EWR 6 (2007), Nr. 4 (Juli/August 2007)

Dietmar Gensicke
Irritation pädagogischer Professionalität
Vermittlungshandeln im Erziehungssystem in Zeiten individualistischer Habitusformen
Heidelberg: Carl-Auer 2006
(105 S.; ISBN 978-3-89670-366-8; 16,95 EUR)
Irritation pädagogischer Professionalität Im Rahmen des so genannten Bolognaprozesses befindet sich die Hochschullandschaft im Wandel. Charakteristisch für Folgen dieser Entwicklung sind die Akkreditierung von Studiengängen und die Begutachtung von Instituten, die verstärkt zu beobachtende Dienstleistungsorientierung oder die zunehmende Standortkonkurrenz. Vielfach werden Steuerungsansinnen bis auf die Ebene einzelner Lehrveranstaltungen an die Dozierenden adressiert. Und genau auf dieser Ebene des Vermittlungshandelns entsteht ein enormer Erwartungsdruck – seitens der Hochschulorganisation durch ‚Reformpoesie’ im Klima steuerungstechnologischer Machbarkeitsvorstellungen und seitens der Studierenden mit ihren individualistischen Ansprüchen an die jeweiligen Kurse.

Hier setzt Dietmar Gensicke an. Seine Ausgangsvermutung dabei ist, dass die beobachtbaren individualistischen Ansprüche der Studierenden Konsequenzen für die Bedingungen professioneller pädagogischer Vermittlung haben. Ziel seiner Reflexionen ist es, der "Reformsituation" geschuldete Belastungserfahrungen von Lehrenden in die Konstruktion pädagogischer Professionalität zu integrieren. Gensicke konstatiert, dass es zu seinem Untersuchungsvorhaben kaum Vorarbeiten gebe, so dass seiner Arbeit ein explorativer Charakter innewohne. Mit Recht fußt Gensickes theoretischer Zugriff nicht monolithisch auf einem Ansatz, so dass sein Theorieanspruch sich eher als intelligenter Eklektizismus kennzeichnen lässt. Ein selektiver Theorietransfer z.B. aus professionstheoretischen, individualisierungstheoretischen, hermeneutischen und wissenssoziologischen Bezügen soll nur so weit betrieben werden, als er einen Zugewinn für eine systemtheoretische Sichtweise auf Vermittlungshandeln im Hochschulsystem verspricht.

Gensickes übergeordneter Argumentationsgang orientiert sich an einem Dreischritt: Individualismus, Professionalität und Organisation lauten die jeweiligen reflexiven Etappenziele. Mit dem Stichwort Individualismus sollen zunächst die Anspruchshaltungen der Studierenden gegenüber Lehrveranstaltungen näher betrachtet werden. Dabei besitzt Gensicke ein deutliches Bild der studentischen Anspruchsindividualität. Beobachte man, wie Studierende über ihren universitären Alltag berichten, geschehe das häufig entlang von Stereotypen. So rankten sich z.B. die Monita der Studierenden mit Verweis auf den Dienstleistungsgedanken um die „Notwendigkeit besserer Betreuung“ im Studium. Dahinter stehe jedoch, so Gensicke, der basale Wunsch nach Einzelfallberatung zur Veranstaltungswahl mit Blick auf spezielle Berufswünsche. Auch die Forderung nach „interessanteren Seminaren“ ist so ein ähnlich gelagerter Fall. Konnte jemand dem Kursverlauf nicht folgen, da die der Veranstaltung zugrunde liegende Lektüre zu lesen vergessen wurde, reibt sich in Wirklichkeit die studentische Expressivität des Hier-und-Jetzt an der eigentlich notwendig asketischen Note des Studierens. Durchaus im Sinne einer an Bedeutung zunehmenden Reihenfolge wird die häufig von Studierenden bemühte Rhetorik des „mangelnden Praxisbezuges“ noch aufgegriffen. Immer wieder werde die Wissenschaftssprache in den Seminaren als zu abstrakt bemängelt, selten werde jedoch etwas als „zu konkret“ kritisiert. Hierin vermutet Gensicke das Bedürfnis der Studierenden nach autoritativer Klarheit, die auch in einem außeruniversitären Praxisfeld wegweisend ist, und eine ausgeprägte Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Eigenlogik.

Vielleicht ist dieses Bild als Beschreibung der Ist-Situation selbst etwas unterkomplex. Der Blick in wenig rezipierte Texte Luhmanns zum pädagogischen Takt könnte möglicherweise Abhilfe schaffen. Lehrveranstaltungen, auch wenn sie an einer Universität stattfinden, können nicht automatisch dem Wissenschaftssystem zugerechnet werden, sondern gehören eher zum Interaktionssystem Unterricht innerhalb der Domäne des Erziehungssystems. Für Gensicke ist das kein überraschender Befund. Unter pädagogischem Takt verstand nun Luhmann paradoxe Kommunikation, in der es um den Versuch geht, Einfluss zu nehmen, ohne die freie Selbstbestimmung des anderen offensichtlich in Frage zu stellen. Luhmann dachte zum einen an Lehrpersonen, die auf der Ebene der expliziten Kommunikation wohlmeinende Absichten zum Ausdruck bringen, zugleich aber Verärgerung und Ungeduld über die Lernenden mit anklingen lassen. Zum anderen kann man Luhmann zufolge auf der Seite des Verhaltens der Lernenden die gleiche Ambivalenz finden. Die Lernenden reagieren scheinbar sachlich auf die Anforderungen des Kurses. Für alle Beteiligten ist jedoch unübersehbar, dass es sich um akrobatische Kunststücke im Vorführen positiver und im Verdecken negativer Leistungen handelt. Taktvolle Kommunikation seitens der Lehrpersonen als auch der Lernenden ist als solche erkennbar. Daher können die Beteiligten wissen, dass die Kommunikation nicht ganz so gemeint ist, wie sie sich darstellt. Unterschwellig wird von beiden Seiten kommuniziert, dass diese Ambivalenz nicht thematisiert werden darf, ansonsten drohen peinliche Bloßstellungen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Gensicke behauptet nicht, dass bei allen Studierenden die Anspruchsindividualität gegenüber den Lehrveranstalten und der Hochschulorganisation stereotyp ausgeprägt ist. Es geht ihm auch nicht um eine elaborierte Publikumsbeschimpfung aus der Perspektive von Dozierenden. Vielmehr möchte er Einstellungen aufzeigen, die sich unter Studierenden etabliert haben und den Hochschulalltag mit beeinflussen. Während Luhmann mit seinem scheinbar rein deskriptiven Anspruch bereit ist, die „sozialen Kosten“ der paradoxen, taktvollen Kommunikation gut zu heißen – nämlich eine gesellige, aber relativ folgenlose Kommunikation im Unterricht – will Gensicke eine Reflexionsfläche schaffen, damit die im universitären Vermittlungsgeschäft Tätigen auf den zunehmenden Anspruchsindividualismus der Studierenden angemessen reagieren können. Er geht also bewusst das Wagnis ein, die Ambivalenz nicht nur subkutan wirken, sondern auch in die Oberflächenstruktur der Kommunikation dringen zu lassen.

Insgesamt werden durch Gensickes Theoriearbeit in dem ausführlichen ersten Kapitel zum Individualismus, das in etwa die Hälfte des Opus Magnum ausmacht, die Studierenden mit ihrem Anspruchsverhalten „entlastet“. In der heutigen paradox strukturierten „Wissensgesellschaft“ seien die Studierenden durch den Verlust zentraler sozialer Haltepunkte für Identitätsentwürfe genötigt, das Kommunikationsgeschehen, z.B. in Lehrveranstaltungen, individualistisch zu sondieren. Im Rahmen ihres persönlichen Kontigenzmanagements müssten die Studierenden geradezu Unruhe in die Funktionssysteme, zu denen auch das Interaktionssystem Lehrveranstaltung zählt, hineintragen. Als Leser begibt man sich mit dem ersten Kapitel auf eine Tour d’Horizon durch einen Denk- und Sprachstil, der streckenweise wegen zahlreicher theoretischer Verknüpfungen auch mittels Substantivierungsarabesken das erkenntnisleitende Ziel etwas aus den Augen verlieren lässt. Aber auch Gensicke muss entlastet werden: Die Textsorte Habilitation fordert unausgesprochen vom Verfasser, dass er zu Beginn seiner Studie ein abstraktes Gebäude errichtet, das die Rezipienten in den Schatten stellt. Ist diese geringe Beanstandung abgehakt, wird die Kritik schwierig, die Anerkennung einfach.

Im zweiten Kapitel ist Gensicke einer pädagogischen Professionalität auf der Spur, die an die studentischen Formen der Anspruchsindividualität im Hochschulalltag anschlussfähig ist. Treffsicher wird eine Bestandsaufnahme systemtheoretischer Überzeugungen in Sachen Professionalität formuliert. Professionswissen könne kein bloßes Applikationswissen sein und zeichne sich u.a. durch Eigenständigkeit und Nicht-Vermittelbarkeit aus. Zentral sei das Strukturmoment der Ungewissheit. Damit ist angezeigt, dass die Arbeitssituation von Lehrenden sehr viel komplexer ist als das dem professionell Handelnden zur Verfügung stehende Wissen. Klientenprobleme, d.h. Lernbedürfnisse von Studierenden, könnten nicht primär kausaladäquat im Sinne von Ableitungen oder Rezeptologien bearbeitet werden. In erster Linie gehe es beim Vermittlungshandeln um Sinnauslegungen und Problemdeutungen. Scharfsichtig erweist sich Gensickes Argumentation auch dort, wo er versucht, über die Reflexionsvorgaben Luhmanns zum Erziehungssystem hinauszugehen. So entwirft Gensicke ein Spektrum von Wissensformen im Vermittlungsprozess. An dem einen Ende situiert er das sich aus der Praxis speisende Handlungswissen, an dem anderen Ende liegt das Wissen der wissenschaftlichen Wissensdisziplinen. Diese Wissensformen werden nicht einfach kontrastiert, sondern als Einbettungen für weitere Abstufungen von Wissensformen innerhalb einer Theorie-Praxis-Palette betrachtet. Während neben dem Handlungswissen das professionelle Relationierungswissen steht, fügt sich neben dem Wissen der wissenschaftlichen Wissensdisziplinen das Reflexionswissen der Erziehungswissenschaft ein. In der Mitte der abschichtbaren, aber nicht hierarchisch angeordneten Wissenskomplexe steht, im Sinne eines Scharniers, das Reflexionswissen der Pädagogik. Der Luhmannschen Nomenklatur zufolge könnte diese besondere Wissensform entweder zum Wissenschaftssystem oder zum Erziehungssystem gezählt werden. Eingedenk der von Gensicke getroffenen Aussage, dass Vermittlungshandeln Anschlusshandeln bedeute, könnten als eine clevere Reaktion der Dozierenden auf die individuellen Ansprüche der Studierenden bis zu fünf Wissensformen in die Lehrveranstaltungen integriert werden. Damit wäre eine enorme Varianz geschaffen. Solche Erweiterungen dokumentieren, dass Gensicke systemtheoretisches Denken nicht zugunsten einer Popularisierung simplifiziert, sondern eher erfolgreich um eine Komplexitätssteigerung bemüht ist.

Wie z.B. Störresistenzen gegenüber überbordenden individualistischen Anforderungen im organisatorischen Hochschulkontext entworfen werden können, wird im dritten und letzten Kapitel „Organisation“ als Frage behandelt. Mit der Beantwortung solcher Fragen werden die Maschen zwischen den letzten Erkenntnissen Luhmanns zum Erziehungssystem und den Reflexionsbefunden Gensickes enger gezogen. Für ein tiefenschärferes Verständnis von Vermittlungshandeln in der Hochschule muss schlussendlich das Verhältnis des Interaktionssystems Unterricht mit dem Organisationssystem geklärt werden. Nach Luhmanns Vorstellungen ist Unterricht ein opportunistischer Prozess, und je mehr er sich nach Gelegenheiten richtet, desto besser ist er. Trotz einer starken Situationsbindung und einer geringen Planungsperspektive lassen sich mit systemtheoretischen Argumentationsfiguren Aussagen zur professionellen Vermittlung treffen. Lehrende in Hochschulen müssen unter den Bedingungen der doppelten Kontingenz arbeiten, d.h. sie haben mit Studierenden zu tun, die als intransparente, eigendynamische und nicht linear operierende Individuen vor ihnen sitzen. Nach Gensicke sind in diesen risikobehafteten Vermittlungssituationen Konstanzfiktionen und Trivialisierung vonnöten. Da die Lehrpersonen keinen Zugriff auf die Bewusstseinsformen der Studierenden haben, müssen sie die Perspektive der Studierenden als eine Erwartung in das eigene Verhalten einbauen. Eine derartig fiktive Erwartung könnte lauten, dass die Studierenden konstant Interesse für die Inhalte einer Lehrveranstaltung aufbringen. Gleichzeitig ist diese konstante Projektion gegenüber den Kursteilnehmern eine Trivialisierung – eine unabdingbare Trivialisierung, um Interaktion unter dem Vorzeichen der Ungewissheit aufrechterhalten zu können. Gensickes systemtheoretisch geleiteter Befund lautet, dass Interaktionssituationen für Lehrende und Studierende einen Sog entwickeln, so dass niemand sich dieser Eigendynamik entziehen kann. Auf der Organisationsebene der Hochschule bedeute dies, dass es kaum Möglichkeiten gibt, professionelles Vermittlungshandeln zu regulieren, geschweige denn zu kontrollieren. Überzeugungen von festen Kopplungen zwischen der Organisationssystemebene von Hochschulen und der Ebene des Interaktionssystems ignorierten Systemgrenzen. Gensicke beendet das dritte Kapitel mit einer Art „Theorem der komplementären Immunisierungsstrategie“. Während die Systemebene der Hochschulorganisation im Rahmen der Reformabsichten dazu neige, die Belastung der Lehrenden durch den erhöhten Anspruchsindividualismus der Studierenden zu dethematisieren, komme es ebenfalls auf der Ebene der Lehrveranstaltungen zur Dethematisierung von Änderungsaufforderungen durch die Organisationsebene.

Alles in allem stellt Gensicke jenen Schwundstufen einer unreflektiert-voluntaristischen Hochschulreform einen theoretischen Entwurf gegenüber, der die Blickwinkel von Studierenden, Dozenten und Hochschulleitenden analytisch voneinander trennt und wieder zusammenführt. Damit stellt er für die unterschiedlichen Prozesse der Hochschulentwicklung orientierendes Wissen bereit, das Transparenz unter komplexen Bedingungen schafft. Gleichzeitig versucht Gensicke mit seinem Buch die Pädagogik als reine Distanzwissenschaft zu profilieren. Das hat aber auch seinen Preis. Begrifflich verbleibt Gensicke im Ziergarten systemtheoretischen Wissens. Ob viele Pädagogik-Studierende mit ihren individualistischen Ansprüchen bereit sein werden, dessen Pforte zu öffnen, dürfte ungewiss sein. Lehrenden und Hochschulleitenden sei ein längerer Aufenthalt zwischen den Theoriepflanzen empfohlen, damit sie sich nicht vom Duft der eigenen Reformgewächse zu sehr betören lassen.
Andreas Hoffmann-Ocon (Zofingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Hoffmann-Ocon: Rezension von: Gensicke, Dietmar: Irritationen pädagogischer Professionalität, Vermittlungshandeln im Erziehungssystem in Zeiten individualistischer Habitusformen. Heidelberg: Carl-Auer 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389670366.html