EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)

Bernhard Rauh / Désirée Laubenstein / Lars Anken / Hans-Ludwig Auer (Hrsg.)
Förderschwerpunkt Lernen – wohin?
Oberhausen: Athena 2012
(134 S.; ISBN 978-3-89896-486-9; 19,50 EUR)
Förderschwerpunkt Lernen – wohin? „Förderschwerpunkt Lernen – wohin?“ – eine, in Anbetracht der aktuell schwierigen Situation des Förderschwerpunktes, immer wieder neu zu stellende, aber keineswegs neue Frage, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Im Kontext der neuen Herausforderungen angesichts der Veränderungen des Bildungssystems in Deutschland in Richtung einer „Schule für alle“ und der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen stehen zunehmend Strukturen der Organisation der Förderung und damit immer wieder auch der Förderschwerpunkt selbst zu Diskussion. Aufgabe und Funktion, Zweck- und Zielbestimmung, inhaltliche Schwerpunktsetzungen werden kritisch hinterfragt, erfordern Rückbesinnung, neue Blickwinkel und weiterführende Antworten.

Das Buch versammelt Beiträge, die im Rahmen eines Fachtreffens der Hochschuldozenten/-innen im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen im Juli 2011 als Gesprächsimpulse präsentiert wurden. Die Beiträge sind für den vorliegenden Sammelband vertiefend ausgearbeitet worden und lassen eine doppelte Intention erkennen: zum einen sollen Standortbestimmungen für eine Weiterentwicklung des sonderpädagogischen Förderschwerpunktes Lernens und seines fachlichen Diskurses unter den oben genannten Rahmenbedingungen erfolgen, zum anderen geht es darum, Gespräche über Grundlagen, denkbare Neuausrichtungen und zielgerichtete Weiterentwicklungen unter Experten und Expertinnen in Gang zu bringen (10). Der vorliegende Band bietet die Möglichkeit, den begonnenen Austausch in schriftlicher Form weiter zu führen. Fachliche Arbeitszusammenhänge können konstituiert, gefestigt und weiterentwickelt werden. Lesende mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen sind nachdrücklich eingeladen, sich an diesem Gespräch aktiv zu beteiligen.

Bernhard Rauh, Désirée Laubenstein und Hans-Ludwig Auer skizzieren im ersten Beitrag des Bandes unterschiedliche Kontexte, die für die weitere Entwicklung des Förderschwerpunktes Lernen zentral sind. Sie heben hervor, dass eine spezifische Organisationsform oder eine bestimmte Personengruppe schon längst nicht mehr tauglich als Bezugspunkte für die Herstellung einer fachlichen Identität sind. Die Autoren und Autorinnen beleuchten auf der Suche nach einer Orientierung für ein neues Selbstverständnis zuerst die Hintergründe der aktuellen Diskussion und nehmen eine Bestimmung des Förderschwerpunktes unter verschiedenen Dimensionen vor. Sie zeigen Symptome einer zu vermutenden Krise auf und erörtern Möglichkeiten, diese zu bewältigen. Unter Einbezug des Einflusses des jeweilig zeitgeistigen Selbstverständnisses auf die fachliche Entwicklung sowie den Überlegungen zur Notwendigkeit gangbarer Kategorien wird am Ende die Frage nach Zweck und Ziel des Förderschwerpunktes Lernen in einem inklusiven Bildungssystem diskutiert (13).

Lars Anken erörtert in seinem Beitrag „Inklusion – Kernfrage oder Kernschmelze des Förderschwerpunkts Lernen?“ erkenntnistheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Inklusion und dem Förderschwerpunkt Lernen. In seiner konstruktivistisch geprägten Analyse von „Inklusion“ zeigt er exemplarisch auf, dass diejenigen Dimensionen von Heterogenität, die in der aktuellen, öffentlichen Diskussion im Mittelpunkt stehen, kaum diejenigen sind, die aus der Perspektive des Förderschwerpunktes Lernen als relevant erachtet werden müssen. Seine Ausführungen münden in der Überlegung, dass es über ein fachwissenschaftlich zu begründendes „Maß für Einbezogenheit“ hinaus ein „Maß für Einbezogenheit zweiter Ordnung“ bedarf, welches die Passung der beiden Maße der „öffentlichen“ und „persönlichen“ Einbezogenheit im Sinne ihrer Vereinbarkeit für jede Person individuell zu bestimmen versucht (45). Nur so sei es möglich, überhaupt sinnvoll über Inklusion zu sprechen.

Bernhard Rauh diskutiert die Angemessenheit des Begriffs Lernen für die Benennung der fachlich-wissenschaftlichen Arbeitsperspektive des Förderschwerpunktes und zur Bestimmung des fachlichen Gegenstands eines sonderpädagogischen Unterstützungssystems in der inklusiven Schule. Der Blick auf die Geschichte zeigt, dass gravierende Veränderungen im Bildungssystem, die mit deutlich erkennbaren Folgen für den Förderschwerpunkt verbunden waren, auch jeweils terminologisch gekennzeichnet waren. Deshalb fragt der Autor, ob der Begriff des Lernens im Kontext eines inklusiven Schulsystems noch als passend zu betrachten ist und schlägt alternative terminologische (und damit verbundene inhaltliche) Neuorientierungen vor.

Marc Thielen thematisiert aus der Perspektive einer lebenslagen- und lebensaltersensiblen Pädagogik Aspekte inklusiver Schulentwicklung. In kritischer Auseinandersetzung mit der Frage, ob ausschließlich individuelle Förderung im Rahmen inklusiven Unterrichts eine angemessene Antwort auf die sozialstrukturellen Problemlagen der Mehrheit der Kinder und Jugendlichen im Förderschwerpunkt Lernen darstellt, plädiert er dafür, deren soziale Lage in ihrer zentralen Bedeutung für inklusive Bildungsprozesse stärker als bisher zu reflektieren. Anschließend arbeitet er heraus, dass die Herausforderungen inklusiver Bildung nicht auf das Schulalter begrenzt sind, sondern die gesamte Lebensspanne betreffen. Je nach Lebensalter und zuständiger pädagogischer Teildisziplin erwachsen spezifische Notwendigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten, die der Autor für die Sekundarstufe in ihrer Bedeutung für den Förderschwerpunkt Lernen exemplarisch konkretisiert.

Ausgehend von der Überlegung, dass die Wirksamkeit eines inklusiven Bildungssystems anhand der erreichten Bildungsabschlüsse sowie des erfolgreichen Überganges in den Beruf nachzuweisen ist, gehen Tobias Hagen, Clemens Hillenbrand und Marie-Christine Vierbuchen der bisher in der deutschsprachigen Diskussion wenig bearbeiteten Frage nach, wie eine Förderung zur Prävention von Schulabbruch und Dropout, insbesondere für leistungsschwächere Schüler/-innen, aussehen kann. Sie zeigen damit exemplarisch auf, wie Auffassungen über fachliche Zuständigkeiten, hier die Expertise des Förderschwerpunkts Lernen, für die Bearbeitung von Themen im pädagogischen Diskurs platziert werden können.

Ergänzt wird der Band durch die von Désirée Laubenstein und Bernhard Rauh dokumentierte qualitative Auswertung zweier Expertendiskussionen über Gegenwart und Zukunft des Förderschwerpunkts Lernen. Betont werden zusammenfassend noch einmal die hohe Komplexität des Gegenstandes sowie die Vielfalt der damit verbundenen Problemlagen, die es, so scheint zumindest die Botschaft der Zeilen, gegenwärtig noch nicht möglich machen, die Frage nach dem „Wohin“ umfassend und eindeutig zu beantworten. Anregende Impulse für die weitere Diskussion gibt der Band jedoch mit auf den Weg.
Grit Wachtel (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Grit Wachtel: Rezension von: Rauh, Bernhard / Laubenstein, Désirée / Anken, Lars / Auer, Hans-Ludwig (Hg.): Förderschwerpunkt Lernen – wohin?. Oberhausen: Athena 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389896486.html