EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)

Katrin Mareike Otremba
Schulgestaltung im Kontext von Migration
Grundschulleitungen zwischen institutionellen Vorgaben, organisatorischen Anforderungen und pädagogisch-professionellem Know-how
Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2019
(268 S.; ISBN 978-3-8474-2333-1; 34,00 EUR)
Schulgestaltung im Kontext von Migration Auch 20 Jahre nach Veröffentlichung der ersten PISA-Studienergebnisse zeigen sich Bildungsdisparitäten zum Nachteil von Schüler*innen mit sogenanntem Migrationshintergrund, welche bereits im Primarschulbereich ihren Ausdruck finden. Um die Bildungsungleichheit abzubauen, wurden weitreichende bildungspolitische Maßnahmen eingeführt. Diese verfolgen das Ziel migrationsbezogenen Bildungsungleichheiten zu begegnen, tragen jedoch paradoxerweise zu ihrer weitestgehenden Aufrechterhaltung bei. Dieser Widerspruch bildet das Forschungsinteresse der von Katrin Mareike Otremba vorgelegten Dissertation: Zum einen untersucht sie wie Grundschule im Kontext von migrationsbedingter Heterogenität gestaltet ist. Zum anderen analysiert Otremba die Sinnzuschreibungen und -konstruktionen, mit denen Schulleitungen eine migrationssensible Schulentwicklung vorantreiben. Die Frage nach einer möglichen (Re-)Produktion von Mechanismen einer migrationsbezogenen Benachteiligung steht dabei im Fokus der Forschung. Um das institutionelle Handlungswissen von Schulleitungen bei der Gestaltung von Schule im Kontext von Migration zu rekonstruieren, führt Otremba eine qualitative Interviewstudie an Grundschulen in Bayern und Nordrhein-Westfalen durch. Mit diesen Bundesländern wählt Otremba zwei kontrastierende Regionen hinsichtlich ihrer migrationsbezogenen Bildungspolitik. Die Frage inwieweit die unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen konstruktiv für das Schulleiterhandeln sind, bildet einen weiteren Schwerpunkt ihrer Forschung.

In der Einleitung skizziert Otremba knapp die Prävalenz der Differenz im Bildungserfolg zwischen Schüler*innen mit und ohne sogenannten Migrationshintergrund und thematisiert sozioökonomische Gründe für die migrationsbezogene Bildungsungleichheit. In Abgrenzung dazu formuliert Otremba ihre institutionen- und organisationsbezogene Analyseperspektive auf die (Re-)Produktion von Bildungsungleichheit.

Das zweite Kapitel bietet einen Einblick in die schulpädagogische Praxis der interkulturellen Schulentwicklung in Deutschland sowie eine theoretische Auseinandersetzung mit Schule als Organisation. Dabei wird insbesondere die Relevanz des schulischen Leitungsamtes in der durch Spannungen geprägten Triade Schulsystem – Organisation – Akteur herausgearbeitet.

Der Frage, wie sich migrationsbezogene Disparitäten im Bildungssystem herausbilden, geht Otremba im dritten Kapitel nach, welches die theoretische Grundlage ihrer Forschung bildet. In einer Mehrebenenperspektive nimmt Otremba zunächst das Schulsystem, anschließend die Schule und letztendlich Schulleitungen als (Re-)Produzenten von migrationsbezogener Ungleichheit in den Blick. Dabei thematisiert Otremba schulisch-institutionell verankerte Erwartungshaltungen, die historisch gewachsen oder das Ergebnis von rechtlichen Strukturen sind und zu Herstellung von migrationsbezogenen Ungleichheiten beitragen (z.B. das meritokratische Selbstverständnis des Bildungswesens, Monolingualisierung, Illusion der homogenen Schülerschaft). Ferner betrachtet sie Theorien der institutionellen Diskriminierung und pädagogische Wissens- und Deutungsbestände schulischer Akteure, die sich heute unter dem Stichwort der interkulturellen Pädagogik zusammenfassen lassen.

Auf Grundlage dieses theoretischen Vorwissens, welches als „sensibilisierendes Kontextwissen“ (S. 77) fungiert, wird im vierten Kapitel die methodische Konzeption der Dissertation vorgestellt. Der Tradition des Symbolischen Interaktionismus folgend, werden die Bedeutungskonstruktionen von Schulleiter*innen über die Gestaltung von Schule im Kontext von Migration mit Hilfe von leitfadengestützten, offenen Experteninterviews erfasst.
Die Ergebnisdarstellung im fünften Kapitel erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden die zwölf Interviews hinsichtlich ihrer zentralen Themen analysiert. Einen Schwerpunkt bildet ein Vergleich zwischen den jeweils sechs geführten Interviews mit Schulleitungen in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Otremba zeigt, dass die unterschiedlichen Bildungspolitiken der Regionen „institutionelle Opportunitätsstrukturen“ [1] bilden, welche die professionellen Handlungskonzepte von Schulleitungen beeinflussen. Diese bundeslandspezifischen Differenzen verlieren bei der Betrachtung der individuellen Interpretationen von Schulleitungen jedoch ihre Kontur. Dabei bilden sich neue Differenzlinien, „welche sich weniger nach Bundeslandzugehörigkeit [unterscheiden], sondern vielmehr danach, inwiefern die Befragten mit ihren Sichtweisen Mechanismen einer migrationsbezogenen Benachteiligung (re-)produzieren bzw. mit eben diesen Mechanismen brechen“ (Hervorh. im Orig., S. 164). So macht Otremba deutlich, dass Schulleiter*innen ihre Handlungsoptionen innerhalb der institutionellen Vorgaben unterschiedlich interpretieren und nutzen, um migrationssensible schulische Gestaltungsprozesse voranzutreiben. Im Anschluss wird die vergleichende Analyse durch eine ausführliche Beschreibung von fünf ausgewählten Schulportraits ergänzt. Ziel ist es, die heterogenen Interpretationen der Schulleiter*innen hinsichtlich der Gestaltung von Schule im Kontext von Migration herauszuarbeiten und gegenüberzustellen. Mit Rückgriff auf die theoretisierte Triade Schulsystem – Organisation – Akteur werden ungleichheitsgenerierende Mechanismen auf allen Ebenen identifiziert, die sich durch Ambivalenz und Komplexität auszeichnen und ineinandergreifen sowie sich gegenseitig verstärken können.

Im sechsten Kapitel der Dissertation wird ein konzises Fazit gezogen, in welchem zentrale Ergebnisse aus der vergleichenden Analyse und Fallanalyse zusammengetragen werden. Außerdem werden Limitationen des methodischen Vorgehens – wie die alleinige Fokussetzung auf die Rolle der Schulleitung – reflektiert.

Otremba legt die zahlreichen theoretischen Ansätze zur (Re-)Produktion von migrationsbezogener Ungleichheit umfassend und nachvollziehbar dar. Dies gelingt ihr vor allem durch die klare und plausible Struktur des dritten Kapitels. Auch die Wahl zweier kontrastierender Untersuchungsregionen entpuppt sich als gewinnbringend. So zeigt Otremba, dass benachteiligungsfördernde Praktiken auch unabhängig von der bildungspolitischen Ausrichtung einer Region aufzufinden sind und z.B. das Resultat individueller Vorurteilstrukturen sind. Otremba schlussfolgert, dass „sich migrationsbezogene Bildungsungleichheiten im Schulsystem über das komplexe Wechselspiel der unterschiedlichen Ebenen von Schule konstituieren“ (Hervorh. im Orig., S. 250).

Die theoretische Integration der Befunde hätte noch weiter getrieben werden können. So findet eine intensive Auseinandersetzung mit der in der Ergebnisdarstellung aufgezeigten strukturellen Komplexität und Eigenlogik von Organisationen im soziologischen Neo-Institutionalismus statt. Die in der Dissertation vorgestellten Befunde deuten z.B. darauf hin, dass die formale Gestaltung von Schule als Ergebnis der aktiven Verarbeitung von heterogenen Umweltvorgaben interpretiert werden kann. Ein neo-institutionalistischer Blick auf Schule und Schulentwicklung bleibt von Otremba jedoch unberücksichtigt. Gleichwohl kann die Dissertation von Katrin Mareike Otremba allen empfohlen werden, die sich mit Fragen der Schulgestaltung, um Bildungsungleichheit entgegenwirken zu können, befassen. Sie fasst institutionell- und organisationsbezogene Ursachen der Bildungsungleichheit komprimiert zusammen und liefert neue Perspektiven darauf, wie (Grund-) Schulleitungen migrationsbedingte Vielfalt konstruieren und dieser begegnen.

[1] Fend, Helmut (2008): Schule gestalten. Systemsteuerung, Schulentwicklung und Unterrichtsqualität. Wiesbaden: VS.
Agnes Tarnowski (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Agnes Tarnowski: Rezension von: Otremba, Katrin Mareike: Schulgestaltung im Kontext von Migration, Grundschulleitungen zwischen institutionellen Vorgaben, organisatorischen Anforderungen und pädagogisch-professionellem Know-how. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742333.html