EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)

Eckart Liebau / Jörg Zirfas (Hrsg.)
Die Bildung des Geschmacks
Ăśber die Kunst der sinnlichen Unterscheidung
Bielefeld: transcript 2011
(228 S.; ISBN 978-3-8376-1746-7; 25,80 EUR)
Die Bildung des Geschmacks „Der Geschmack bewirkt, dass man hat, was man mag, weil man mag, was man hat.“ Dieses Zitat von Pierre Bourdieu (1979) formuliert kurz und prägnant, worum es in diesem Band geht. Reflektiert wird in drei Kapiteln „Bildung und Erziehung“, Vernunft, Technik und Kunst“, „Erfahrungen des Anderen“ die Frage nach der Bildung des Geschmacks durch verschiedene Fachvertreter des Interdisziplinären Zentrums für Ästhetische Bildung der Universität Erlangen (Theologie, Musikwissenschaften, Philosophie, Japanologie, Soziologie, Theaterwissenschaften und nicht zuletzt Pädagogik). Ansatzpunkt ist, die Auseinandersetzung mit Geschmack als Sinnen- und als Kunstgeschmack in den praktischen und den schönen Künsten gleichermaßen zu betrachten und ihn als Vermögen der Differenzierung, das Wahrnehmen und Reflektieren einer Unterscheidung zu erschließen.

Über Geschmack kann man sich streiten, auch darüber, ob das Wort in die Kunstbetrachtung gehört oder nicht. Die Herausgeber zumindest positionieren sich in der Weise, dass sie die Geschmacksbildung von der Sinnlichkeit her denken, die den im Allgemeinen verstandenen „niederen“ Sinn des Schmeckens nicht nur metaphorisch verstanden wissen wollen. „Was uns schmeckt und was wir als ekelhaft empfinden, bekommen wir durch Erziehung und Sozialisation auf ganz unterschiedliche Weise beigebracht“ (11). Geschmack zu haben bedeute somit zu signalisieren, dass man zu einer bestimmten sozialen Schicht, Kultur und Zivilisation gehöre; gleichzeitig verweise er aber auch auf Körperlichkeit (ebd.).

Die beiden Herausgeber betrachten nun Geschmack aber nicht allein als physiologisches Geschehen, sondern als „ein allgemeines Vermögen“: als Kompetenz, Ähnlichkeiten und Unterschiede wahrzunehmen, Gleiches von Ungleichem zu unterscheiden, ästhetische Identitäten und Differenzen zu benennen und bewerten zu können (12). Vor dem Hintergrund der Theorie von Bourdieu klassifizieren die Herausgeber Geschmack in 5 Modelle: Sie gehen zunächst von einem objektiven Modell als Geschmack aus, wie er in der Antike von einer Schönheitsvorstellung der Harmonie und Proportion bestimmt wird. Das subjektive Modell definiert den Geschmack über individuelle Präferenzen, während das subjektiv-objektive Modell auf ein „interesseloses Wohlgefallen“ (Kant) abzielt, d.h. auf eine Einschätzung, die für alle Menschen Geltung beansprucht (13). Das vierte Modell definiert Geschmack über die „unterschiedliche Geltung von ästhetischen Inhalten und Formen im sozialen Raum“ (ebd.). Das phänomenale Modell wiederum definiert Geschmack über die Vielfalt von Erscheinungsformen. Schönheit zeigt sich als Ereignis, im Zwischenfeld einer Begegnung mit einem Gegenstand u.a., indem man dazu herausgefordert wird, dass sich eine Haltung erst bildet. Nicht zuletzt folgen die Herausgeber einem Verständnis vom so genannten „guten Geschmack“, der mit dem Begriff selbst schon anzeigt, dass er einem Wertewandel unterliegt. Er stehe heute noch für das Gefällige und gehe einher mit der Abkehr der Frage nach dem Geschmack in der Kunst, der Abkehr von normativen Modellen also. Zugleich wird dieser Begriff zu einem der zentralen Begriffe in den Sozial- und Kulturwissenschaften, die der Forschung von Lebensstilen und Massengeschmack nachgeht. In der Moderne wird die Frage des Geschmacks folglich individueller, differenzierter und reflexiv zugleich. Nach wie vor, so die Schlussfolgerung, zeige sich Geschmack jedoch über eine gesellschaftliche Verortung und über einen Status.

Vor dem Hintergrund dieser Thesen und Modelle folgen neun sehr unterschiedlich angelegte und disziplinär spezifische Beiträge. Zunächst diskutiert Jörg Zirfas Fragen der Essethik und Eckart Liebau Konzepte der Benimmerziehung, bevor Leopold Klepacki und André Studt „Geschmacksfragen“ an das (aktuelle) Verständnis von Theater richten. Die Zusammenstellung dieses ersten Kapitels erscheint etwas ungewöhnlich in der Auswahl der Gegenstände, eröffnet aber zugleich die Dimension, wie sie in der Einleitung ausgeführt wird. Exemplarisch möchte ich auf den Beitrag von Klepacki und Studt eingehen, der einen Dialog zwischen Theaterwissenschaften und Pädagogik dokumentiert, wie er aktuell über das Thema hinausgehend von Relevanz ist. So lässt sich insbesondere am Beispiel des Theaters verfolgen, wie sich Geschmack begründet und wie er hergestellt wird. Die Autoren fragen, inwiefern das Theater eine pädagogische moralische Anstalt sei, ein Unterhaltungsmedium oder bloß ein ästhetischer Elfenbeinturm (66). Seit Aristoteles, so der Verweis, stehe der Anspruch im Raum, dass Theater nicht nur bloßes Amüsement sein dürfe, vielmehr auch bildend, belehrend und erbauend wirken solle (67). Vor dem Hintergrund verschiedener Setzungen wie sich Theater in der Antike, in der Aufklärung und im Zuge der Emanzipationsbewegungen artikuliert hat, versuchen die beiden Autoren nun die Frage nach dem Geschmack anzusiedeln. So unterscheiden sie zwischen einem Theater der Geschmackserziehung und der Entlarvung von Geschmack. Verbunden damit ist die Frage der Sinngebung durch Theater (85), die sich – so die Autoren – in der Spätmoderne wohl eher verflüchtige. In den Sinn kommt dem/r Leser/in die Vorstellung, Theater als Erfahrungs- und Bildungsraum zu verstehen und dass jenseits von Geschmacksfragen aber auch zunehmend die Besucherzahlen darüber bestimmen, was im und als Theater wie gezeigt wird.

Das Kapitel „Vernunft, Technik und Kunst“ wird zunächst über den Beitrag von Peter Bernhard geöffnet, der verdeutlicht, dass ein „Gegenstand eine ästhetische Aufwertung erfährt, wenn man ihn mit Attributen der Vernunft versieht“ (104). Gert Schmidt verfolgt die Verknüpfung von Vernunft und Geschmack an dem geliebten Automobil entlang eines Bildmaterials von Automobilien, den Sinnträgern für die Mobilität im 20. Jahrhundert. Er verfolgt die These, dass eine Geschmacksbeurteilung des Autos ungeachtet aller rationalen Erwerbs- und Gebrauchserwägungen etc. erfolgen würde. Der letzte Beitrag in dem Kapitel beschäftigt sich stellvertretend für die Künste mit der Frage, was denn musikalischer Kitsch sei, gefolgt von einem weiteren Beitrag aus der Musikwissenschaft im Kapitel drei „Erfahrungen des Anderen“, der sich an eindrücklichen Beispielen dem Phänomen des „Süßen“ zuwendet. An verschiedenen Musikstücken wird gezeigt, welche Bedeutung der Topos der Süßigkeit in der abendländisch-religiösen, christlich ausgerichteten Musiktradition hat. Peter Ackermann verwendet die Kategorie des Raums, um dem Geschmack in einer fremden Kultur nachzugehen. Auch er geht von der sinnlichen Wahrnehmung aus, in der sich das Fremde bestimmt. Ihn interessiert vornehmlich die Frage, wie in Japan Präferenzmuster einerseits und vom Umfeld gelieferte Stimuli andererseits aufeinander bezogen sein könnten (190). Ausgehend von vier Raumbegriffen, dem natürlichen, sozialen, transzendierten und historischen Raumbegriff, analysiert er die Frage des Geschmacks und kommt über den Raumbegriff zu eindrücklichen und umfassenden Ergebnissen. Noch einmal sehr nah an den Ausgangsthesen von Zirfas und Liebau ist der Beitrag von Peter Buhmann über den Zusammenhang von christlichem Glauben und religiösem Geschmack angelegt (215).

Zusammengefasst liegt hier ein Band vor, der einen wichtigen Diskurs im Kontext der Kulturwissenschaften aufgreift, indem er zur Konzeptionierung einer interdisziplinär zu verstehenden kulturellen und ästhetischen Bildung anregt und zu einer Weiterführung der Frage des Geschmacks auffordert. Angesichts der Breite bleibt die Frage offen, wie die Ergebnisse einzubinden wären in eine vertiefende interdisziplinär ausgerichtete Untersuchung und Kulturtheorie, die die unterschiedlichen Perspektiven systematisch aufzuheben weiß. Einen Ausblick über die Geschmacksbildung hinausgehend findet man insbesondere in den Beiträgen von Klepacki und Studt sowie von Ackermann. Der eine Beitrag macht deutlich, dass die Geschmacksfrage im 21. Jahrhundert von anderen Fragen abgelöst wird, wenn man Theater bzw. Kunst und Kultur nicht mehr als Repräsentationsmodelle versteht; der andere Beitrag verweist darauf, dass die Kategorie des Geschmacks möglicherweise zu eng angelegt ist, aber in Verbindung z.B. mit dem Raum zu einem spannenden Ansatz und Beitrag für den Diskurs des „Fremden“ wird.
Kristin Westphal (Koblenz-Landau, Campus Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kristin Westphal: Rezension von: Liebau, Eckart / Zirfas, Jörg (Hg.): Die Bildung des Geschmacks, Ăśber die Kunst der sinnlichen Unterscheidung. Bielefeld: transcript 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383761746.html