Vor dem Hintergrund der Lebensphilosophie und der Existenzphilosophie, der Hermeneutik und der PhĂ€nomenologie sowie unter dem Vorzeichen der "RationalitĂ€t des Irrationalen" lĂ€sst sich die PĂ€dagogik von Otto Friedrich Bollnow als UnschĂ€rfe-Theorie der Erziehungswirklichkeit interpretieren und in eine gestimmte, eine gebrochene und eine geleitete Erziehungswirklichkeit unterscheiden. Dies ist die zentrale These des Buches "Otto Friedrich Bollnow" von Ralf Koerrenz, das in der von Alfred SchĂ€fer herausgegebenen Reihe "Ein pĂ€dagogisches Portrait" bei UTB 2004 erschienen ist. Das Buch ist in fĂŒnf Kapitel unterteilt, die aufeinander aufbauen, von methodischen ĂŒber philosophische zu pĂ€dagogischen Gesichtspunkten fĂŒhren und durch einen Ausblick, in dem AnschlĂŒsse an Bollnow aufgezeigt werden, abgerundet wird. Eine kurze Biographie liefert Einblicke in das Leben Bollnows, eine Auswahlbibliographie und ein SekundĂ€rliteraturverzeichnis weiterfĂŒhrende Anregungen.
Koerrenz beginnt seine Ăberlegungen im 1. Kapitel "Zwischen UnschĂ€rfe und Besser-Verstehen" mit dem Hinweis auf die umfangreiche Bibliographie Bollnows, um das Problem eines Zugangs zu seinem Werk zu verdeutlichen. Dieses scheint sich durch Bollnows Ablehnung gegenĂŒber jeglicher Systematik zu verschĂ€rfen. Gerade darin sieht aber Koerrenz einen möglichen Zugang zum Werk Bollnows – und glaubt, ihn hier ein erstes Mal ĂŒberlisten zu können (8). Er stellt folgende These auf: Es sei gerade der – von Bollnow nicht offen gelegte – immanente systematische Zusammenhang der erweiterten Interpretation der "Erziehungswirklichkeit", der Bollnows Werk geprĂ€gt und rezipierbar gemacht hat (9). Damit weist er zudem auf die heute eher seltene Tatsache hin, dass sich im Umkreis von Bollnow eine "Schule" entwickelt hat, was auch als Argument fĂŒr die Behandlung in der Reihe der pĂ€dagogischen Portraits angefĂŒhrt hĂ€tte werden können. Die GrĂŒnde fĂŒr diesen Erfolg Bollnows sieht Koerrenz in der Ausblendung zweier Fragestellungen: Zum einen vernachlĂ€ssige er konkrete gesellschaftliche VerĂ€nderungen, die durch Erziehung bewirkt werden oder durch welche Erziehung beeinflusst wird. Zum anderen schenke Bollnow konkreten pĂ€dagogischen Handlungsstrategien im Kontext wie Schule, SozialpĂ€dagogik und Erwachsenenbildung kaum Beachtung. Vor diesem Hintergrund charakterisiert Koerrenz gleich zu Beginn seines Buches die PĂ€dagogik Bollnows als "UnschĂ€rfe-Theorie" – unscharf, weil Bollnow selbst keine Systematisierung genannt habe und weil Bollnow einzelne Aspekte vernachlĂ€ssigt habe. Methodisch orientiert sich Koerrenz an seinem Portrait und glaubt, ihn hiermit ein zweites Mal ĂŒberlisten zu können (12). FĂŒr Bollnow nĂ€mlich bedeute Verstehen immer ein Besser-Verstehen, womit er sich in die Tradition um Dilthey einreiht. Dieses Vorgehen scheint dem Zweck nach geeignet zu sein und einen gangbaren Weg zu eröffnen. Allerdings ist er nicht der Einzige, wie die spĂ€teren hermeneutischen Studien, von denen nur Gadamer erwĂ€hnt sei, belegen.
Erwartet man sich in diesem 1. Kapitel, wie gewöhnlich fĂŒr wissenschaftliche BĂŒcher, eine Darlegung der Intention und der Zielgruppe, einen Ăberblick ĂŒber die Arbeit sowie die Einordnung in die Forschungslandschaft, so wird man leider und aufgrund des bereits Gesagten unnötigerweise enttĂ€uscht. Weder werden allgemeine Hinweise zur Reihe gegeben, was durch den Herausgeber getan hĂ€tte werden können, noch klĂ€rt Koerrenz selbst den Entstehungshintergrund seines Buches. Insofern bleibt offen, welchen Anspruch das Buch erhebt und an wen es sich richtet. Das Urteil von Glaser und Priem hinsichtlich der Reihe insgesamt scheint auch fĂŒr das Bollnow-Portrait von Koerrenz angemessen zu sein: Das Buch ist geeignet als Studientext, setzt eine intensive LektĂŒre von Quellentexten und ihrer Kontexte voraus und will historische und systematische Fragestellungen erörtern [1].
Im 2. Kapitel "Zwischen Lebensphilosophie und Existenzphilosophie" erfolgt in weitestgehender Anlehnung an Bollnows Darstellungen eine Zusammenfassung beider philosophischer Richtungen. Die BegrĂŒndung fĂŒr dieses Kapitel erfolgt am Ende der einleitenden Worte und somit etwas spĂ€t: Die BeschĂ€ftigung mit der Lebensphilosophie und der Existenzphilosophie gehöre unmittelbar zum VerstĂ€ndnis der PĂ€dagogik Bollnows hinzu, da in diesen Strömungen das Fundament fĂŒr Bollnows Sichtweise des Menschen und die damit verknĂŒpfte Lehre von der Erziehungswirklichkeit gelegt werde (18). Insgesamt betrachtet gelingt es Koerrenz, das SpannungsverhĂ€ltnis zwischen Lebensphilosophie und Existenzphilosophie herauszukristallisieren, was angesichts der KomplexitĂ€t der Aufgabenstellung ein schwieriges Unterfangen ist. Die wenigen Ungenauigkeiten, die vor allem in der Darstellung der Existenzphilosophie und in der Auseinandersetzung mit Heidegger auftreten (z. B. 31 und 33), stören daher nicht. Weitaus fragwĂŒrdiger erscheint die in diesem Zusammenhang zum ersten Mal auftretende und bis ans Ende des Buches weitergefĂŒhrte Position des "Ja, aber!" (z.B. 37), mit der Bollnows grundsĂ€tzliche Einstellung charakterisiert wird: Kann diese damit (sprachlich und inhaltlich) angemessen umschrieben werden? Der Schlussgedanke, dass Bollnow letzten Endes dem Denkrahmen der Lebensphilosophie verbunden bleibe, ĂŒberzeugt hingegen wieder.
Das 3. Kapitel umschreibt Koerrenz mit "Die RationalitĂ€t des Irrationalen" und stellt darin (nochmals) einzelne wissenschaftstheoretische und methodische Ăberlegungen Bollnows vor, ohne sie aber explizit in den Gesamtzusammenhang des Buches einzuordnen. Insofern erscheint dieses Kapitel isoliert, worauf auch die Wiederholung der Ausgangsthese des Buches am Ende des Kapitels hindeutet (57). Bis zu dieser Stelle ist beinahe die HĂ€lfte des Buches erreicht und fast ausschlieĂlich philosophischen Ăberlegungen gewidmet worden. Dass Bollnow ein GrenzgĂ€nger zwischen Philosophie und PĂ€dagogik ist, hat er selbst bekundet und wird von Koerrenz auch erwĂ€hnt (11). Insofern ist eine derartig ausfĂŒhrliche Beleuchtung des philosophischen Hintergrundes vertretbar, vielleicht sogar notwendig. Aber: FĂŒr einen pĂ€dagogisch interessierten Einsteiger kann dies, vor allem wenn nicht offen gelegt wird, an wen sich das Buch richtet und was damit erreicht werden soll, ernĂŒchternd und unter UmstĂ€nden abschreckend wirken. Dies muss nicht als ein Mangel des Interpreten gedeutet werden. Es kann auch ein Mangel des philosophischen PĂ€dagogen oder, vielleicht besser gesagt, des pĂ€dagogischen Philosophen Bollnow sein.
Daran schlieĂt das 4. Kapitel "Die Lehre der Erziehungswirklichkeit" an, das aus pĂ€dagogischer Sicht das gröĂte Interesse verdient: WĂ€hrend die vorausgehenden Kapitel viel Hintergrundwissen erörtern, geht es in diesem Kapitel um pĂ€dagogische Fragen als solche. Im Mittelpunkt steht dabei die fĂŒr Bollnow zentrale Aufgabe der "deutenden Erforschung der Erziehungswirklichkeit" (59), wobei Koerrenz drei Dimensionen herauskristallisiert: Die gestimmte, die gebrochene und die geleitete Erziehungswirklichkeit. Mit dieser Unterteilung gelingt es ihm, die von Bollnow selbst nie genannte Systematisierung seiner PĂ€dagogik durch ein Besser-Verstehen offen zu legen.
Bei der Darstellung der drei Dimensionen der Erziehungswirklichkeit unterscheidet Koerrenz drei Aspekte – leider lĂ€sst er erst an dieser Stelle den Leser zum ersten Mal expressis verbis an seinem Vorgehen teilhaben: In einem ersten Schritt werde jeweils die Kennzeichnungen erlĂ€utert, die Bollnow aus seinen Studien zur Anthropologie der Gestimmtheit, der Gebrochenheit und der Geleitetheit allgemein gewinnt. In einem zweiten Schritt werde jeweils der Beitrag Bollnows zur deutenden Erforschung der Erziehungswirklichkeit dargestellt. In einem dritten Schritt werde auf die Folgerungen eingegangen, die sich daraus fĂŒr die Haltung der Erziehenden ergeben (60).
Als Erstes behandelt Koerrenz die gestimmte Erziehungswirklichkeit und stellt diese, ausgehend von Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, klar und deutlich heraus. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass fĂŒr Bollnow der Mensch immer irgendwie gestimmt, vor allem das hoffende Wesen sei (66), wonach Geborgenheit, Hoffnung, Vertrauen zentrale Kriterien einer pĂ€dagogischen AtmosphĂ€re sind. Diese steht neben einem entsprechenden pĂ€dagogischen Bezug, der getragen wird von gegenseitigem Vertrauen, im Zentrum einer gestimmten Erziehungswirklichkeit. Die RĂ€umlichkeit und die Zeitlichkeit des Daseins, die Bollnow zeitlebens beschĂ€ftigten, hĂ€tten an dieser Stelle intensiver berĂŒcksichtigt werden können. Allerdings, so die Argumentation und Ăberleitung zur gebrochenen Erziehungswirklichkeit von Koerrenz, reiche diese Charakterisierung der Erziehungswirklichkeit nicht aus, um sie angemessen erfassen zu können. In all dieser faktisch erforderlichen und pĂ€dagogisch zu fördernden KontinuitĂ€t gĂ€be es auch BrĂŒche und DiskontinuitĂ€ten, die Bollnow unter dem Gesichtspunkt der unstetigen Formen der Erziehung thematisiert (77) und von Koerrenz als gebrochene Erziehungswirklichkeit bezeichnet wird.
Diese wird ebenso wie die gestimmte Erziehungswirklichkeit aus dem Spannungsfeld zwischen Lebensphilosophie und Existenzphilosophie abgeleitet, wodurch ein innerer Zusammenhang zwischen beiden bestehe (78). Die gebrochene Erziehungswirklichkeit hat ihren Ursprung in der Bedeutung und der Macht des Augenblickes, wie es die Existenzphilosophie lehrt. Der Augenblick sei es, der zu Unstetigkeiten und zu DiskontinuitĂ€t fĂŒhre. Das Leben selbst verlaufe nicht stetig und kontinuierlich. Das Entscheidende und auch Neue an der Lehre der gebrochenen Erziehungswirklichkeit von Bollnow bestehe darin, dass Bollnow als Erster diese Gebrochenheit ins Bewusstsein pĂ€dagogischer Ăberlegungen gebracht und fruchtbar gemacht hat. Denn fĂŒr die Erziehenden lĂ€sst sich nach Auffassung von Koerrenz folgern, dass sie ĂŒberhaupt in der Lage sein mĂŒssen, die Besonderheit von bestimmten Augenblicken wahrzunehmen, sie als positive Situation zu akzeptieren und zugleich ihre begrenzte Planbarkeit einzusehen (96).
In diesem Zusammenhang gelingt es Koerrenz seine UnschÀrfe-Theorie an einem weiteren Punkt zu belegen: Erziehung verlÀuft nicht stetig und kontinuierlich, sondern wird durch Unvorhergesehenes unterbrochen, das jedoch nicht ignoriert, sondern in seiner Tragweite beachtet werden muss. Insofern gehe es in der Lehre von der gebrochenen Erziehungswirklichkeit um einen geschulten pÀdagogischen Blick, der den positiven Eigenwert von Ausnahmesituationen in der Erziehung zu erkennen vermöge (97).
Die dritte Dimension der Erziehungswirklichkeit, die Koerrenz in der PĂ€dagogik Bollnows ausmachen kann, sieht er weniger im Spannungsfeld von Lebensphilosophie und Existenzphilosophie begrĂŒndet, als vielmehr in der Biographie Bollnows und seiner Tugendlehre, die insbesondere vom platonischen Denken ausgeht. Koerrenz untermauert dabei seine Aussagen durch interessante Anmerkungen aus dem Leben und dem Werdegang Bollnows, die, vermehrt eingesetzt, die Argumentation aus historischer Perspektive weiter stĂŒtzen hĂ€tten können.
Durch die Bindung des Menschen an eine Kultur sei fĂŒr Bollnow die Wirklichkeit stets von einer Diskussion ĂŒber die BegrĂŒndbarkeit und GĂŒltigkeit von Werten und Normen bestimmt. Gleiches gelte fĂŒr die Erziehungswirklichkeit, die dementsprechend immer geleitet erscheint (98). Koerrenz fasst unter dem daraus gefolgerten Stichwort der geleiteten Erziehungswirklichkeit zwei Aspekte der PĂ€dagogik Bollnows zusammen und versucht sie zu systematisieren: Zum einen zĂ€hlt er dazu die Idee der elementaren, einfachen Sittlichkeit, zum anderen die VerhĂ€ltnisbestimmung von Vernunft und Verstand und dem damit verbundenen MaĂhalten. Dabei ist er der Meinung, WidersprĂŒchlichkeiten im Denken Bollnows festzustellen, die er mit "konsequent inkonsequent" umschreibt (z. B. 106). Ob damit die Sachlage angemessen charakterisiert wird, sei auch an dieser Stelle dahingestellt. Ăberzeugend hingegen ist wieder der Schluss, den Koerrenz aus seiner Systematisierung zieht: Es gelte der MaĂstab der elementaren, einfachen Sittlichkeit und die Herrschaft der Vernunft ĂŒber den Verstand, die sich sowohl im pĂ€dagogischen Bezug als auch in den Zielen der Erziehung niederschlagen.
Koerrenz schlieĂt sein pĂ€dagogisches Portrait von Bollnow mit einem Kapitel, das er "AnschlĂŒsse" nennt. Hierin werden, wie die KapitelĂŒberschrift suggerieren kann, nicht nur einzelne positive AnschlĂŒsse (z. B. Giel, BrĂ€uer, Loch und stellvertretend fĂŒr Japan Morita) erwĂ€hnt, sondern auch die fĂŒr Bollnow schmerzhafte, aber aus historischer Sicht interessante Kritik von Adorno. Das Schlusswort bleibt aber alles in allem in einem AbschlussplĂ€doyer verhaftet. Ein ausfĂŒhrlicher Hinweis auf den aktuellen Forschungsstand bezĂŒglich der PĂ€dagogik Bollnows mĂŒsste weitere Aspekte berĂŒcksichtigen.
Summa summarum lĂ€sst sich festhalten: Koerrenz gelingt es durchaus Bollnow zu "ĂŒberlisten". Sein Systematisierungsversuch der PĂ€dagogik Bollnows ist ĂŒberzeugend und ausbaubar. Die Unterteilung der Erziehungswirklichkeit in eine gestimmte, gebrochene und geleitete Dimension eröffnet einen interessanten Zugang zum Werk Bollnows. Mehr Transparenz hinsichtlich der Intention und der Zielgruppe des Buches sowie der Argumentationslinien hĂ€tten der Ăberzeugungskraft dienlich sein können und von vornherein Unklarheiten und Unstimmigkeiten vermieden. Wer sich also fĂŒr Bollnow interessiert und sich bereits mit ihm (pĂ€dagogisch und philosophisch) auseinandergesetzt hat, wird das Buch von Koerrenz mit Gewinn lesen.
[1] Glaser, Edith/Priem Karin: Klassiker-Renaissance? Neue StudienbĂŒcher der Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaftliche Revue 2 (2003). Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.8.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/Klassiker.htm>
EWR 4 (2005), Nr. 3 (Mai/Juni 2005)
Otto Friedrich Bollnow
Ein pÀdagogisches Portrait
Weinheim/Basel: Beltz(UTB) 2004
(134 S.; ISBN 3-8252-2484-8; 14,90 )
Klaus Zierer (Regensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus Zierer: Rezension von: Koerrenz, Ralf: Otto Friedrich Bollnow, Ein pĂ€dagogisches Portrait, Weinheim/Basel: Beltz(UTB) 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82522484.html
Klaus Zierer: Rezension von: Koerrenz, Ralf: Otto Friedrich Bollnow, Ein pĂ€dagogisches Portrait, Weinheim/Basel: Beltz(UTB) 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/82522484.html