EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)

World Vision Deutschland e. V.
Kinder in Deutschland 2007
1. World Vision Kinderstudie
Frankfurt am Main: Fischer 2007
(441 S.; ISBN 978-3596177202; 12,95 EUR)
Kinder in Deutschland 2007 Kinder haben als Forschungsgegenstand „Konjunktur“. In relativ kurzer Zeit sind in Deutschland mehrere Überblicksstudien über Kinder erschienen: das DJI-Kinderpanel (2005), die DJI-Betreuungsstudie (2007), das LBS-Kinderbarometer (2009), die KiGGS-Gesundheitsstudie (2006), der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland (2006, 2008) und die 1. World Vision Kinderstudie „Kinder in Deutschland 2007“.

Es geht in nahezu allen diesen Studien darum, sich der Sicht der Kinder auf ihre Lebenssituationen zu nähern bzw. „die Welt aus der Perspektive von Kindern zu sehen und dadurch ihre spezifischen Bedürfnisse zu verstehen“, so der Direktor des Kinderhilfswerks World Vision, dessen Mitglieder sich als Anwältinnen und Anwälte der Kinder verstehen und die sich das Ziel gesetzt haben, die Lebensgrundlagen und die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern nachhaltig zu verbessern (11).

Diese beispiellose Aufmerksamkeit, die Kinder heute genießen und die sich auch in der Forschung über Kinder zeigt, hat unter anderem damit zu tun, dass Kinder in einer alternden Gesellschaft zu einem knappen Gut geworden sind, da es immer weniger Kinder gibt. Daneben kann die Kinderrechtsbewegung als wichtiger Motor betrachtet werden, Kinder in ihren Rechten anzuerkennen, sie in ihren Äußerungen ernst zu nehmen und sie als Experten ihrer Lebenswelt wahrzunehmen.

Was erfahren wir durch die Lektüre des vorliegenden Buches über Kinder und Kindheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Was lernen wir über die Einschätzungen, Interessen, Wünsche und Bedürfnisse der jüngsten Generation in Deutschland? Wie wird der Anspruch, „aus der Perspektive von Kindern“ auf ihre Lebenswelt und Lebenssituationen zu schauen, methodisch umgesetzt und was wird sichtbar gemacht? Wie ist die Studie angelegt und konzipiert?

Für die Konzeption und Koordination der repräsentativen Kinderstudie zeichnen sich Klaus Hurrelmann und Sabine Andresen von der Universität Bielefeld verantwortlich. Es wurden 1.592 Kinder im Alter von acht bis elf Jahren aus den alten und neuen Bundesländern mit einem standardisierten Erhebungsinstrument (persönlich-mündlich) befragt. Diese quantitative Studie wurde ergänzt durch eine qualitative Vertiefungsstudie, in der zwölf individuelle Fallstudien mit Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren durchgeführt und in Porträts präsentiert wurden. In beiden methodischen Elementen zeigt sich deutlich, dass die Shell-Jugendstudien für die Konzeption Pate gestanden haben.

Insgesamt umfasst die Studie neun Kapitel. Nach einer aussagekräftigen Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse folgt das lesenswerte Einführungskapitel „Was bedeutet es, heute ein Kind zu sein?“ von Andresen und Hurrelmann, in dem sie sich mit den historischen und aktuellen Bedingungen von Kindheit sowie der Erforschung von Kindheit auseinander- setzen. In diesem Kapitel wird der theoretische Rahmen für die Kinderstudie gelegt. Zentrale Dimensionen heutiger Kindheit wie Familie und Bildung, insbesondere die vorschulische Bildung und Ganztagsbildung, werden ebenso angesprochen wie Freunde, Freizeit- und Medienwelten, Medienkompetenz, aber auch die Frage nach der (Lebens-)Zeit, die Kindern für ihre Entwicklung zur Verfügung steht bzw. ihnen zugestanden wird. Das Autorenteam weist die Betrachtung von Kindheit als Schonraum als gültiges Beschreibungsmodell heutiger Kindheit zurück, im Gegenteil sprechen sie von der Lebensphase Kindheit als einem „Ernstraum“ (55), in dem viele Weichenstellungen für alle sich anschließenden Lebensphasen getroffen würden: „Alle für den ersten menschlichen Lebensabschnitt charakteristischen Entwicklungsimpulse körperlicher, psychischer, sozialer und kultureller Art müssen von Kindern gegenüber früheren historischen Epochen in einem knapperen Lebensabschnitt als jemals zuvor in der menschlichen Lebensgeschichte bewältigt werden. Zugleich nimmt jedoch der Umfang kulturell und sozial zu erlernenden Wissens kontinuierlich zu“ (54).

Folgt man dieser Argumentation, dann wäre die Erosion des Schon- und Schutzraumes Kindheit bereits eingetreten, bedingt durch Beschleunigungs- und Flexibilisierungsprozesse und die Verknappung von Zeit – ein in der gegenwärtigen europäischen Kindheitsforschung außerordentlich wichtiges Thema, das z. B. von Helga Zeiher und dem europäischen COST-Projekt bearbeitet wird.

Im zweiten Kapitel geht es um die Familie und die Bedeutung von Familie für Kinder, die sich – so die Autoren Schneekloth und Leven – nach wie vor als Zentrum des Lebens für die jüngste Generation erweist, im Sinne von starken emotionalen Bindungen, die Sicherheit und Geborgenheit geben (65). Ein Teil der Kinder in Deutschland erlebt jedoch, dass die Familie nicht verlässlich ist, was sich in Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit äußern kann. Für knapp 10% der Kinder diagnostizieren die Autoren eine akute Risikosituation (108), d. h. prekäre Lebensverhältnisse, überforderte Eltern und die höchste geäußerte Unzufriedenheit der Kinder mit den gewährten familialen Spielräumen und der elterlichen Zuwendung. Ein zentraler Befund ist, dass es nicht die Kinder von erwerbstätigen Müttern und Vätern sind, die sich über mangelnde zeitliche Zuwendung beklagen, sondern vor allem die Kinder der unteren Herkunftsschichten (Arbeitslosigkeit der Eltern) und Kinder alleinerziehender Eltern äußern zu mehr als einem Drittel Defizite in der elterlichen Zuwendung. Vom Autorenteam wird hier eindeutig Handlungsbedarf für die Kinder- und Familienpolitik gesehen, um die Kinder und ihre Familien (häufig Ein-Eltern-Familien) in ihrer strukturellen Überforderungssituation zu unterstützen.

In Kapitel drei wird die zentrale Bildungsinstitution, die Schule, beleuchtet. Bereits die Überschrift markiert, worauf dabei der kritische Blick gerichtet wird: auf die frühe Vergabe von Lebenschancen, bestimmt durch die soziale Herkunft. Daneben finden sich interessante Ergebnisse zu Ganztagsschulen aus Kindersicht, z. B., dass die Mehrheit der Kinder der Ganztagsschule zustimmt, allerdings unter der Bedingung, dass eben nicht „Schule“ stattfindet, sondern Sportangebote, Kunst- oder Theater AGs etc., hier sollte aus der Sicht der Kinder Raum für Kinder- und Jugendkultur und sozialpädagogische Angebote geschaffen werden.

Im vierten Kapitel wird die wichtige kindliche Lebenswelt der Gleichaltrigen beschrieben. Mit den Indikatoren „Anzahl der Freunde“ und „Bewertung der Zahl der Freunde“ wird die soziale Integration von Kindern gemessen und es zeigt sich, dass sich die große Mehrheit der Kinder angemessen integriert fühlt. Diese Kinder haben einen Freundeskreis mit mindestens vier oder mehr Freunden und sind mit der Größe ihres Freundeskreises auch zufrieden. Eine unzureichende soziale Integration ist durch weniger als vier Freunde und der gleichzeitigen Unzufriedenheit mit der Anzahl der Freunde gekennzeichnet und wird auf den Schichteffekt zurückgeführt. Diese unzureichende Integration ist bedingt durch zu wenig Spielfreunde im Wohngebiet, was wiederum durch das Wohnumfeld verstärkt wird: Kinder der unteren Herkunftsschichten leben etwas häufiger in infrastrukturell schlechter ausgestatteten Wohngebieten, die wenig Raum für Kinder bieten.

Wie ein roter Faden zieht sich der Schichteffekt durch die Analyse der kindlichen Lebenslagen. In Kapitel fünf wird die Freizeit von Kindern beschrieben. Fernsehen und Medienkonsum sind hier die zentralen Themen und es zeigt sich auch in der Freizeitgestaltung ein deutlicher Schichteffekt: Kinder aus gehobenen Schichten verfügen über größere Handlungsspielräume, und ihr familiärer Bildungshintergrund eröffnet ihnen viel selbstverständlicher den Zugang zu einer vielfältigen und kreativen Form der Freizeitgestaltung. Fernsehen ist hier weitaus häufiger nur eine Aktivität neben anderen. Anschließend werden in Kapitel sechs Wünsche, Ängste und erste politische Interessen von Kindern thematisiert.

Im zweiten Teil der Studie werden zwölf gut zu lesende Kinderporträts dargelegt. Methodisch wurde hier sehr sorgfältig vorgegangen. Es wurde ein differenziertes Sampling vorgenommen und mit den Kindern eine transparent dargestellte Netzwerkanalyse durchgeführt. Es stellt sich jedoch die Frage nach der Triangulation: Es wird der Leserin und dem Leser selbst überlassen, Schlüsse aus den qualitativen Interviews zu ziehen (237), was als unbefriedigend angesehen werden kann, da das „Material“ nicht unbedingt für sich spricht. Hier wäre eine inhaltlich-theoretische Verknüpfung zum ersten Teil der Studie wünschenswert gewesen, in dem in der quantitativen Studie z. B. zentrale Aussagen der Kinder oder kurze Interviewpassagen aufgenommen worden wären, um die Befunde mit der selbst erzählten Lebenswelt der Kinder zu veranschaulichen. Insofern zerfällt die Studie in zwei weitgehend zusammenhanglose Teile.

Fazit: Die empirisch belegten und anschaulich dargestellten Befunde zu den zentralen Lebensbereichen von Kindern sind wichtig und untermauern, was viele andere Kinderstudien und Kinderberichte thematisieren: Dem größten Teil der Kinder in Deutschland geht es gut bis sehr gut und sie sind mit sich und ihrer Lebenswelt zufrieden. Aber: Es geht es nicht allen Kindern in Deutschland gut. Die hier vorgestellte Kinderstudie zeigt deutlich auf, wie nachhaltig bereits im Kindesalter die sozialen Unterschiede sind und wie maßgeblich die soziale Herkunft den Alltag der Kinder prägt: „Kinder haben je nach Schichtzugehörigkeit unterschiedliche Gestaltungsspielräume. Die schlechteren Startchancen von Kindern aus den unteren Herkunftsschichten ziehen sich wie ein roter Faden durch den Alltag und wirken wie ein Teufelskreis. Armutsrisiken und fehlende häusliche Ressourcen führen zu geringeren Teilhabemöglichkeiten: in der Familie, in der sich materieller Druck und existentielle Sorgen auswirken und die dann häufig überfordert ist, in der Schule, in der die meist notwendige Zeit und die Möglichkeiten für eine individuelle Förderung zum Ausgleich von Nachteilen fehlt.“ (17)

Ein Teil der Kinder ist in erheblichem Maße von sozialer Ungleichheit betroffen. Von Chancengleichheit und gerechten Bedingungen des Aufwachsens kann keine Rede sein. Es zeigen sich vielmehr soziale, kulturelle und ökonomische Segregations- und Exklusionstendenzen, die vor allem Kinder aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status und aus Migrant/innenfamilien betreffen. Insofern fügt sich die World Vision Kinderstudie nahtlos in den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand, der sich auch in den letzten Kinder- und Jugendberichten spiegelt, und es wird dieselbe kinderpolitische Stoßrichtung vorgeschlagen wie in der Unicef-Studie: „Die Verantwortung des ganzen Dorfes ist zu aktivieren“ (370), das heißt es ist eine kinder- und familienfreundliche, bürgerschaftliche Infrastruktur zu schaffen, die alle Institutionen und Bereiche der Gesellschaft einbezieht. Es geht darum, die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern zu stärken und die in Deutschland in den letzten Jahrzehnten in der Bildungs- und Kinderpolitik strukturell unzureichenden getroffenen Entscheidungen zu überwinden.

Die vorliegende Studie ist ohne Frage lesenswert und die Argumentation ist schlüssig. Allerdings zeigt sich neben der methodischen Schwäche der fehlenden Triangulation auch im Nachhinein, dass es World Vision in erster Linie um die Thematik der sozialen Ungleichheit in den Lebenslagen von Kindern geht als darum, die Perspektive von Kindern auf ihre Lebenswelt zu erfassen. Dies geschieht zwar auch, aber nicht in dem Maße, wie es das Vorwort hätte erwarten lassen.

Das Buch sollte von Politikerinnen und Politikern, den Fachkräften in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sowie von Eltern gelesen werden und es eignet sich ohne Einschränkungen für die Lehre in den einschlägigen Studiengängen, um sich ein Bild von den (ungleichen) Lebenslagen und -situationen heutiger Kinder und Kindheit zu machen.
Magdalena Joos (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Magdalena Joos: Rezension von: V., World Vision Deutschland e.: Kinder in Deutschland 2007, 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main: Fischer 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3596177202.html