich interkulturell und historisch vergleichen lassen. Unter heutigen weltgesellschaftlichen Lebensbedingungen finden sich Spuren tradierter Vorstellungen in den praktizierten Erziehungsformen der meisten Familien, obwohl gerade die tradierte Unähnlichkeit zwischen Kindern und Erwachsenen zugunsten einer Ähnlichkeit von neuerer Praxis und Forschung favorisiert wird. Mit guten Gründen: Egalitäre Verhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen verwehren sich gegen Herrschaftsansprüche, die u.a. natürliche Unterschiede zwischen den Generationen ideologisieren.

In den meisten Gesellschaften basiert die Präferenz männlicher Nachfolge auf vielfältigen sozialkulturellen und ökonomischen Gründen. In mehreren Unterkapiteln werden die Themen Lebensräume, Familie, Gleichaltrige, Kinderarbeit-Schularbeit, Phantasie im Sozialisationsprozess, Geschlechter- und Körpersozialisation, Weibliche Vorbilder, die Auswirkungen von Religion und Politik im Sozialisationsprozess und die Auswirkungen der Abwertung des Weiblichen exemplarisch dokumentiert und kurz theoretisch kommentiert. Die Ausnahmen, Beispiele weiblicher Wertschätzung, kommen meiner Meinung nach etwas zu kurz. Liegt dies an fehlenden literarischen Quellen oder Dokumentationen, die nur dann entstehen, wenn das Leiden die Feder führt oder (heute wohl eher) die Tasten tippt? In den Gesellschaften der westlichen Welt dürften der Feminismus, Koedukation und die Bildungserfolge der Mädchen in den letzten Jahren für intrakulturelle und interkulturelle Variablen gesorgt haben.

Die Themen Familie, Gleichaltrige, Körpersozialisation und politische Sozialisation werden auch im 3. Kapitel unter dem Aspekt der Sozialisation im Jugendalter bearbeitet. Die Darstellung der verschiedenen Theorien zum Jugendalter zeigt eine interkulturelle Gemeinsamkeit: Die Pubertät bedeutet in allen Kulturen und Gesellschaften das Ende und den Beginn einer neuen Lebensphase. Im 3. Kapitel werden explizite Sozialisationsaspekte wie Aufklärung, Menstruation, Identitätssuche, moralische, schulische und berufliche Sozialisation und selbstverständlich Liebe und Sexualität dargestellt. Die kurzen theoretischen Hinweise werden wie in Kapitel 2 vor dem Hintergrund systematischer und wissenschaftstheoretischer Fragen der Genderforschung und der geschlechtstypischen Sozialisationsforschung (von Kapitel 1) mit verschiedenen ästhetischen Textsorten sorgfältig dokumentiert.

Die klare Gliederung der Vielfalt im Text bietet einzigartige Einblicke in die Vielfalt weiblicher Sozialisationsverläufe in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften. Die exemplarischen Erklärungsansätze theoretischer Art werden durch die inhaltlichen Hinweise zu weiterführender Literatur und Bezügen zu sozialisationsrelevanten Alltagsredensarten ergänzt. Renate Nestvogel versteht ihr Werk als Forschungsanregung, sie wünscht, die unvermeidbare Voreingenommenheit des westlichen Blicks könnte durch anschliessende Projekte und Perspektiven ergänzt und korrigiert werden. Verzichtet sie darum darauf, den Text mit "fremden Begriffen" zu überlasten? So oder so: Ihre Studie klärt und erklärt und eignet sich bestens auch zum Einsatz auf der Sekundarstufe und in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung.
Li Mollet (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Li Mollet: Rezension von: Nestvogel, Renate: Aufwachsen in verschiedenen Kulturen, Weibliche Sozialisation und Geschlechterverhältnisse in Kindheit und Jugend, Weinheim und Basel: Deutscher Studien Verlag 2002. In: EWR 1 (2002), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40732010.html