EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)

Hein Retter
Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie
Studien zur Pädagogik Peter Petersens
(Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte, Bd. 1)
Frankfurt a.M.: Lang 2007
(933 S.; ISBN 3-631-56794-4; 98,00 EUR)
Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie Der Autor, der schon mit einigen Veröffentlichungen zum Thema hervorgetreten ist, legt mit diesem Band ein wahres Schwergewicht vor. In einer ausführlichen Biografie Petersens wird man zunächst auf ca. 560 Seiten auf der Basis von Literatur- und Quellenstudium über dessen Leben und Wirken im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen en détail informiert. Wie Retter aber zu Recht am Anfang des zweiten großen Abschnitts, der systematischen Analyse von Petersens Werk, hervorhebt, lassen sich aus Biografien zwar „wichtige Hinweise“ für die Werkanalyse gewinnen, aber „nicht alle Aspekte“ des Denkens Petersens sind biografisch erschließbar (569). Im Folgenden wird auf mehr als 200 Seiten die Grundthese, dass der Schlüssel zum Verständnis Petersens in dessen „Antwort auf die soziale Frage“ liege (ebd.), entfaltet und plausibel gemacht.

Retter platziert Petersen zwischen die Fronten der verschiedenen –ismen (Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus) der Zeit (und bis heute) sowie der christlichen Soziallehre, die ihn alle beeinflusst haben, ohne dass er einer einzigen Richtung zugerechnet werden könne. Auch die „Lehrer“ Petersens, von Lorenz vom Stein bis Wilhelm Wundt und Karl Lamprecht, werden in diesem Kapitel ausführlich vorgestellt und die Fragen diskutiert, welche Bedeutung sie für Petersen hatten und wie dieser seine eigene Position jeweils formulierte. Schließlich wird im engeren Sinne eine systematische Analyse der Petersenschen Erziehungswissenschaft vorgenommen, die sich auf die pädagogischen, anthropologischen und soziologischen Grundbegriffe, hier insbesondere auf den zentralen Gemeinschaftsbegriff, bezieht.

Den dritten, im Verhältnis sehr kurzen Abschnitt bildet eine von Retter so genannte metahermeneutische Studie über die Kontroverse zu Petersens Verhältnis zum Nationalsozialismus, die seit den 1980er Jahren die Debatten prägt. Retter, selbst an dieser Kontroverse beteiligt, zeigt hier eine Perspektive auf die Kontroverse auf, in der er die Beteiligten (also auch sich selbst) in den jeweiligen Interessen und Beziehungsstrukturen verortet und dadurch die Kontroverse zwar nicht beendet, aber durchsichtig machen kann. Im Fazit kommt Petersen bei Retter nicht als strahlender Held, aber auch nicht als dunkler Bösewicht zum Vorschein, sondern – ähnlich wie bei Thorsten Schwan (vgl. die Annotation EWR 7 (2008) 6) als Pragmatiker, der unter allen Umständen seinem Jenaplan zum Durchbruch verhelfen wollte, was mit Anpassungen und Verdrehungen einherging, die auch noch die Rezeption Petersens nach seinem Tode kennzeichnen sollten. Ein lesenswertes Buch, nur leider sehr dick, wie so viele Studien, die sich an einer Person und deren Werk abarbeiten.
Klaus-Peter Horn (Tübingen)
Zur Zitierweise der Annotation:
Klaus-Peter Horn: Annotation zu: Retter, Hein: Reformpädagogik und Protestantismus im Ãœbergang zur Demokratie, Studien zur Pädagogik Peter Petersens (Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte, Bd. 1). Frankfurt a.M.: Lang 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/annotation/63156794.html