Machtanalytische Forschungen im Anschluss an Michel Foucault nehmen seit einiger Zeit – auch im erziehungswissenschaftlichen Feld – breiteren Raum ein. Für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen sind diese Forschungen besonders relevant, insofern sie die Frage nach der Gewordenheit des Subjekts, nach der spezifischen Form gegenwärtiger Subjektivität und die damit im Zusammenhang stehende Frage nach der sozialen Ordnung unter Einbezug machttheoretischer Perspektiven diskutieren. Die sozialtheoretische Ausrichtung dieser Forschungsrichtungen wird auch von den beiden HerausgeberInnen Silke van Dyk und Johannes Angermüller herausgestellt: Den Ausgangspunkt des Bandes sehen sie in der jüngst in Soziologie wie Erziehungs-, Politik- und Kulturwissenschaften breit diskutierten Einsicht, dass Gesellschaft keine selbstidentische Einheit abgibt, auf die sich ohne weiteres theoretisch, analytisch oder praktisch bezogen werden könnte. Diskursanalyse und Gouvernementalitätsforschung werden dabei als zwei Perspektiven hervorgehoben, die diesem Umstand Rechnung tragen (7). Das Anliegen des Bandes bestehe darin, „fließende Grenzen und wechselseitige Anleihen der Forschungsperspektiven“ in eine „systematische Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Anschlüsse und Ausschlüsse theoretischer wie methodischer Art“ (11) zu bringen.
Das im Titel aufgerufene „Meeting“ gerät dabei in den meisten Beiträgen weniger zu einem Austausch, als vielmehr über den gesamten Band hinweg zu einer beinahe einhellig anmutenden Kritik an den Gouvernementalitätsanalysen [1]. Die dabei vertretenen Positionen differieren – hinsichtlich der Gegenstände, Methoden, Forschungslogiken und Fokussierungen – sehr stark und sind sich doch im Großen und Ganzen einig in ihrer Kritik an einer zu formal und zu wenig empirisch-analytisch vorgehenden Gouvernementalitätsforschung. Diese gerät dabei von vielen Seiten aus in die Kritik, ohne dass jemand zu ihrer Verteidigung antreten würde. Während Reiner Keller ihr vorwirft, sich in „Essayistik“ (51) zu erschöpfen, kritisieren die körpersoziologisch arbeitenden SoziologInnen Alkemeyer und Villa, sie sei strukturalistisch orientiert (323) und die ErziehungswissenschaftlerInnen Wrana und Ott vermissen eine Fokussierung auf die Praktiken der Machtausübungen.
Der Band stellt also weniger ein Gespräch auf Augenhöhe zwischen Diskursanalyse und Gouvernementalitätsanalysen dar, die sich wohl schnell in der Frage nach der Methode und Methodisierbarkeit erschöpfen würde [2], als dass vielmehr die Möglichkeiten einer analytischen Perspektive auf das „Verhältnis von Sprache, Macht und Subjekt“ (so der Untertitel des Bandes) diskutiert werden.
Ich werde im Folgenden einige der Beiträge ausführlicher darstellen. Da der Band keine thematische Gliederung der insgesamt 12 Beiträge anbietet, greife ich jene heraus, an denen sich sowohl analytische Stärken in der Forschungslogik und / oder am Gegenstand oder aber die zentralen Diskussionslinien des Gesprächs zwischen Diskursanalysen und Gouvernementalitätsforschungen aufzeigen lassen.
Reiner Kellers nachträglich in den Band aufgenommener Beitrag etwa wirft den Gouvernementalitätsstudien vor, sich in ihrem Erkenntnisgehalt „erschöpft“ zu haben (43), insofern diese zwar die variantenreichen Logiken der Regierung zu beschreiben vermögen, zugleich jedoch darin eine „gegenwärtige Redundanz der Gouvernementalitätsperspektive“ (47) zu verzeichnen sei. Ob ausgerechnet die von Keller vertretene Wissenssoziologische Diskursanalyse mit ihrem Bias einer subjektorientierten und machtfreien Arena vorliegender und hermeneutisch zu erkundender Wissensbestände die „Komplexität des Sozialen“ (68) in den Blick zu bringen vermag, wäre an dieser Stelle zu fragen. Der hohe Preis für die Überformung der machtanalytischen Perspektive durch hermeneutische Ansätze wird hier zwar als methodologische und methodische Ausarbeitung im Sinne eines Gewinns deklariert. Dass die Foucaultsche Perspektive gerade hinter die Leere solcher methodologischen Argumentationen ein Fragezeichen setzt und darin nicht zuletzt „Machtangelegenheiten“ [3] vermutet, ist verschiedentlich bemerkt worden [4]. Kellers Argumentation einer fehlenden methodologischen Ausarbeitung wird jedoch auch seitens der VertreterInnen der Gouvernementalitätsforschung gestützt.
So sehen etwa Ulrich Bröckling und Susanne Krasmann die Gefahr, dass „Gouvernementalitätsstudien repetitiv“ (33) erscheinen, den Eindruck einer „Homogenität von Rationalitäten und Technologien des Regierens sowie von Subjektivierungsformen“ (34) erzeugen und eine Teleologie der Regierungslogiken im Sinne einer Verfeinerung anlegen (ebd.). „Dislokationen, Übersetzungen, Subversionen und Zusammenbrüche[n] des Regierens“ (38) erhielten bisher kaum einen analytischen und theoreti¬schen Stellenwert innerhalb der Gouvernementalitätsstudien.
Für die beiden AutorIn¬nen liegt darin nicht nur ein methodologisches Problem, sondern auch die Frage nach dem (theorie-)politischen Einsatz, d.h. die Frage nach Kritik und Widerstand (35ff). Ebenso wie methodologisch und methodisch angefragt werden kann, wie Programme und Regime in ihrem Grad der Abgeschlossenheit empirisch zu „identifizieren“ sind, lässt sich (theorie- und erkenntnis-)politisch die Frage stellen, inwiefern der Mächtigkeit von Regierungsrationalitäten Unterstützung gewährt wird (35), indem Widerständigkeiten aus dem Forschungsfokus abgeblendet werden. Der Vorschlag der AutorInnen geht dahin, „Kritik als Problematisierung“ (37) zu fassen und Uneinheitlichkeiten sowohl in der Beschreibung von Programmlogiken systematisch zu verankern als auch in widerständigen Praktiken zu untersuchen.
Die ErziehungswissenschaftlerInnen Marion Ott und Daniel Wrana untersuchen Profiling-Maßnahmen mittels einer Verknüpfung diskursanalytischer und ethnographischer Method(ologi)en. Sie nehmen das von ihnen in den Gouvernementalitätsstudien ausgemachte Spannungsfeld von Programmen und Praktiken zum Ausgangspunkt ihrer Kritik und „plädieren […] für eine Analyse von Machtverhältnissen, die die Untersuchung von Praktiken im Modus ihres Vollzugs einbezieht und die auch die Widerstände, die unerwarteten Gebrauchsweisen und die Gegenprogramme als Prakti¬ken begreift und nicht den Individuen zuschreibt“ (159). Ihre Analysen diskursiver Praktiken lassen dabei offen, wie das Verhältnis von Diskursivität und Sozialität gefasst werden kann und konzentrieren sich auf ethnographische Materialien, in denen heterogene und sich „überblendende Artikulationsszenarien“ (178) von Programmen untersucht werden.
Im Beitrag zur „Regierung des Alter(n)s“ (Denninger / van Dyk / Lessenich / Richter) wird weniger ein Schlagabtausch als vielmehr eine produktive und sehr stimmig ausgewiesene Verwendung sozial- und machttheoretischer Konzepte für den Forschungsprozess verdeutlicht. Dass Diskursivität sich nicht in Textlichkeit erschöpft, dürfte als ausdiskutiert gelten. Wie aber verschiedene Materialien, in denen diskursive Praxen sich ereignen, empirisch und systematisch miteinander verbunden werden können, wird in diesem Beitrag bis hin zu ersten Ergebnissen einer solchen Forschung fundiert dargestellt. Über ein mit Deleuze eingeführtes Konzept des Dispositivs als „Form der Verknüpfung heterogener Elemente“ (219) und dem Vorschlag einer Darstellung empirischer Ergebnisse in Form von "storylines" (222 ff), welche der Komplexität von Figuren wie „Unruhestand“ (222) und „Produktives Alter“ (225) Rechnung tragen, wird das analytische Vorgehen der AutorInnen gut nachvollziehbar gemacht.
Den vor allem auch für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen sehr spannen¬den Gegenstand der „Neuropädagogik“ untersucht Sabine Maasen im „Zwischen¬reich von Gouvernementalitäts- und Diskursanalyse“ (202). Deren Verknüpfung in Verbindung mit einem analytisch situierten Wissensbegriff nimmt einen Blick auf „Bildung und Erziehung“ als „beispielhaftes Handlungsfeld“ (187) ein, in dem die „quasi-natürliche Allianz“ (195) von Pädagogik und Neurowissenschaften ihrer „Quasi-Evidenz“ (188) durch eine fundierte Analyse dieser als „Neurogouvernementality“ (Titel) bezeichneten Regierungsform entrissen wird.
Maasens Fazit sieht im Zuge dieser hegemonial werdenden Artikulationsform von Sozialität „Gehirn und Gesellschaft [zu] füreinander wechselseitig konstitutive[n] Einschreibungsflächen“ (203) werden. Sie versteht ihre Analyse als Einsatz der „Fest-Stellung“ (203), um Möglichkeiten der Kri¬tik und Problematisierung „neurosozialer Regierbarmachung“ (203) dadurch zu eröff¬nen, dass die „Regime des (Un-)Sagbarmachens, (Un-)Sichtbarmachens und (Un-) Denkbarmachens“ (202) dem analytischen, und damit zugleich erkenntnispolitischen Blick zugeführt werden.
Im Großen und Ganzen wird in den Diskussionen des Bandes mit den Gouvernementalitätsanalysen eine Forschungsrichtung verabschiedet. Die Vorwürfe lauten meist, die Programmlogik nur noch illustrieren zu können oder aber das Verhältnis von Praktiken und Programm weder theoretisch noch analytisch systematisch erfasst zu haben (vgl. u.a. Keller, Bröckling / Krasmann, Ott / Wrana, Gräfe, Alkemeyer / Villa). So berechtigt die Kritik ist, fehlt dennoch auch eine Würdigung der Fragen, die nicht zuletzt besonders durch die Gouvernementalitätsforschung aufgeworfen wurden: Wie wirkt Macht? Wie funktioniert die unterwerfende Hervorbringung von Subjekten? Wie lassen sich Macht und Subjekt analytisch in den Blick nehmen?
Weitere Fragen, die sich quer durch den Band ziehen, wenn auch mit verschiedenen Nuancierungen diskutiert werden, betreffen das Verhältnis von Macht und Subjekt, die Frage der Widerständigkeit, der Kritik und schließlich auch die darin liegende Frage nach dem theorie- und erkenntnispolitischen Einsatz, der den Streit und das Treffen zwischen Diskursanalyse und Gouvernementalitätsforschung erst spannend werden lässt: Welche Rolle spielen theoretische und analytische Entscheidungen in ihrer Konzeptionalisierung sozialer Wirklichkeit? Welchen Raum geben sie der Perspektive auf die Veränderung sozialer Wirklichkeit? Wie ist das Verhältnis von Forschung und Politik bestimmt bzw. bestimmbar?
Jene Beiträge, die einen eigenen Blick aus der aufgeworfenen Problematik entwi-ckeln, wie der Diskursivität sozialer Wirklichkeit und von Subjektivität analytisch begegnet werden kann, zeigen die Stärke dieser Forschungsrichtungen für systematische Auseinandersetzungen im Zusammenhang von Subjektivität und Sozialität auf (Denninger / van Dyk / Lessenich / Richter, Maasen, Gräfe, Alkemeyer / Villa).
Innovativ ist der Band auch an jenen Stellen, wo er das engere Feld der Foucaultschen Diskursanalyse verlässt und neue Verbindungen sucht, wie etwa zu Laclaus Hegemonietheorie im Beitrag der Geographin Annika Matissek oder zu Butlerschen Theorieangeboten in den Überlegungen von Stefanie Gräfe zum „Eigensinn“. Hierzu zählt auch der Beitrag von Thomas Alkemeyer und Paula-Irene Villa, die Butlers Theorie sprachlicher Handlungsmacht mit dem Mimesis-Konzept verbinden, um die analytische Stelle einer Uneindeutigkeit von Normierungen konzeptionell zu fassen (319ff).
Mag hierbei auch die Differenz zwischen körperlichen und sprachlichen Bedeutungsebenen systematisch nicht einleuchten, so zeigt sich in diesem wie in vielen anderen Beiträgen des Bandes eine interessante Hinwendung zu praxeologischen Argumentationen. Die Fokussierung von Praktiken scheint dabei allseits als – gleichwohl theoretisch, analytisch und auch methodologisch erst in Ansätzen ausgearbeitete – Verheißung zu fungieren. Dass der Beitrag von Alkemeyer und Villa überhaupt – und zwar ohne eigene empirische Analysen vorzustellen – im Rahmen dieses Bandes einen Platz erhält, zeugt von der Hoffnung, die sich mit praxeologischen Argumentationen derzeit verbindet.
Zu empfehlen ist der Band also insgesamt vor allem jenen, die sich einen Überblick über derzeitige machtanalytische Forschungsperspektiven verschaffen wollen – die Breite der hier vertretenen Forschungsansätze diskurs- und gouvernementalitätsanalytischer Ausrichtung gewährt dafür einen guten Einblick. Jenen, die eher einen Einstieg in Forschungfragen suchen und sich Anschlüsse an diskurstheoretische Positionen Michel Foucaults, Judith Butlers, Ernesto Laclaus / Chantal Mouffes oder Jacques Derridas versprechen, wird der Band an einigen Stellen zu voraussetzungsvoll sein, weil er sich auf eine sehr spezifische Diskussion innerhalb dieses Feldes konzentriert.
[1] Vgl. jedoch den Bericht Jochen F. Mayers zum dem Band vorausgegangenen Workshop, der von weitaus mehr Austausch und offenen Fragen spricht, als sich in den versammelten Aufsätzen je für sich lesen lässt: Tagungsbericht Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Methodisch-Methodologische Perspektiven zum Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen. 12.06.2009-13.06.2009, Jena, in: H-Soz-u-Kult, 15.09.2009, http://hsozkult.geschichte.hu-ber¬lin.de/tagungsberichte/id=2785 [Abruf am 04.02.2012].
[2] Ein diese Frage systematisch aufgreifender Band erschien fast zeitgleich: Vgl. Feustel, Robert / Schochow, Maximilian (Hrsg.) (2010): Zwischen Sprachspiel und Me¬thode. Perspektiven der Diskursanalyse. Bielefeld: transcript.
[3] Koller, Hans-Christoph / Lüders, Jenny (2007): Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse. In: Ricken, Norbert/Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault. Pädagogische Lektüren. Bielefeld, S. 57-77, S. 72.
[4] Vgl. Angermüller, Johannes (2005): Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse in Deutschland. Zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion. In: Keller, Reiner / Hirseland, Andreas / Schneider, Werner / Viehöver, Willy (Hrsg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursfor¬schung, Konstanz, S. 23-49 bzw. auch aus systemtheoretischer Perspektive: Nassehi, Armin / Saake, Irmhild (2002): Kontingenz: Methodisch verhindert oder beobach¬tet? Ein Beitrag zur Methodologie der qualitativen Sozialforschung. In: Zeitschrift für Soziologie 31 (2), S. 66-86.
EWR 11 (2012), Nr. 2 (März/April)
Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung
Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen
Frankfurt am Main: Campus 2010
(341 S.; ISBN Frankfurt am Main; 34,90 EUR)
Kerstin Jergus (Halle / Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kerstin Jergus: Rezension von: Angermüller, Johannes / Dyk, Silke van (Hg.): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung, Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen. Frankfurt am Main: Campus 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://klinkhardt.de/?group_id=67&review_id=1467
Kerstin Jergus: Rezension von: Angermüller, Johannes / Dyk, Silke van (Hg.): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung, Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen. Frankfurt am Main: Campus 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://klinkhardt.de/?group_id=67&review_id=1467