EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)

Alexandra Schmidt-Wenzel
Wie Eltern lernen
Eine empirisch qualitative Studie zur innerfamilialen Lernkultur
(promotion, 2)
Opladen: Budrich 2008
(202 S.; ISBN 978-3-86649-173-1; 19,90 EUR)
Wie Eltern lernen Viele Studien sozialwissenschaftlicher Forschung beschäftigen sich in irgendeiner Weise mit Eltern. So werden beispielsweise die derzeitigen Lebenssituationen von Eltern untersucht [1], ihre Einflüsse auf die kindliche Entwicklung und die Bildungsverläufe von Kindern analysiert [2] oder die Notwendigkeit von Bildungsveranstaltungen für Eltern postuliert [3]. Dass Eltern für ihre vielfältigen Aufgaben als Eltern zu lernen haben, scheint in der derzeitigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion außer Frage. Wie sie dies jedoch tun, wie Eltern lernen, ihren Alltag erfolgreich zu bewältigen, kommt kaum in den Blick. Die vorliegende Studie hat sich zur Aufgabe gemacht, dieses Forschungsfeld zu bearbeiten: „Jene elterlichen Lernstrategien und -handlungen erfahrbar zu machen, dabei ihre konstituierenden Faktoren und Momente zu analysieren, ist daher das Ziel der vorliegenden Untersuchung“ (3). Dabei sollen Eltern selbst zu Wort kommen: „In der vorliegenden Untersuchung werden Mütter und Väter gleichsam als ExpertInnen ihrer Situation begriffen. Ihre Konstruktionen sozialer Wirklichkeit sind es, die in Bezug auf die untersuchungsleitende Fragestellung interessieren“ (3).

Elternschaft wird als „komplexe Herausforderung“ (48) betrachtet. Diese Perspektive wird durch eine einleitende Analyse der „Elternschaft im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse“ untermauert. Nach einer Skizze heutiger Familienformen werden Anforderungen und Erwartungen erläutert, die an Eltern innerhalb unserer Gesellschaft gestellt werden. Auf drei Aspekte wird noch einmal genauer eingegangen: die Vermittlungsarbeit von Eltern zwischen kindlicher und erwachsener Lebenswelt – insbesondere der Vereinbarkeit von Familie und Beruf –, die Anforderungen an Väter sowie die Frage nach unterstützenden Angeboten für Eltern.

Bevor die Ergebnisse der Untersuchung dargelegt werden, beschreibt die Autorin ausführlich Forschungsmethodik und Forschungsprozess. Hierfür wird zunächst die Forschungsfrage noch einmal genauer eingebettet in den Kontext bestehender Studien zum Übergang zur Elternschaft (Transitionsforschung), zu Konzepten der Familienpsychologie und zum Kompetenzerwerb in der Familie: „Die vorliegende Untersuchung erweitert damit gleichsam diese unterschiedlichen Zugänge um die Perspektive elterlicher Lernprozesse und -bewegungen, die sich im Zuge der Bewältigung der ‚Anforderungssituation’ Kind vollziehen und fragt, welche spezifischen Bedingungen dieses Lernen initiieren und intervenieren und zu welchem Ergebnis es führt“ (53f.). Die auf Theoriegenerierung ausgerichtete Frage wird mit Hilfe der Grounded Theory nach Strauss/Corbin bearbeitet – es soll eine Grounded Theory der innerfamilialen Lernkultur entworfen werden. Diese wird auf einer zweiten Ergebnisebene um eine Typologie des elterlichen Lernens ergänzt.

Es wurden problemzentrierte Interviews mit 12 Eltern analysiert. Von den Eltern verfasste Tagesablaufprotokolle bildeten neben einem Leitfaden die Grundlage für die Interviews. Die Protokolle wurden als Einstieg in die Interviews verwendet. Die Interviews werden gemäß der Vorgehensweise nach Strauss/Corbin kodiert. Exemplarisch stellt die Autorin dar, wie im Forschungsprozess die Schlüsselkategorie „Interaktives Lernen durch das Kind als Lernimpuls“ generiert wurde. Die Schlüsselkategorie wird im anschließenden Ergebnisteil der Studie erläutert. Zudem werden weitere generierte Kategorien vorgestellt, die nach dem Kodierparadigma von Strauss/Corbin eingruppiert und zueinander in Beziehung gesetzt wurden: Identifikation mit dem Kind als Lebensprojekt (Ursache/Auslöser), die Anforderungssituation Kind als kritische Lebensspanne (kontextuelle Bedingung), das elterliche Kindkonzept (intervenierende Bedingung), der psychosoziale Kontext der Eltern (intervenierende Bedingung) und die Kind-Eltern-Interaktion (Interaktionen bzw. Strategien der Schlüsselkategorie).

Die darüber hinaus entwickelte Typologie wird anschließend mit Hilfe zweier kontrastierender (Ideal-)Fälle erläutert. Die Typologie soll die Varianz der zuvor entwickelten Kategorien aufzeigen. Die Merkmalsräume „elterliches Kind-konzept“ sowie „elterliches Selbstkonzept“ werden hierbei als „konstituierende Faktoren für das jeweils spezifische Lernen der Eltern“ (112) angesehen. Diese Merkmalsräume entfalten sich entlang der beiden Dimensionen „objektivistisch-defizitorientiertes vs. subjektiv-potenzialorientiertes Kindkonzept“ und „geschlossen-konsistentes vs. offen-flexibles elterliches Selbstkonzept“. Die beiden Idealtypen elterlichen Lernens „expansives“ und „defensives“ Lernen werden anhand der beiden Fälle veranschaulicht.

Abschließend werden die entwickelten Ergebnisse Konzepten biographischen Lernens zugeordnet: „Die vorliegende Studie leistet einen grundlagentheoretischen Beitrag erziehungswissenschaftlicher Perspektive, der die verschiedenen disziplinären Ansätze der Familienforschung um die Konzepte einer innerfamilialen Lernkultur erweitert. In zweiter Linie ergänzen die Ergebnisse hinsichtlich ihrer lerntheoretischen Verortung in Konzepten biographischen Lernens vor allem die Perspektiven des lebenslangen, hier insbesondere des informellen Lernens im sozialen Umfeld“ (4).

Die vorliegende Studie weist auf ein wichtiges Forschungsfeld hin, das von der Erziehungswissenschaft bisher wenig beachtet wurde. Sehr gründlich wird die Ausgangsfragestellung in gesellschaftlichen Kontexten verortet und an den bestehenden Forschungsstand unterschiedlicher Disziplinen angeknüpft. Der Forschungsprozess wird klar und nachvollziehbar dargestellt, die Genese der Kategorien erläutert.

Die Verortung der Studie im Kontext der Transitionsforschung legt die Frage nach (bedingenden) Faktoren nahe. Das handlungstheoretische Kodierschema von Strauss/Corbin ist aus dieser Perspektive sehr geeignet. Es lassen sich mit diesem sehr statischen Schema jedoch keine Prozesse abbilden. Die Autorin problematisiert dies selbst – sehr verallgemeinernd für alle Kategoriensysteme: „Denn die Prozesshaftigkeit, die sämtlichen Konstituierungsschritten innewohnt und insbesondere mit der reflexiven Entwicklung und Modifikation von Haltungen, Werten und Einstellungen einhergeht, vermag ein Kategoriensystem nur bedingt einzufangen“ (85). Auf diese Weise werden überwiegend Kontexte des Lernens von Eltern beschrieben, Formen des Lernens selbst nur unter der Kategorie „Eltern-Kind-Interaktion“. Hier wäre eine Schärfung der in dieser Studie zentralen Begriffe „Lernen“ und „Lernkultur“ sicher weiterführend gewesen. Die Einordnung in Konzepte des biographischen Lernens gibt jedoch eine grundlegende Orientierung.

Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in einer sehr kondensierten, dichten Form ohne beispielhafte Datenauszüge. Zur Erläuterung der Typologie werden hingegen Transkripte herangezogen, die die ausgeführten Sachverhalte illustrieren. Diese Ausführungen sind so sehr gut nachvollziehbar.

Die Autorin findet in ihren Daten die Bestätigung für die Schlüsselkategorie „Interaktives lernen durch das Kind als Lernimpuls“: „Alle bewussten Entscheidungen, die auf Reflexion, Modifikation, Entwicklung oder Feedback elterlicher Handlungsstrategien und Wahrnehmungsmuster angelegt waren, wurden offenbar primär ausgelöst durch die Deutung des kindlichen Ausdrucks“ (74). Auch wenn die vorliegenden Daten keine Aussagen zu weiteren Lernimpulsen bieten, so erscheint mir die Ausschließlichkeit, mit der elterliches Lernen hier am Kind fest gemacht wird, etwas voreilig. In einer innerfamilialen Lernkultur ist beispielsweise auch das Lernen der Elternteile voneinander denkbar.

Des Weiteren stellt sich die Frage, inwieweit die entwickelten Konzepte (z.B. „Kind als Lebensprojekt“, 86ff) auch auf andere Milieus übertragbar sind – Schmidt-Wenzel befragt nur akademische Eltern. Anschließende Studien, die eine Ausweitung des Geltungsbereiches auf andere Klientel untersuchen, wären hier denkbar. Insgesamt kann die vorliegende Studie als ein wichtiger Beitrag zur erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung in Bezug auf Eltern angesehen werden.

[1] Merkle, Tanja / Wippermann, Carsten / Henry-Huthmacher, Christine / Borchard, Michael (2008): Eltern unter Druck: Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten. Stuttgart: Lucius & Lucius

[2] Minsel, Beate (2007): Stichwort: Familie und Bildung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 11, H. 3, S. 299–316.

[3] Rupp, Marina / Smolka, Adelheid (2007): Von der Mütterschule zur modernen Dienstleistung. Die Entwicklung der Konzeption von Familienbildung und ihre aktuelle Bedeutung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 11, H. 3, S. 317–333.
Ruth Michalek (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ruth Michalek: Rezension von: Schmidt-Wenzel, Alexandra: Wie Eltern lernen, Eine empirisch qualitative Studie zur innerfamilialen Lernkultur (promotion, 2). Opladen: Budrich 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386649173.html