EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Karl-Ernst Ackermann / Oliver Musenberg / Judith Riegert (Hrsg.)
Geistigbehindertenpädagogik!?
Disziplin – Profession – Inklusion
Oberhausen: Athena 2013
(443 S.; ISBN 978-3-89896-477-7; 29,50 EUR)
Geistigbehindertenpädagogik!? Der vorliegende Band versammelt 19 Beiträge zu Geistigbehindertenpädagogik und/oder Inklusion im Spannungsfeld zwischen (theorieorientierter) Disziplin und (praxisbezogener) Profession. Er bearbeitet das Thema in drei Zugängen, jedem dieser Zugänge sind sechs, bzw. sieben Artikel zugeordnet. Im Folgenden werden die Themenbereiche I-III sowie einige ausgesuchte Beiträge kurz vorgestellt, bevor eine Einschätzung des Gesamtbandes gegeben wird.

Teil I nähert sich der Thematik aus historischer und systematischer Perspektive und befasst sich mit dem Verhältnis von Inklusion zu erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Theorie und Forschung (primär Bildungs-, Professions- und Systemtheorie). Dabei verdeutlicht der Beitrag von Heinz-Elmar Tenorth sowohl die moralisch-normative Aufladung des aktuellen Inklusionsdiskurses als auch dessen Drang zu eindeutiger Positionierung: „Das Gelände ist erneut vermint, Abweichung wird so wenig toleriert wie Distanz“ (17). Dieser normativen Aufladung steht jedoch auf der Ebene der Schulstruktur eine weitgehende Leerstelle gegenüber, was zur Folge hat, dass sich der Veränderungsdruck primär „auf die Lehrerbildung und die Profession“ (35) verlagert.

Vera Moser differenziert zwischen dem normativen Programm „Inklusion“ und dem – systemtheoretisch geprägten – analytischen Konzept gleichen Namens. Die Analyseperspektive bietet dabei den Vorteil, über die Unterscheidung von „Grade[n] von Inklusion“ (62) empirische Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen und die Hervorbringung von Exklusionssemantiken und deren Folgen für Lebenschancen zu thematisieren. Darüber ließe sich die Alles-oder-nichts-Logik normativ geprägter Beiträge zugunsten einer differenzierteren Betrachtung auflösen, was auch auf der Ebene praktischer Reformen neue Möglichkeiten eröffnen könnte.

Teil II befasst sich mit dem Verhältnis von Inklusion und der (wissenschaftlichen) Disziplin. Die Beiträge lesen sich wie eine Zusammenschau der aktuell zentralen Themen einer Geistigbehindertenpädagogik. Dabei handelt es sich a) um ihr Verhältnis zu Erziehungswissenschaft und Schulpraxis. Hier zeigt der Beitrag von Oliver Musenberg und Judith Riegert auf, dass die Rede von der Dekategorisierung in der schulischen Praxis eben nicht den Verzicht auf Kategorisierungen nach sich zieht, sondern vielmehr eine neue Differenzlinie eröffnet, die zwischen „inkludierbaren“ und „nicht inkludierbaren“ SchülerInnen verläuft (155). Eine Folge davon ist, dass angestrebte Reformen insbesondere an den SchülerInnen mit sogenannter schwerer Behinderung vorbei gehen.

Daneben werden b) Fragen der Selbst- und Stellvertretung thematisiert, z.B. im Beitrag von Markus Dederich. Ausgehend von der Verwunderung darüber, dass wenig (und einseitig negativ) über Stellvertretung gesprochen wird, während sie gleichzeitig pädagogischer Alltag ist, nimmt sich Dederich der Figur der Stellvertretung an. Seine Analyse mündet in eine Kritik des Begriffs des modernen Subjekts. Diese bezieht sich vor allem auf die Überbetonung des Konzepts der Autonomie, wodurch die grundlegende menschliche Erfahrung der Ausgesetztheit vernachlässigt wird (198ff).

Dritter thematischer Schwerpunkt ist c) eine Analyse des problematischen Kerns des Faches: der sogenannten geistigen Behinderung. Hier ist insbesondere der Beitrag von Jan Weisser hervorzuheben, dem es überzeugend gelingt, sie als sinnbezogenen Fähigkeitskonflikt zu fassen. Dieser bezieht sich auf gesellschaftliche Erwartungen und ist somit konsequent in Interaktionsverhältnissen und nicht in Personen anzusiedeln (274f). Daneben verweist er jedoch auch auf gesellschaftliche Praxen geistiger Behinderung, „die sich in Sozialversicherungsgesetzen, sozialen und pädagogischen Hilfeleistungen, medizinischen Diagnose- und Verordnungspraktiken, Freizeitkulturen, Wohn- und Arbeitsstätten, usw. materialisieren“ (279). Darüber gelingt die Dopplung der theoretischen Dekonstruktion des Begriffs, ohne die realen Lebensbedingungen der „Subjekte von Behinderungserfahrungen“ (276) zu vernachlässigen.

Teil III schließlich bearbeitet das Verhältnis von Inklusion und Profession, indem einerseits Fragen der Professionalisierung thematisiert und andererseits empirische Ergebnisse aus verschiedenen Handlungsfeldern präsentiert werden. Bettina Lindmeier beschreibt den Wandel von merkmalsbezogenen Beschreibungen sonderpädagogischer Professionalität (die sonderpädagogisches Handeln tendenziell als eigenen Handlungstyp fassen) hin zu Beschreibungen, die von den Strukturproblemen pädagogischen Handelns ausgehen. Letztere sind deutlich anschlussfähiger an die sozial- und erziehungswissenschaftlichen Professionalitätsdiskurse (299ff). Prägend für die Sonderpädagogik ist dabei das „Ausbalancieren von Gleichheit und Verschiedenheit“ (309).

Der Beitrag von Wolfgang Dworschak, Sybille Kannewischer, Christoph Ratz und Michael Wagner liefert empirische Daten zu den Anforderungen im Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Er analysiert in detaillierter Form die Situation der Schüler/-innen hinsichtlich soziobiographischer Aspekte, Schriftspracherwerb, Pflegebedarf, Sprache und Kommunikation sowie Verhalten (316ff). Die Gründlichkeit der Betrachtung wird jedoch leicht getrübt durch die empirische Konstruktion eines „Gesamtverhaltensproblemwert[s]“ (335) bei gleichzeitiger Forderung an die Praxis „nicht vorschnell in Zuschreibungen wie >verhaltensgestört< oder >psychisch auffällig< zu verfallen“ (335). Eine konsequent ressourcenorientierte Perspektive dürfte sich nicht in Forderungen an die Praxis erschöpfen, sondern müsste auch die eigene Begriffsbildung umfassen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Anspruch des Bandes, „geistige Behinderung als kontingente Kategorie und historische Hervorbringung thematisierbar zu machen […], andererseits […] auf Exklusionsprozesse hinweisen zu können und nach deren Relevanz für das professionelle und disziplinäre Selbstverständnis zu fragen“ (11), weitgehend eingelöst wurde. Den Band durchziehen Fragen nach der Abgrenzung einer Geistigbehindertenpädagogik gegenüber anderen Schwerpunkten pädagogischen Handelns, die kritische Begleitung des normativ aufgeladenen bildungspolitischen Diskurses um Inklusion sowie Reflexionen auf die Kernprobleme des Faches. Die Bearbeitung dieser Fragen geschieht zu großen Teilen auf hohem fachlichem Niveau.

Problematisch ist die tendenzielle Unverbundenheit der einzelnen Beiträge zueinander sowie das sehr unterschiedliche Abstraktionsniveau: Es fehlt eine Reflexion darüber, inwiefern und aus welchen Gründen sich das Verständnis von Inklusion unterscheidet bzw. warum der Begriff so vielfältig und schillernd ist. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was jenseits des – ja auch nicht unproblematischen – gemeinsamen Gegenstandes „geistige Behinderung“ eigentlich ein organisierendes Prinzip in diesen Beiträgen bilden könnte. Dieses Manko ist jedoch primär der Struktur eines Sammelbandes geschuldet, dessen Funktion weniger die systematische Durchdringung eines Gegenstandes, sondern vielmehr die Darstellung seiner thematischen Breite ist. Letzteres ist über weite Strecken sehr gut gelungen.
Daniel Franz (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Franz: Rezension von: Ackermann, Karl-Ernst / Musenberg, Oliver / Riegert, Judith (Hg.): Geistigbehindertenpädagogik!?, Disziplin – Profession – Inklusion. Oberhausen: Athena 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389896477.html