EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)

Valentin Dander / Patrick Bettinger / Estella Ferraro / Christian Leineweber / Klaus Rummler (Hrsg.)
Digitalisierung – Subjekt – Bildung
Kritische Betrachtungen der digitalen Transformation
Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich 2020
(276 S.; ISBN 978-3-847-42350-8; 29,90 EUR)
Digitalisierung – Subjekt – Bildung Themen aus dem weiten Feld der Digitalisierung und den damit einhergehenden Transformationen werden in der erziehungswissenschaftlichen Theorie bislang weitgehend innerhalb der Medienpädagogik verhandelt, weshalb Brückenschläge in die allgemeine und bildungstheoretische Erziehungswissenschaft begrüßenswerte und auch überfällige Anliegen sind. Dem widmet sich der von mehreren in diesem Schnittfeld tätigen Autor_innen herausgegebene (und auch als Open Access digital abrufbare) Sammelband in zwölf Beiträgen, die anhand unterschiedlicher theoretisch-konzeptioneller Auseinandersetzungen oder der Analyse gesellschaftlich-politischer Phänomene vor allem die Handlungsfähigkeit der Subjekte im digitalen Raum ausleuchten. Da die Herausgebenden sich nicht für eine Gliederung der Beiträge in Teile entschieden haben, wird auch die folgende Besprechung sich vom Potenzial des Ineinandergreifens der Beiträge leiten lassen. Die Beiträge selbst sind in erster Linie zur Anregung gedacht und werden vor allem als kritischer „Möglichkeitsraum für neue Ideen, Anschlüsse und Diskussionen“ (12) verstanden.

Der abschließende Beitrag zur „Dialektik des Publizierens in der akademischen Kulturindustrie im Zeitalter der Digitalisierung“ von Klaus Rummler soll einen ersten Diskursraum umreißen. Darin wird die Transformation des Wissenschaftssystems selbst problematisiert, die durch algorithmengesteuerte Eingriffe in die sich digitalisierende Publikationspraxis vorangetrieben wird. Dadurch wird wissenschaftliches Schreiben im Zusammenspiel von Literatur- und Informations-Managementsystemen, maschinellen Impact-Messungen von Texten und dem ökonomischen Interesse der Verlage, Nutzungsketten zu erzeugen, schlicht zu szientifischem Big Data, und Rummler zeichnet daran die problematische Konversion der Publikationsliste zum individualisierten „datafizierten Leistungsausweis“ (253) der Wissenschaft Betreibenden nach.

Ähnlich entwickelt auch Dan Verständig die fundamentale Bedeutung der ambivalenten „Grammatik des Digitalen“ (138) von – zumeist unsichtbaren – Technologien in seinem Beitrag „Über den Widerstand zu coding publics“. Verständig argumentiert, dass die kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Implikationen von Infrastrukturen und Algorithmen bspw. für die Orientierung in der Lebenswelt oder die Entstehung von Öffentlichkeiten in digitalen/analogen Räumen (die „coding publics“; 153) performativ wirksam werden. Prozesse der Bildung sind damit konstitutiv in technische Umgebungen und den Umgang mit technischen Akteuren eingewoben.

Dass dies den bildungspolitisch geführten Diskurs um „Digitale Bildung“ übersteigt, darin stimmt er mit mehreren Beiträgen überein. So widerspricht Valentin Dander in „Sechs Thesen zum Verhältnis von Bildung, Digitalisierung und Digitalisierung“ u.a. der letztlich in ökonomische Logiken der Kapitalakkumulation eingebundenen bildungspolitischen Fokussierung auf Digitalisierung als „‚technological fix‘ für soziale Problemlagen“ (26). Dies sieht auch Christian Leineweber im Beitrag über „Digitale Bildung und Entfremdung – Versuch einer normativ-kritischen Verhältnisbestimmung“ als Kern der im bildungspolitischen Konzept der „Digitalen Bildung“ angelegten dynamischen Steigerungslogik an, die sich z.B. im ökonomischen Wachstum oder der temporalen Beschleunigung manifestiert und dabei in Entfremdungseffekte münden kann, die schließlich Bildungsprozesse in Frage stellen könnte statt sie zu befördern.

Eine solche normative Perspektive bereitet den Boden nicht nur für Kritik (u.a. an der mangelnden Gendergerechtigkeit und Diversitätssensibilität des Konzepts der „Digitalen Bildung“), sondern lädt auch zu Verbesserungsvorschlägen ein. Aus einer (cyber-)feministischen Perspektive stellt Ann-Kathrin Stoltenhoffs und Kerstin Raudonats Beitrag über „Strategien und Ansätze einer aktivierenden Perspektive auf Informations- und Kommunikationstechnologien im 21. Jahrhundert“ (Untertitel) daher exemplarische Kunstprojekte und Kampagnen vor, die den antifeministischen Tendenzen der Gegenwart begegnen sollen. Ebenso mit herrschaftskritischem Blick auf Digitalisierung als ein „Doing Digital“, d.h. als eine „Praxis medialer Machausübung“ (79) entwickelt der Beitrag von Alessandro Barberi und Christian Swertz die „Handlungsorientierte Medienpädagogik“ im Anschluss an Dieter Baacke weiter. So soll ein „Beitrag zur Medienkompetenzvermittlung für Entscheidungsimpulse setzende Akteur*innen“ (Titel) geleistet werden, der auf demokratische Macht und damit gegebene Freiheitsspielräume (z.B. für Widerständigkeit, Medienaktivismus und Subversion) abzielt.

Der Relevanz, den Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Kritik auch für die medienpädagogische Empirie geht Patrick Bettinger im Beitrag „Medienpädagogische Forschung und Kritik – Spannungsfelder und Positionsbestimmungen” nach. Produktive Ansatzpunkte hierfür untersucht er bspw. auf den Ebenen der Wahl des Gegenstandes (z.B. in der Forschungsfrage oder dem Erkenntnisinteresse), des methodologisch-methodischen Forschungsdesigns sowie der selbstreflexiven „Haltung der Forschenden“ und „ihrer Position im Prozess der Hervorbringung von Wissen“ (239).

Als Beispiel einer solchen kritischen medienpädagogischen Empirie lässt sich der Beitrag von Maximilian Waldmann zu „Fake News als Herausforderung für ein politisches Verständnis von Medienbildung” verstehen. An den Durchgang durch drei Beispiele für psychologisch-akteurszentrierte, medienwissenschaftlich-semiotische und kommunikationswissenschaftlich-musterorientierte Positionen anschließend, schlägt Waldmann eine hegemonieanalytische Perspektive aus der politischen Philosophie vor. Diese erlaube es, die spezifischen thematischen Konjunkturen von Fake News als Effekt einer politisch-gesellschaftlichen Herrschaftsdialektik zu analysieren – und zudem selbstkritisch zu wenden.

Der Wendung auf die (selbst-)kritische Position des Subjekts, das sich inmitten der gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Digitalisierung wiederfindet, folgt der Beitrag „Tūrangawaewae: ‚Ein Ort zum Stehen‘ – Selbstpositionierungen und Kritik im digitalen Zeitalter“ von Estella Ferraro. Das titelgebende Maori-Konzept mit seinen relationalen Bedeutungsebenen im Sinne von (individuellem) Standort, (historisch-kultureller) Verortung und (sozial-räumlicher) Vernetzung scheint geeignet zu sein, das subjektivierende kritische „Positionieren im digitalen Raum“ (65) in doppelter Weise zu umfassen: bezogen auf die ambivalente Rolle der (Selbst- und Fremd-)Kritik, die Ferraro an drei Interview-Beispielen verdeutlicht, und bezogen auf die ihr korrespondierende Gleichzeitigkeit von Beweglichkeit und Persistenz von Datenspuren im Netz.

Der Bildungsgedanke, der hier mit der kritischen Positionierung verbunden ist, wird im Beitrag von Johannes Fromme und Tom Hartig zu „Let’s Plays als Szene informeller Bildung?“ explizit aufgenommen und im Durchgang durch theoretische Positionen und empirisches Bild-Material für die „Let’s Play-Szene als informelle Lernumgebung“ (172) in seinen Potenzialen und Grenzen diskutiert. Dabei wird die Vielschichtigkeit des filmisch bereitgestellten kommentierten Spielens dieser „partizipative[n] Medienkulturen im digitalen Zeitalter“ (Untertitel) als aufmerksamkeitswürdiges medienpädagogisches Thema deutlich.

Während der Gedanke der (Medien-)Bildung im vorliegenden Band dabei von der Referenz auf die strukturale Bildungstheorie Winfried Marotzkis und deren zentraler Figur der Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse dominiert wird, bemühen sich die beiden zuletzt zu nennenden Beiträge um die Überschreitung dieses Modells. So justiert Manuel Zahns Beitrag die „Ästhetische Praxis als Kritik“, die vom „Aussetzen des Urteilens und der Erfindung neuer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten“ (Untertitel) ausgeht, und in der Mensch und Technik sich in einer Wechselbeziehung befinden. An einem Remix-Video erläutert Zahn die besondere Erfahrungs- und Welterschließungsweise von Schnitt und Montage, die nicht mit dem intentionalen Subjekt der klassischen Bildungstheorie verbunden ist, sondern als „multisubjektives, verteiltes Geschehen der miteinander verbundenen Dividuen“ (230) gedacht wird.

Während hier die ästhetische Erfahrung ökonomischen Logiken entgegenläuft, führt der Beitrag von Heidrun Allert zur „Plattformökonomie und Entstaatlichung: familienorientiert, ortsunabhängig und #freilernend“ eine Lebensweise vor, die Werte wie „Selbstbestimmung, Freiheit, Eigenverantwortung und das Leben“ (189) gerade in den ökonomischen Praktiken der datenkapitalistischen Geschäftsmodelle verwirklicht sieht, die durch ortsunabhängige digitale Technologien ermöglicht werden. Anhand einer Online-Ethnographie von Instagram-Accounts zeichnet Allert so eine Subjektivierungsform der „digitalen Nomaden“ (187) nach, die steuerfinanzierte nationalstaatliche Gemeinwesen und ihre öffentlichen Bildungsinstitutionen vor neue Herausforderungen stellt. Diese jedoch – und hier schließt sich der Kreis – werden von den derzeitigen funktionalistischen bildungspolitischen Konzepten der „digitalen Bildung“ nicht erfasst.

Im vorliegenden Sammelband dokumentiert sich das breite medienpädagogische Handwerkszeug der Auseinandersetzung zum einen mit den gegenwärtigen bildungspolitischen Antworten auf die durch die Digitalisierung angestoßenen gesellschaftlichen Transformationen. Zum anderen arbeiten sich die Beiträge dabei an Phänomenen und Materialien der (post-)digitalen Kultur ab, um diese sowohl mit traditionellen bildungstheoretischen Mitteln zu begreifen als auch darüber hinauszugehen. Erfreulicherweise wird dabei der engere Rahmen mediendidaktischer Überlegungen zum Umgang mit digitalen Medien reflexiv unterlaufen. Das leitende Motiv der Kritik am bildungspolitischen Apriori der digitalen Bildung entfaltet sich in den Beiträgen ausdifferenziert und nachvollziehbar. Gleichwohl wirkt dabei der transformatorische Bildungsbegriff der Strukturalen Medienbildungstheorie wie der haltgebende Fluchtpunkt einer fast konsensual unterliegenden Folie der Beiträge, der wohl nicht zufällig in einer Passung zur (pädagogischen) Orientierung an der reflexiv-kritischen Gestaltungsfähigkeit der Subjekte steht. Dies spannt den Denkrahmen der digitalen Transformationen auf, dessen Möglichkeiten ebenso wie seine Grenzen im Zusammenspiel der Beiträge deutlich werden, so dass der Band letztlich auch Anstöße dazu gibt, für die sich in, mit und an den Subjekten vollziehenden Transformationen entlang der neuen techno-sozialen Phänomene neue Theorierahmen aufzunehmen.

Wenn gelegentlich durchaus Fragen zur Konsistenz von Argumentationen und Schlussfolgerungen aufkommen mögen, bietet der Band damit doch vielfältige Anknüpfungspunkte für pädagogische Überlegungen ebenso wie geeignete Anstöße für die weitergehende Arbeit an den zentralen Kategorien zur Erforschung der multiplen Transformationen der (post-)digitalen Kultur selbst.
Sabrina Schenk (Landau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Schenk: Rezension von: Dander, Valentin / Bettinger, Patrick / Ferraro, Estella / Leineweber, Christian / Rummler, Klaus (Hg.): Digitalisierung – Subjekt – Bildung, Kritische Betrachtungen der digitalen Transformation. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742350.html