EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)

Martina Heitkötter / Karin Jurczyk / Andreas Lange / Uta Meier-Gräwe (Hrsg.)
Zeit für Beziehungen?
Zeit und Zeitpolitik für Familien
Opladen: Budrich 2009
(434 S.; ISBN 978-3-86649-187-8; 39,90 EUR)
Zeit für Beziehungen? Familien brauchen Zeit. Warum? Kurz und knapp: Damit Familienmitglieder die Chance haben, sich zu finden. Die aber haben sie zu wenig. Das hat mehrere Gründe. Einer der wichtigsten sind die zeitpolitischen Rahmenbedingungen, die die Familienangehörigen bei ihren kontinuierlich zu erbringenden Leistungen der Vergemeinschaftung zeitlich unter Druck setzen. Um welche zeitpolitisch relevanten Gegebenheiten es sich dabei handelt und in welcher Richtung diese im Hinblick auf eine zeitliche Entlastung der Familien gestaltet werden müssten, das sind die beiden Fragestellungen, die in dem von Heitkötter et al. herausgegebenen Buch in differenzierter Art und Weise gestellt und beantwortet werden.

Die maßgeblich von den ökonomischen Dynamiken ausgehenden Entwicklungen der verschärften Modernisierung, die mit den Schlagworten Beschleunigung, Zeitverdichtung, Zunahme des Kurzfristdenkens und -handelns, Entgrenzung und Individualisierung nur oberflächlich beschrieben sind, machen den Familienalltag immer häufiger zu einem anspruchsvollen Herstellungsprozess. Pointiert: Alles fließt, doch erheblich schneller als Heraklit sich das zu seiner Zeit vorstellen hat können. Die Herausforderungen der modernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft schlagen sich im Familienalltag als Dilemmata und Koordinationsprobleme zwischen unterschiedlichen zeitlichen Taktgebern nieder. Die wiederum führen unter dem Druck wachsenden Kurzfristhandelns, zu einer Zunahme von Zeitkollisionen, -konflikten und -widersprüchen und damit zu steigender zeitlicher Beanspruchung der Familienangehörigen. Bei einem Drittel der Eltern schlägt sich das in der Erfahrung von Zeitnot nieder. Um die Familienangehörigen zumindest teilweise davon zu entlasten, bieten sich zeitpolitische Entscheidungen auf den unterschiedlichen Ebenen politischer Gestaltungsarbeit an, auf der zentralstaatlichen und auch auf der kommunalen/regionalen Ebene.

Diesbezüglich werden in dem hier besprochenen Sammelband nicht nur Vorüberlegungen geliefert, sondern auch starke, von belastbaren Zahlen gestützte Argumente und darüber hinaus konkrete Vorschläge für zeitpolitische Maßnahmen und Strategien.

Beziehungen gestalten, heißt immer auch Zeiten eine bestimmte Qualität und Gestalt zu verleihen. Insofern ist der Titel „Zeit für Beziehungen?“ (warum eigentlich das Fragezeichen?) trivial. Er ist es aber zugleich auch nicht, weil, und darauf deutet der Untertitel hin, die Fragestellung auf die spezielle Beziehungsform „Familie“ konzentriert wird. Es geht also nicht um Geschäftsbeziehungen, Kundenbeziehungen, Arbeitsbeziehungen, Reisebekanntschaften oder ähnliche Gesellungsformen. Die Konzentration auf die Familie tut dem Thema gut und sie tut dem Buch gut, zumal sich bei der Lektüre bald herausstellt, dass selbst diese perspektivische Einschränkung noch weiterer Einschränkungen bedarf. Auch ohne das Buch aufgeschlagen zu haben, überfällt, ja erdrückt den Leser die Erkenntnis, dass man für das Thema „Zeit für Familien“ Zeit zum Lesen benötigt. Über 400 Seiten dick, 635 Gramm schwer, Beiträge von 17 Autorinnen und Autoren, ein vierköpfiges Herausgeberteam, das 16 verschiedene Einzeltitel im Buch zusammengebunden hat, da weiß man, was auf einen in Zeiten knapper Zeit zukommt. Unzweifelhaft, das Buch ist eine Demonstration der Gewichtigkeit des dort verhandelten Themas. „Alltagsorientierte Familienforschung“ könnte die synthetisierende Klammer lauten, die die Beiträge zusammenheftet.

Die Autorinnen und Autoren ordnen sich, obgleich sie doch alle über das gleiche Themenfeld schreiben, in ihrer Selbstpräsentation ganz unterschiedlichen Forschungskontexten zu. Das ist den universitären Ordnungstraditionen geschuldet. Die themenzentrierte Zusammenstellung der Beiträge ist auch ein überzeugender Beweis dafür, wie produktiv Interdisziplinarität sein kann und wie notwendig sie ist. Besonders dann, wenn es darum geht, so die Herausgeber/innen, „einen ersten Stein ins Wasser zu werfen, der hoffentlich weite Kreise zieht (23)“ Da kann man nur wünschen, dass der „Stein“ auch dort landet, wo die Familienpolitiker und Familienpolitikerinnen ihre zeitpolitischen Schwimmübungen absolvieren. Welche Themen nun finden einschlägig Interessierte in dem umfangreichen Sammelband?

Das sind zum einen problemanalytische Beiträge. Dazu zählt der einführende, sehr instruktive Problemaufriss von Jurzcyk, der die Richtung der Argumentation vorgibt. Familien brauchen Zeit, damit sich Soziales entfalten kann, damit Bindungen, Beziehungen, Vertrauen, Nähe, gegenseitige Fürsorge eine Chance haben, sich zu entwickeln. Die Zeit dafür steht Familien jedoch nur dann zur Verfügung, wenn die verschiedenen Zeitsysteme der Umwelt, insbesondere die Zeiten der Erwerbssphäre (vgl. den Beitrag von Kahle und Meier-Gräwe), aber auch die Öffnungszeiten von Läden, Serviceeinrichtungen, Arztpraxen und Freizeiteinrichtungen (Beitrag Rogge), diese nicht absorbieren.

Im zweiten, dem zeitdiagnostischen Themenschwerpunkt, wird der Wandel familialer Zeitverhältnisse in einen engen Kontext mit den Zeitdynamiken gesellschaftlicher Veränderungen gebracht. Die von der Ökonomie ausgehenden Imperative der Beschleunigung, insbesondere die zur Zeitverdichtung, führen in Familien zu wachsendem Zeitdruck, zur Zunahme von Zeitkonflikten, Zeitkollisionen und sich widersprechenden Zeitanforderungen (Beiträge von Lenz und Lange). Originell sind die Beiträge von Kramer über Wegezeiten und von Geiss und Picot über Zeiten für freiwilliges Engagement. Zwei weitere Beiträge (Küster und Meier-Gräwe) thematisieren auf der Basis repräsentativer Zeitbudgetstudien die sich verändernden Beköstigungs- und Ernährungsversorgungsstrategien. Anregend auch der Vergleich von Bauer über die „Beharrlichkeit der traditionellen geschlechtsspezifischen Zeitverwendung in Deutschland und Großbritannien (235)“ Mit konkreten Vorschlägen für familienfreundliche Arbeitszeiten warten Klenner und Pfahl auf, die in ihrem Beitrag die Arbeitszeiten der erwachsenen Familienakteure analysieren. Dass dabei auch das traditionelle Vaterschaftskonzept zur Debatte steht, diskutiert Meuser in einer gesonderten Abhandlung.

Die Autorinnen und Autoren des dritten und letzten Abschnitts (Mückenberger und Rinderspacher sowie Heitkötter) sind allesamt Mitglieder des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Daher auch zentrieren sie ihre Beiträge auf konkrete zeitpolitische Gestaltungsmöglichkeiten. Heitkötter richtet dabei den Blick auf verschiedene, deutsche und italienische Ansätze einer familienfreundlichen lokalen Zeitpolitik, bei denen sie zum Teil aktiv gestaltend mitgewirkt hat. Ihr Beitrag gibt einen guten, praxisnahen Einblick in das, was Rinderspacher in seiner vorangehenden Abhandlung zum Konzept des Zeitwohlstandes im Hinblick auf familiale Lebensformen ausführt. Thematischer Schwerpunkt der zeitpolitischen Ausführungen von Mückenberger ist die Vereinbarkeitsproblematik von Erwerbsarbeit und Elternschaft. Seine Gestaltungsvorschläge zielen, ähnlich denen von Heitkötter, auf das Gestaltungspotenzial lokaler Gemeinschaften im örtlichen Lebensumfeld und ein zeitgerechtes „Umdenken der Erwerbssphäre“ (365).

„Familiengerechte Zeitgestaltung“ heißt das Programm des Buches. Dass es sich dabei um ein höchst anspruchsvolles und differenziertes Programm handelt, für das nicht nur fundierte Argumente, sondern auch viele empirische Daten sprechen, belegen die Beiträge dieser verdienstvollen Sammlung. Sie mahnt eine familiengerechte Zeitgestaltung an, die, was zeitpolitische Initiativen betrifft, weit über das hinausgehen muss, was im siebten Familienbericht der Bundesregierung erfreulicherweise angesprochen wurde. Es geht um eine explizite Zeitpolitik, die Druck von den Familien nimmt, mit den zeitlichen Folgen des gesellschaftlichen Wandels alleine zurechtkommen zu müssen. Familie ist nicht nur eine Privatsache, mit der Eltern irgendwie umgehen müssen, zugleich darf sie auch nicht von Seiten des Staates allein durch finanzielle Transfers gefördert werden. Das deutlich herausgearbeitet zu haben, ist das große Verdienst der Publikation.

Will man Kritisches anmerken, dann die Tatsache, dass es nicht nur Patchwork-Familien gibt, sondern auch Patchwork-Bücher. Die Synthese der Beiträge, die man sich von Herausgebern von Sammelwerken wie diesem wünscht, vermisst man bei dem hier besprochenen Buch. Das Herausgeberteam, so der Eindruck, hat dem Buchbinder die Aufgabe überlassen, die Beiträge zusammenzubinden. Das liegt sicher auch daran, dass sich gleich vier Personen um die Herausgeberarbeit bemühten. Hilfreich für Leserinnen und Leser wäre es, wenn es weniger Überschneidungen gäbe, die besonders häufig dort auftauchen, wo der gesellschaftliche Wandel thematisiert wird. Auch vermisst man ein summarisches Literaturverzeichnis. Doch diese, die Herausgeberarbeit betreffenden, kritischen Anmerkungen schmälern nicht das Verdienst, dieses Buch vorgelegt zu haben. Es ist allen zeitpolitisch und familienpolitisch Interessierten nachdrücklich zur Lektüre empfohlen.
Karlheinz A. Geißler (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Karlheinz A. Geißler: Rezension von: Heitkötter, Martina / Jurczyk, Karin / Lange, Andreas / Meier-Gräwe, Uta (Hg.): Zeit für Beziehungen?, Zeit und Zeitpolitik für Familien. Opladen: Budrich 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649187.html