EWR 15 (2016), Nr. 5 (September/Oktober)

Walter D. Mignolo
Epistemischer Ungehorsam
Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität
Reihe: Es kommt darauf an, Band 12
Wien: Turia + Kant 2012
(207 S.; ISBN 978-3-85132-633-8; 14,00 EUR)
Epistemischer Ungehorsam Der 2006 in Argentinien unter dem Titel „deconialidad del ser y del saber“ erschienene Essay von Walter D. Mignolo liegt seit 2012 in der Übersetzung von Jens Kastner und Tom Waibel in deutscher Sprache vor. Trotz des sogenannten Cultural Turn hat die kulturwissenschaftliche Forschung lateinamerikanischer Provenienz im sozialwissenschaftlichen Diskurs Europas allerdings während den letzten Jahrzehnten wenig Eingang gefunden. Insbesondere gilt dies auch in Hinsicht auf den Diskussionszusammenhang postkolonialer Theorie, von der sich die dekolonialen Konzeptionen der Gruppe modernidad / colonialidad, der Mignolo angehört, abgrenzt. Während über die Schriften von Spivak, Said, Mbembe, Bhabha und nachfolgende WissenschaftlerInnen die Stimmen aus Asien sowie aus arabischen und afrikanischen Räumen im europäischen Diskussionszusammenhang angekommen sind, besteht für den thematisch gleich fokussierten, spezifisch lateinamerikanischen Beitrag eine Rezeptionslücke. Die Publikation erschliesst diese Lücke für die deutschsprachige Rezeption. Der Essay hat die Gestalt einer Einführung und eines Überblicks über die Estudios Culturales Latinoamericanos und über die zentralen Begriffe und Argumente der Gruppe modernidad / colonialidad.

Im Essay wird auf gut 150 Seiten entlang des dreigliedrigen Untertitels zunächst auf die der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Theoriebildung seit Descartes innewohnende „Rhetorik der Moderne“ hingewiesen. Daran anschliessend wird deren konstitutive Auslassung des Kolonialismus als „Logik der Kolonialität“ (58ff) analysiert. Abschliessend wird der als „plurivers“ (201) bezeichnete Horizont eines vielfältigen Auswegs der „Entkoppelung durch Dekolonialität“ (162ff) dargelegt.

Der spanische Titel „deconialidad del ser y del saber“ – Dekolonialität des Seins und des Wissens – bezeichnet die in diesem dritten Teil dargelegte Stossrichtung des Essays. Demgegenüber wirft Epistemischer Ungehorsam, so die Übertragung des Titels ins Deutsche, einen gezielt europäischen Blick auf die Verletzung, die den als eurozentristisch diagnostizierten epistemischen Erkenntnis- und Aussageprinzipien hier zugefügt wird. Ob der Vernunftbegriff bei Kant, oder der von Weber veranschlagte Rationalisierungs- und Säkularisierungsprozess mit Ausgangspunkt Europa; aber auch die Kritische Theorie von Habermas und der historische Materialismus bei Marx; ihnen allen – so diagnostiziert Mignolo in den ersten beiden Teilen seines Essays – ist gemeinsam, dass eine ihnen zugrunde liegende europäische, männliche Erfahrung auf die Totalität der Menschheitsgeschichte ausgedehnt und dieser übergestülpt wird. Ausgehend von dieser Diagnose konstatiert Mignolo, dass die Geschichte der Moderne nicht ohne die Geschichte des Kolonialismus zu verstehen ist: “In La Paz fällt es schwer, nicht zu sehen oder zu merken, dass die Moderne die Kolonialität immerfort reproduziert.” (195) Es geht Mignolo jedoch nicht darum, einer Geschichte der Aufklärung die übersehenen Ereignisse des Kolonialismus lediglich als zusätzliche Inhalte beizufügen. Kolonialität als wesentliches Versatzstück eines als „Moderne / Kolonialität“ beschrifteten Komplexes erlaubt Mignolo das Bezeichnen kolonialer Strukturen und Erfahrungen, die das Ende der Periode des Kolonialismus überdauern, ein Überdauern dem durch dekoloniale Theoriebildung als einem „Grenzdenken der Pluriversalität“ entgegengetreten werden kann.

Dieses Grenzdenken stellt Mignolo auf den Standpunkt der „Exteriorität“. Eine Exteriorität, die vom Standpunkt des „Aussen“ zu unterscheiden ist: Mit Verweis auf den vom argentinischen Philosophen Enrique Dussel geprägten Begriff der Transmoderne geht es nicht darum, von aussen neue Fährten zu legen. Vielmehr soll exteriorialisierten Spuren innerhalb des Komplexes Moderne / Kolonialität nachgegangen und Gehör verschafft werden (191). Nicht von outside, sondern aus dem offside wird das unter dem geo- und körperpolitischen Imperativ eurozentristischer Diskursivität zum Schweigen gebrachte Erkenntnispotenzial artikuliert. Andere, nicht neue Formen von Sein und Wissen sollen im Rahmen der Pluriversalität Gehör finden. Denn „das Neue“, so das zentrale Argument Mignolos in diesem Zusammenhang, ist das Konzept, das der eurozentristische Diskurs der Moderne als Selbstbeschreibung in Anschlag bringt, um die Indigenen als Primitive und Barbaren räumlich an den Rand und zeitlich in die Vergangenheit zu drängen (117ff).

Betreffend Theoriekomposition birgt das Mitteldrittel zur Logik der Kolonialität die zentralen Konzepte der Analytik Mignolos. In Anlehnung an die Arbeiten des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano definiert Mignolo die „koloniale Matrix der Macht“ als das Zusammenspiel vier miteinander verbundener Sphären (142). Die erste Sphäre umfasst die Aspekte der Privatisierung von Land und Arbeitskraft. Die zweite Sphäre kennzeichnet die Kontrolle der Autorität, die als Organisation von Befehlsketten definiert wird. Die Kontrolle von Geschlecht und Sexualität wird in einer dritten Sphäre lokalisiert, währenddessen die vierte Sphäre die Kontrolle der Subjektivität betrifft. Die Sphären sind im Rahmen der vierten Sphäre miteinander verflochten, und zwar in dem Sinne, als mittels Kontrolle der Erkenntnis und durch Bestimmung der Modi, in welchen Aussagen rationalisiert werden, die koloniale Matrix der Macht hervorgebracht und fortwährend reproduziert wird (144f). Als Kontrollmacht der Erkenntnis und als Definitionsmacht der Rationalität von Aussagen, konstituiert sich die Kontrolle der Subjektivität aus raum-zeitlichen und imperial-kolonialen Differenzen, für deren fortwährende Hervorbringung sie zuständig ist.

Den Kapitalismus – der im aktuellen Modus des Neoliberalen in vielen zeitgenössischen Machtanalysen als allumfassende Verwertungslogik gesetzt wird – weist Mignolo in die Schranken dieser vierfältigen Sphären. Für ihn ist der Kapitalismus in Anlehnung an Quijano nur in einer der vier Sphären der kolonialen Matrix der Macht zu verorten. Namentlich ist er in der ersten Sphäre zu lokalisieren, die die imperiale Kontrolle der Ökonomie mittels Kontrolle von Land und Arbeitskraft betrifft.

Der marxistische Begriff Klassenkampf wird damit als zwar legitimer, aber nicht hauptsächlicher Begriff einer ernstzunehmenden Befreiungsbewegung konzipiert. Er artikuliert emanzipatorische Anstrengungen, die lediglich in einer Sphäre und damit innerhalb der kolonialen Matrix der Macht operieren. Demgegenüber werden durch die Theoriekomposition Mignolos die Differenzierungsmodi race und gender als wirkmächtig identifiziert. Sie benennen diejenigen Differenzierungspraktiken, die durch ein Grenzdenken aus der Position der Exteriorität angegriffen werden können. Die hierdurch artikulierbaren „dekolonialen Optionen“ haben die Möglichkeit, im Sinne eines epistemischen Ungehorsams Nebenpfade zu beschreiten, die von der hegemonialen Denkweise der kolonialen Matrix der Macht abschweifen.

Im ersten Drittel der Analyse werden die grossen Erzählungen der Moderne auf ihre dunkle Seite, den konstitutiv vergessenen Genozid an den Indigenen und deren fortwährende Ausbeutung verwiesen. Entgegen dieser kritischen Diagnose nimmt das von Mignolo skizzierte Projekt der Dekolonialität eine produktivere, wenn auch nicht affirmative Auseinandersetzung mit postmodernen Analysen auf: „Die postmoderne Kritik der Totalität muss um eine Kritik am modernen Totalitätsbegriff aus der Perspektive der Kolonialität ergänzt werden” (52). Mitunter lassen sich in der Analysebewegung Mignolos Parallelen zu einer bei Michel Foucault auffindbaren Auffassung des Diskursiven feststellen, wenn Mignolo die Kolonialität als das im Diskurs der Moderne konstitutiv Vergessene identifiziert. Laut Foucault konstituiert sich der Diskurs durch die Differenz zwischen dem, was man nach den Regeln der Grammatik und denen der Logik in einer Epoche sagen könnte, und dem, was tatsächlich gesagt wird. Foucault schafft mit seiner Vorstellung die Differenz, die die Existenz der Kolonialität zwar nicht benennt, sie aber aus der Sphäre des Undenkbaren ins Unsagbare verschiebt. Hier endet aber die Übereinstimmung. Denn Mignolo würde dasjenige, das für den Europäer Foucault in der Sphäre des Unsagbaren verbleibt, als sehr wohl Gesagtes, aber Verschwiegenes bezeichnen – Verschwiegenes in dem Sinne, als diese Aussagen in der Exteriorität der kolonialen Welt zwar geäussert, aber durch hegemoniale Erkenntnis- und Verständnisprinzipien delegitimiert und marginalisiert werden. „Wen kümmert's wer spricht?“, fragt Foucault mit Samuel Beckett in seinem Vortrag mit dem Titel Was ist ein Autor? im Jahre 1969 am Collège de France. „Mich!“ antwortet Mignolo: „Der dekoloniale Umsturz gehört einem anderen Raum an, dem der epistemischen Energie und dem eines fehlenden Archivs, das vom Stimmengewirr der Enterbten, […] der Verdammten verdrängt worden ist” (170).

Der Essay bürstet bekannte Kohärenzen kontinentaler Philosophie gegen den Strich und verschiebt bewährte Trennlinien. Er wirft einen für die europäische Perspektive ungewohnten und damit erfrischenden, wie auch beunruhigenden Blick auf den philosophischen Diskurs der Moderne. Das Ungewohnte begründet die Zweckmässigkeit der gut vierzig Seiten starken editorischen Notiz, die den Essay einführt und kontextualisiert. Jens Kastner und Tom Waibel leisten hierbei eine instruktive Einführung in die dekoloniale Theoriebildung.

Das erfrischende Moment des Essays liegt darin begründet, dass altbekannte Zusammenhänge auf der Basis von Mignolos Analytik anders und auf ihre Konsistenz hin befragt werden können. Beispielsweise wenn Mignolo in Anlehnung an Spivak in Aussicht stellt, dass „[d]er erste Schritt zu einer Grammatik der Dekolonialität im „lernen zu verlernen, um wieder zu erlernen““ (169) besteht, bietet dies eine Anschlussmöglichkeit, von welcher ein dekolonialer Beitrag für den kritischen Umgang mit Ansätzen einer interkulturellen Pädagogik ausgehen kann.

Gleichzeitig ist „das Ungehorsame“ auch im Epistemischen ohne die beunruhigende Gefährdung des Etablierten nicht zu haben. In der Umkehr erlaubt ebendiese Leseerfahrung auch für den Horizont einer allgemeinen Erziehungswissenschaft die Rückfrage, wie es um Gefahren eines „auf der sicheren Seite“ verorteten Denkens und dessen Orientierungswissen bestellt ist.
Samuel Kaiser (Fribourg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Samuel Kaiser: Rezension von: Mignolo, Walter D.: Epistemischer Ungehorsam, Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität Reihe: Es kommt darauf an, Band 12. Wien: Turia + Kant 2012. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978385132633.html