EWR 11 (2012), Nr. 1 (Januar/Februar)

Matthias Zaft
Der erzählte Zögling
Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung
Bielefeld: transcript 2011
(401 S.; ISBN 978-3-8376-1737-5; 35,80 EUR)
Der erzählte Zögling In seiner Studie nimmt Matthias Zaft eine im Vergleich zu den bisher vorliegenden Untersuchungen neue Perspektive auf die Fürsorgeerziehung im Nationalsozialismus ein: Hier geht es nämlich weder um einen ideen- oder theoriegeschichtlichen Zugriff auf das Thema noch darum, in klassisch institutionengeschichtlicher Manier eine oder mehrere konkrete Anstalten und den dortigen Alltag von Mitarbeitern und Zöglingen zu rekonstruieren. Dies alles scheint zwar in der Arbeit von Zaft durch, steht aber nicht im Zentrum des Interesses. Gegenstand seiner Untersuchung ist vielmehr der „erzählte Zögling“ – der Zögling also, dessen Lebensort die Akte ist, der in Gutachten, Urteilen und Berichten narrativ hervorgebracht und entfaltet wird. Nicht die in den Akten geschilderten Vorkommnisse will Zaft rekonstruieren, sondern die sich in Akten abspielende Rhetorik der Wissensproduktion sowie deren Einfluss auf die Gestaltung des realen Erziehungsprozesses.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Überlegung, dass die Generierung von Wissen über einen Zögling, über seine Entwicklung und über eine dieser Entwicklung angemessene Erziehung vor allem literarischen Mustern folgt und dass die Zöglingsakte ein aus verschiedenen Einzelerzählungen zusammengesetztes großes Narrativ bildet. Dieser Hypothese folgend unternimmt Zaft in seiner Arbeit den Versuch, Zöglingsakten der Fürsorgeerziehung aus den 1930er und 1940er Jahren in ihrer narrativen Verfasstheit textanalytisch zu untersuchen.

Den Quellenkorpus bilden 65 Zöglingsakten, bestehend u.a. aus richterlichem Unterbringungsbeschluss, Aufnahmebogen, ärztlichen Untersuchungsbögen und Datensammlungen zu den familiären Verhältnissen des Zöglings. Weiterhin enthielten die Akten Entwicklungsprotokolle, Einträge über besondere Vorkommnisse, Schulzeugnisse, Briefwechsel und schließlich Überstellungs- und Entlassungsdokumente. Die untersuchten Akten stammen aus den „Neinstedter Anstalten“, einer Fürsorgeerziehungseinrichtung der Inneren Mission im damaligen Freistaat Anhalt. Aus dem Gesamtkorpus hat Matthias Zaft drei Akten ausgewählt und sie einer eingehenden textanalytischen Untersuchung unterzogen. Dieses Vorgehen ist im Hinblick auf die Geschichte (sozial)pädagogischer Institutionen im Nationalsozialismus insofern neu, als dass die sprachliche Verfasstheit von Insassen- wie auch von Verwaltungsakten darin bisher wenig Berücksichtigung gefunden hat.

Die Arbeit von Zaft gliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst einmal werden in den ersten drei Kapiteln – mitunter etwas redundant – Thema und Fragestellungen entfaltet und das methodische Vorgehen expliziert. Nicht zuletzt wird ein historischer Kontextrahmen aufgespannt, innerhalb dessen die Untersuchung verortet ist: So wird in Kapitel eins die Geschichte der Fürsorgeerziehung und deren Krise am Ende der Weimarer Republik skizziert, sodann wird die Konkurrenzsituation zwischen konfessionellen Fürsorgeeinrichtungen und Einrichtungen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) im „Dritten Reich“ thematisiert. Weiterhin gibt der Autor einen knappen Abriss zu den rechtlichen Rahmenbedingungen der Fürsorgeerziehung und zum Ablauf des Vormundschaftsgerichtsverfahrens, in dessen Zuge über die Anordnung von Fürsorgeerziehung entschieden wurde. Im Zusammenhang mit dem vormundschaftsgerichtlichen Verfahren entstand nicht zuletzt das bürokratische Fundament des „erzählten Zöglings“ im Sinne einer ersten Akte, in der die bis dahin erhobenen Daten in eine erste, wirkungsvolle narrative Ordnung gebracht wurden.

Im zweiten Kapitel widmet sich Matthias Zaft vor allem der methodischen Projektierung seiner Untersuchung. Weil er die Akten der Zöglinge und die darin enthaltenen Einzeldokumente aus nachvollziehbar dargelegten Gründen als Erzählungen vom Zögling liest, bezieht er seine Impulse und Anregungen vor allem aus der Auseinandersetzung mit sprach- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen, z.B. der narrativen Semiotik oder der linguistischen Textanalyse. Hieraus entwickelt der Autor ein Analyseinstrumentarium, mit Hilfe dessen die Quellen untersucht werden. Dies alles dient dazu, die Rhetorik der Wissensproduktion in der konkreten Zöglingsakte zu beschreiben, zu analysieren und zu diskutieren.

Ergänzend und weiterführend zu der in Kapitel eins begonnenen Kontextualisierung wird in Kapitel drei auf die ideologische Rahmung der Fürsorgeerziehung eingegangen. Der Fokus richtet sich hier vor allem auf den „Sozialen Rassismus“, bildet er doch, wie sich in der Analyse der Zöglingsakten herausstellen wird, den zentralen konzeptuellen Bezugspunkt, an dem sich implizit oder explizit die narrative Wissensgenerierung über die Fürsorgezöglinge orientierte. Das Kapitel drei beschreibt nicht zuletzt die Entwicklung der Inneren Mission und der Diakonie von der Weimarer Republik bis in die NS-Zeit hinein. Schließlich werden die „Neinstedter Anstalten“ als eine Einrichtung der Fürsorgeerziehung der Inneren Mission vorgestellt. Die Ausführungen in Kapitel eins wie auch in Kapitel drei schließen an den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte der Sozialpädagogik, vor allem zur Geschichte der Fürsorge im „Dritten Reich“, an – fügen ihm allerdings wenig Neues hinzu. Letzteres war allerdings auch nicht das erklärte Ziel der Untersuchung.

Ihr innovatives Potenzial entfaltet die Studie vielmehr im folgenden Kapitel vier, das sicherlich als das Kernstück der Untersuchung angesehen werden kann. Auf mehr als 170 Seiten werden drei Zöglingsakten einer ausführlichen textanalytischen Untersuchung unterzogen. Bei den Zöglingen handelt es sich um männliche Kinder bzw. Jugendliche, die in den Jahren zwischen 1931 und 1945 in den Neinstedter Anstalten untergebracht waren. Auch wenn die analytische Tiefe der einzelnen Fallstudien unterschiedlich ausfällt, zeichnet der Autor darin doch kleinschrittig und durchweg überzeugend nach, wie der Akten-Zögling aus einem recht früh mehr oder minder feststehenden Daten- und Begriffspool heraus narrativ hervorgebracht wird. Dabei kommt, so ein Ergebnis der Untersuchung, dem vormundschaftsgerichtlichen Unterbringungsbeschluss eine besondere Bedeutung zu, findet sich in ihm doch „die ‚Figur des Zöglings‘ […] bereits fertig vor“ (341). Mit dieser im Unterbringungsbeschluss narrativ entfalteten Figur wird dann in der Akte weitergearbeitet. Dabei kann sich die Figur im Weiteren „bewähren, entwickeln, versagen, scheitern etc., solange sie sich nur innerhalb des angelegten Möglichkeitsspektrums aufhält“ (ebd.). Neu hinzutretende Fakten führen in aller Regel nicht zu einer grundlegend neuen Narration, sondern werden im Hinblick auf die bereits bestehende stimmig gemacht. Erstaunt, mitunter fassungslos ist man als Leser(in) ob des hohen Grads an Selbstreferentialität der „Akte“. Akribisch arbeitet Zaft heraus, wie sehr die Aktenproduzenten dem Prinzip des Zitierens huldigten und wie wenig demgegenüber aus eigenen Beobachtungen oder aus Gesprächen mit dem „realen“ Zögling Eingang in die Akte fand und narrativ wirksam werden konnte. Sinngebend für alle Narrationen vom Zögling war der Bedeutungshorizont des Sozialrassismus. Er blieb das Leitkonzept des institutionellen Erzählens.

Das resümierende Kapitel fünf beinhaltet schließlich eine pointierte Zusammenfassung und Diskussion der Untersuchungsergebnisse. Deren auch über die Studie hinausweisende Bedeutung liegt nicht nur, aber auch darin, die immense Macht von Sprach-Handlung in (sozial)pädagogischen Kontexten, insbesondere in gutachterlichen und bürokratischen Vollzügen, herausgearbeitet zu haben. Denn der in den Akten erzählte Zögling war von größter Wirkmächtigkeit im Hinblick auf den Umgang mit dem realen Zögling: „Die Figur des Akten-Zöglings“, so Zaft, „nimmt in gehörigem Maß Einfluss darauf, wie der reale Zögling wahrgenommen wird, welches Bild er abgibt, schließlich auf die Einschätzung seines Verhaltens, seiner Entwicklung, die Wirksamkeit der Erziehungsbemühungen um ihn“ (61). Dies gilt grundsätzlich, damals wie heute, erhält aber im Hinblick auf die Fürsorgeerziehung im „Dritten Reich“, wo über brutalste Strafmaßnahmen und über die Sterilisation von Zöglingen entschieden wurde, seine besondere Brisanz. Sprache konnte hier über Leben und Tod entscheiden. Allerdings, so Zaft, lässt sich die „Berücksichtigung, ja selbst das bloße Bemerken solch ethischer Dimension des eigenen Sprach-Handelns, […] für keinen der beteiligten Akteure feststellen“ (208). – Es ist dieses ein Befund von vielen in einer insgesamt ausgesprochen anregenden Studie zur Fürsorgeerziehung im Nationalsozialismus.
Petra Götte (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Petra Götte: Rezension von: Zaft, Matthias: Der erzählte Zögling, Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung. Bielefeld: transcript 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 1 (Veröffentlicht am 24.02.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383761737.html