EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)

Peter Dudek
„Er war halt genialer als die anderen“
Biographische Annäherungen an Siegfried Bernfeld
Gießen: Psychosozial-Verlag 2012
(646 S.; ISBN 978-3-8379-2171-7; 59,00 EUR)
„Er war halt genialer als die anderen“ Peter Dudek hat bereits 2002 eine Buchpublikation zu Siegfried Bernfeld vorgelegt („Fetisch Jugend, Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkriegs“) und sich in weiteren zahlreichen Artikeln mit Bernfeld, seiner Arbeit und seinen Ideen befasst. Der vorliegende Band bietet „Biographische Annäherungen an Siegfried Bernfeld“ und hält, was dieser Untertitel verspricht. Dudek breitet die Ergebnisse seiner Spurensuche auf mehr als 600 Seiten aus. Er beschreibt Bernfelds Biografie, seine vielfältigen Arbeiten und die vielen Menschen, die ihn dabei begleiteten. Mit ähnlicher Akribie, wie er das Leben Bernfelds rekonstruiert, sucht er auch nach biografischen Spuren seiner WegbegleiterInnen. Neben ihren persönlichen Daten stellt er stets auch ihre Haltung gegenüber Bernfeld dar, wobei er sie selbst zu Wort kommen lässt und auch unterschiedliche Positionen zu Bernfeld aufzeigt. Gleichzeitig geht Dudek den verschiedenen Kreisen nach, denen Bernfeld angehörte und mit denen er im geistigen Austausch stand. Dazu gehörten die LehrerInnen und SchülerInnen der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, die Mitglieder der Sprechsaalbewegung, die Kreise um Sigmund und Anna Freud, die zionistische Bewegung in Österreich, der Kreis um Martin Buber, die PsychoanalytikerInnen und PädagogInnen im Berliner Psychoanalytischen Institut, Wilhelm Reich, die Deutsche Hochschule für Politik, sozialdemokratische VertreterInnen des „Roten Wien“ sowie die Emigrantenkreise und PsychoanalytikerInnen in Menton, London und San Francisco.

Um die Fülle des Materials übersichtlich zu strukturieren, hat Dudek sein Buch in sechs große Themenkreise unterteilt. Der erste Themenkomplex befasst sich mit Kindheit und Jugend Bernfelds und seinen frühen Aktivitäten auf den Gebieten der Jugendkultur und der Jugendforschung (Kapitel 3). Sodann geht Dudek chronologisch weiter und beschreibt Bernfelds Annäherung an die jüdische Jugendbewegung und den Zionismus während des Ersten Weltkriegs (Kapitel 4). In diesem Teil beschreibt Dudek auch Bernfelds Erfahrungen mit dem Kinderheim Baumgarten und seine Freundschaft mit Anna Freud. Leider geht gerade dieser Abschnitt, der für Bernfelds Entwicklung, wie der Autor wiederholt feststellt, zentral war, nur wenig über bekanntes Material hinaus. So hätte man sich eine detailliertere Darstellung der Zusammenarbeit mit Anna Freud und August Aichhorn gewünscht. Ein eigener Themenkreis ist Bernfelds drei Ehefrauen Anne Salomon, Elisabeth Neumann und Suzanne Cassirer Paret gewidmet (Kapitel 5). Dudek hat hier mit Akribie die biografischen Daten des innersten familiären Kreises von Bernfeld gesammelt. Trotzdem bleiben die Personen, die Beziehungen und ihr Scheitern ein wenig schemenhaft.

Breiteren Raum räumt Dudek der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ ein, Bernfelds wichtigstem Werk (Kapitel 6). Dieses stellte einerseits eine pessimistische Aufarbeitung seines Projekts Kinderheim Baumgarten dar, andererseits wies es auf den Einfluss von Weltanschauung und Politik auf die praktische Anwendung von Psychoanalyse und Pädagogik hin, die sich eben nicht im wertfreien wissenschaftlichen Raum abspielt. Aufgrund des Einflusses äußerer Faktoren sei, wie Bernfeld im Vorwort zur zweiten Auflage ausführte, die „Erziehbarkeit des Kindes beschränkt: die Erziehfähigkeit des Erziehers ist es gleichfalls“ (Dudek, 333). Diese Grenzen seien gesellschaftlich und politisch bestimmt. Wie schon in seinen früheren Arbeiten kritisierte Bernfeld die dominante bürgerliche Pädagogik. Konkret warnte er davor, dass Pädagogik in Zeiten des Umbruchs systemerhaltend wirken und damit den Menschenschlag verewigen könne, den sie als unerzogen und ungebildet ablehne. Als Alternative propagierte Bernfeld eine von Marxismus und Freudianismus geprägte Pädagogik.

Nach dem Erscheinen des Sisyphos übersiedelte Bernfeld nach Berlin, wo er von 1925 bis 1932 lebte. Diesen Berliner Jahren widmet Dudek ein weiteres Kapitel (7), in dem er Bernfelds verstärkter Hinwendung zur Sozialdemokratie nachgeht. Neben einer beeindruckenden Produktion schriftlicher Werke äußerte sich Bernfeld zu pädagogischen Problemen, die öffentliche Kontroversen auslösten, wie zum Beispiel die Frage der Schulreform und der Heimerziehung. In die Berliner Jahre fiel auch die Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich, die mit dessen Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung endete, und bei der Bernfeld aktiv auf Seiten Sigmund Freuds beteiligt war. Bernfelds Bemühungen, sich an einer Universität zu etablieren, scheiterten ebenso wie seine zweite Ehe. Dies war auch der Grund für Bernfelds Rückkehr nach Wien im Jahr 1932, dem Dudek das achte Kapitel widmet. Von Wien aus beobachtete Bernfeld besorgt die Machtübernahme Hitlers in Deutschland. Doch auch in Österreich schaltete die christlich-soziale Partei im März 1933 das Parlament aus und etablierte ein autoritär-konservatives Regime. Dieses drängte die Sozialdemokratie sukzessive zurück, bis sie im Februar 1934 verboten wurde. Mit der Zerstörung des „Roten Wien“ verlor Bernfeld sein geistiges Umfeld und die notwendigen Anregungen. Die Auswanderung der Wiener Psychoanalytiker, meist nach Großbritannien und in die USA, begann bereits 1933. Bernfeld übersiedelte mit seiner Frau Suzanne Cassirer Paret und deren Kindern im September 1934 nach Menton in Südfrankreich, wo er seine bereits in Berlin begonnene Arbeit an der Libidometrie fortsetzte. 1937 übersiedelte die Familie nach London und wenige Monate später in die USA, wo sie sich in San Francisco niederließ. Nach Differenzen in der Psychoanalytischen Vereinigung San Franciscos über die Laienanalyse baute Bernfeld seine eigene Vereinigung auf. Gleichzeitig setzte er seine lebenslange Beschäftigung mit der Jugendforschung fort und befasste sich zusammen mit seiner Frau mit der Biografie Freuds. Damit traten sie in ein gewisses Konkurrenzverhältnis zu Ernest Jones, der zur selben Zeit ebenfalls an einer Freud-Biografie arbeitete und von Anna Freud bevorzugt wurde. Dennoch kam es zu einer Zusammenarbeit, welche Jones, wie Dudek zeigt, in seinem Werk viel zu wenig gewürdigt hat. Bernfelds früher Tod verhinderte schließlich den Abschluss seines eigenen Werkes.

Dudeks biografische Annäherung an Siegfried Bernfeld beeindruckt durch die Fülle von Material, die er vor dem Publikum ausbreitet. Allerdings erhält das Buch dadurch den Charakter eines biografischen Handbuchs. Die historische und kulturwissenschaftliche Einbettung tritt dem gegenüber leider zu sehr in den Hintergrund. Dennoch finden hier ForscherInnen und andere an Bernfelds Leben und Werk Interessierte eine Fülle von zum Teil noch nicht publiziertem Quellenmaterial, das hoffentlich zu weiteren Studien anregen wird.
Eleonore Lappin-Eppel (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eleonore Lappin-Eppel: Rezension von: Dudek, Peter: „Er war halt genialer als die anderen“, Biographische Annäherungen an Siegfried Bernfeld. Gießen: Psychosozial-Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383792171.html