EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Georg Breidenstein
Zeugnisnotenbesprechung
Zur Analyse der Praxis schulischer Leistungsbewertung
Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2012
(101 S.; ISBN 978-3-86649-466-4; 9,90 EUR)
Zeugnisnotenbesprechung Im Zentrum dieses Buches steht die Analyse einer Zeugnisnotenbesprechung in einer fünften Klasse. Handlungs- bzw. Beobachtungsort ist eine Sekundarschule in Sachsen-Anhalt. Grundlage für die Analyse bildet ein Beobachtungsprotokoll, welches Georg Breidenstein in sequenzanalytischer Vorgehensweise interpretiert. Der ausführlichen Analyse vorangestellt sind ein kurzes Vorwort und ein Kapitel, in dem das Forschungsprojekt, der Stand der Forschung sowie das methodische Vorgehen beschrieben werden. Allein eine Frage bleibt dabei unbeantwortet: Wer hat die Daten interpretiert? Auf den Einfluss von Katrin Ulrike Zaborowski weist der Autor hin, auch er selbst wird an der Interpretation beteiligt gewesen sein, aber wer noch und welche beruflichen bzw. wissenschaftlichen Hintergründe weisen die Interpretierenden auf? Diese Aussagen erscheinen notwendig, damit sich der Leser die Perspektivenvielfalt auf das Forschungsmaterial vorstellen kann. Nach der Analyse des Beobachtungsprotokolls weist Breidenstein in einem weiteren Kapitel allgemeine Strukturmerkmale der schulischen Zensurengebung nach. Das Buch endet mit Schlussbemerkungen und einer kurzen Legende zu bekannten Transkriptionszeichen.

Die explizit genannte Zielgruppe dieses Buches sind angehende sowie im Schuldienst tätige Lehrerinnen und Lehrer (9). Aus diesem Grund soll das Werk hier aus Sicht einer seit einigen Jahren tätigen Lehrerin rezensiert werden.

Gleich einleitend weist Breidenstein darauf hin, dass eine Analyse von Beobachtungsprotokollen zwar die Reflexion einer vorfindbaren Praxis ermögliche, jedoch keine Handlungsanweisungen geben könne. Lehramtsstudierende sollten um dieses Strukturmerkmal qualitativer Sozialforschung wissen, zugleich werden sie in den Seminaren immer wieder aufgefordert, Schlussfolgerungen für den späteren Schulalltag zu ziehen. Schlussfolgerungen für etwas Zukünftiges scheinen schwierig, so lange man dieses Zukünftige in der Rolle eines Lehrers kaum erfahren hat. Lehrerinnen und Lehrer hingegen sind so weit in schulische Strukturen verankert, dass ein Blick von außen schwer gelingen kann. Die Diskussionsfrage bleibt also: Wer kann Handlungsalternativen formulieren und ist dies überhaupt notwendig? Breidenstein selbst kann sich dieser Frage nicht ganz verwehren, so er doch Strukturmerkmale der Zensurengebung ableitet und immer wieder auf die engen Grenzen möglicher Handlungsalternativen verweist.

Die Beobachtung, deren Analyse im Zentrum des Buches steht, beschreibt die Zeugnisnotenbesprechung der Lehrerin „Frau Schäfer“. Frau Schäfer versucht die Note jedes einzelnen Schülers vor der gesamten Klasse zu legitimieren. Jeder Schüler wird einzeln aufgerufen, jeder Schüler soll sich selbst einschätzen und fast jedem Schüler wird im Anschluss die Zeugnisnote verkündet. Mitspracherechte für Schüler gibt es nicht, die Noten stehen längst fest. Nicht nur der Autor fragt sich, warum dann diese Praktik? Breidenstein zeigt wunderbar auf, wie eine Art Spannungskurve aufgebaut wird, die dazu genutzt wird, die Klasse moralisch zu belehren. Dazu werden verschiedene Schülertypen inszeniert. So gibt es jene, die es trotz mangelnden Leistungsvermögens zu etwas bringen und auch solche, die eigentlich könnten, aber nicht wollen. Nicht zuletzt wird aufgezeigt, dass sich schulisches Wohlverhalten auch positiv auf die Fachnote auswirkt. Das Beobachtungsprotokoll wie auch die in ihrer Kleinschrittigkeit fast schon voyeuristisch anmutende Analyse, kann bei Lesern, die selbst von dieser Praxis „betroffen“ sind, Erschrecken und teilweise Beschämung auslösen. Breidenstein scheint sich dessen bewusst, weist er doch zusammenfassend darauf hin, dass Frau Schäfer im Vergleich sehr milde bewerte und ihre Schüler über den Fachunterricht hinaus in ihrem je eigenen familiären Umfeld wahrnehme.

Neben der moralischen Belehrung der gesamten Schülerschaft zeigt Breidenstein weitere Funktionen der Notenbesprechung auf: Die Note muss legitimiert werden (81ff). Die Schüler und auch deren Eltern sollen die Note zum einen als gerecht anerkennen, zum anderen muss bei unbefriedigenden Ergebnissen aufgezeigt werden, dass nicht der Unterricht und die Lehrkraft schuld sind an solchen Ergebnissen, sondern einzig der Schüler mit seiner individuellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Dass dieses Bemühen konträr steht zu allen empirischen Erkenntnissen der Unterrichtsforschung, weiß eigentlich jede Lehrkraft und jeder Lehramtsstudierende. Gerechtigkeitsempfinden soll auch hervorgerufen werden durch die Quantität der Zensurengebung und die Berechnung des Notendurchschnitts. Auf die Problematik eines Durchschnitts bei einer Ordinalskala, die Zensuren von eins bis sechs darstellen, weist Breidenstein erneut hin (83). Eindrücklich führt er aber auch an einem simplen Rechenbeispiel vor Augen, wie viele Tests und Klassenarbeiten Schüler schreiben müssen, sodass der Wert der einzelnen Note inflationär sinke. Falls sich mit der Menge an Leistungserhebungen auch, wie von Breidenstein behauptet, der Leistungsdruck für die Schüler minimieren sollte, wäre dies gar keine zu negative Folge. Dennoch muss gefragt werden, inwieweit das permanente Benoten von Schülerleistungen die Schülerleistungen selbst verhindert.

Breidenstein hinterfragt nicht nur die Funktionen einer Zensurenbesprechung, sondern auch die Funktionen der Notengebung an sich, die er aus seinen Analysen ableitet (92). So sollen Zensuren Fehlverhalten sanktionieren, Wohlverhalten honorieren und wenigstens ein wenig motivieren – was aufgrund der Quantität der Notengebung kaum noch möglich erscheint. Erschreckend werden diese Schlussfolgerungen erst, wenn Breidenstein aufzeigt, dass Zensuren kaum noch die fachlichen Leistungen eines Schülers, als vielmehr dessen Verhalten und allgemeine Lernbereitschaft bewerten. In der Folge dieser Bewertungspraxis entwickeln Schüler nur selten ein Interesse für Unterrichtsinhalte, da sie die meiste Zeit auf die Notengebung fokussiert sind und sein müssen.

Die schulischen Strukturen der Notengebung verlaufen somit im Kreis: Noten werden als Motivationshilfe eingesetzt, in der Folge kann ohne Noten kaum motiviert werden und folglich erscheint es schwer, auf Noten überhaupt zu verzichten.

Breidenstein gibt auf den Weg, innerhalb der Lehrerbildung nach „Alternativen“ in der Zensurengebung zu fragen (95). Dies ist ein Ansatzpunkt, jedoch kann es nur einer unter vielen sein. Zu fragen wäre ebenso, was die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz und Attraktivität der Notengebung ausmacht. Eltern hinterfragen die Notengebung bei ihrem eigenen Kind, jedoch nur ganz selten grundsätzlich. Notengebung finden wir auch in der Berufsausbildung, in den Universitäten und Fachhochschulen und nicht zuletzt in der Beurteilung von Mitarbeitern. Notengebung muss somit breiter reflektiert und diskutiert werden. Innerhalb der Lehrerbildung bleibt daneben die eingangs angedeutete Frage bestehen, wer reflektieren soll: Studierende fern der Praxis oder Lehrkräfte, die so weit in die Praxis „verschwunden“ sind, dass sie kaum noch darüber schauen können? Hierfür erscheint mir das Modell, Lehrkräfte für einige Zeit an Universitäten abzuordnen, damit sie wissenschaftlich arbeiten können, vielversprechend. So könnten auch die Interpretationen von Unterrichtsbeobachtungen um eine wichtige Perspektive erweitert werden.

Das Buch bietet einen sehr empfehlenswerten Diskussionseinstieg über die Praxis der Notengebung. Es ist inhaltlich und methodisch sehr gut nachvollziehbar. Nicht nur das praktische Buchformat, sondern vor allem Breidensteins angenehmer Sprachstil tragen dazu bei, dass dieses Buch von der intendierten Zielgruppe (Lehramtsstudierende sowie Lehrkräfte) wirklich gelesen werden kann und sollte, durchaus auch als kleiner augenöffnender Schmöker vor dem Schlafen oder in der Bahn.
Elke Kurth-Buchholz (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elke Kurth-Buchholz: Rezension von: Breidenstein, Georg: Zeugnisnotenbesprechung. Zur Analyse der Praxis schulischer Leistungsbewertung. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649466.html