EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Sandra Wenk
Hoffnung Hauptschule
Zur Geschichte eines vergessenen Gesellschaftsprojekts der Bildungsreformära 1957-1973
Göttingen: Wallstein Verlag 2022
(461 S.; ISBN 978-3-8353-5014-4; 48,00 EUR)
Hoffnung Hauptschule Die Themen Bildungsexpansion und Bildungsreform haben seit einigen Jahren Konjunktur in Erziehungs- und Geschichtswissenschaft, wobei sich einschlägige Studien auf die Gesamtschule oder den Erziehungswandel in höheren Schulen konzentrieren [1]. Die aus einer Dissertation hervorgegangene Schrift „Hoffnung Hauptschule“ wendet sich einschließlich Einleitung und Schluss in neun ausführlichen Kapiteln explizit der Reform der Volksschuloberstufe und dem Entstehungszusammenhang der Hauptschule zu. Der Aufbau des Buches ist durch drei Teile strukturiert, die auf die Nachkriegsdebatten und Leitbilder der Volksschule in den 1950er Jahren, auf die Debatten und Praxis der Volksschulreform in Nordrhein-Westfalen (NRW) seit den späten 1950er Jahren sowie schließlich auf die Hauptschule als Reformprojekt und als Projektionsfläche gescheiterter Schulreformen und Gesellschaftspolitik fokussiert sind. Was also kann die Geschichte der Hauptschule zu diesem nicht unterforschten, aber auch kontroversen Themenfeld hinzufügen?

Die in der Einleitung hervorgehobene These fordert heraus. In der Geschichtsschreibung zur Bildungsreform erscheine die Hauptschule als Fortführung der früheren Volksschule und so werde unterschlagen, dass diese spezifische Schulform selbst eine Antwort auf die Kritik an der volkstümlichen Bildung sein wollte (10). Wenk bevorzugt, „die Geschichte der Hauptschule nicht von ihrem Ende, sondern von ihrem Anfang her“ als Resultat vorgängiger Bildungsreformen zu erschließen, und zwar am Beispiel von NRW (12). Im Bruch mit den gängigen Narrativen sollen die ambivalenten Effekte der Empirisierung der Bildungsforschung, aber auch die Geschichte jugendlichen Aufwachsens berücksichtigt werden, um konkret danach zu fragen, was die Ursachen der Reform des Volksschulwesens waren (29). Unter Einbezug wissensgeschichtlicher Ansätze und in der Annahme einer Konkurrenz unterschiedlicher Konzepte der Volksschulreform – die je nach Krisendiagnose, Überzeugungen zur Bildbarkeit und zur Plastizität von Begabung zu anderen Vorschlägen gelangten (35) – interessiert, warum die Wahrnehmung seinerzeit rasch umschlug und die Hauptschule von einem Reformprojekt zum Inbegriff verfehlter Bildungsreform wurde. Quellengeleitet – besondere Bedeutung kommen Schulverwaltungsakten und Zeitschriften für Lehrpersonen zu – soll vor allem die historische Praxis der Bildungsreform und weniger wissenschaftlich getriebene Expert:innendiskurse in den Blick geraten, dies im Wissen, dass in der Untersuchungszeit unter vielen Volksschullehrpersonen antiintellektuelle Haltungen verbreitet waren (37). NRW als historischer Bildungsraum bietet eine außergewöhnliche Kombination von sich kreuzenden Konfliktpunkten: dem Stadt-Land-Gegensatz, der konfessionellen Gliederung und dem brisanten Nebeneinander von katholischen und sozialdemokratischen (Reform-)Milieus (39).

Es ist zu begrüßen, dass Wenk im ersten Teil, der sich hauptsächlich auf die 1950er Jahre konzentriert, bereits mit den Auseinandersetzungen zur Volksschuloberstufe in der Weimarer Republik einsetzt und damit die interessanten Übergänge und Kontinuitäten sichtbar macht (51). Mit Gewinn kann man lesen, dass die Einführung der Hauptschule 1941 in der NS-Zeit einen Bruch mit der Volksschultradition bedeutete, da eine zwangsweise Umwandlung von Konfessions- in Gemeinschaftsschulen mit einem Aufstiegsversprechen gegenüber als begabt und rassenkundlich erwünscht geltenden Arbeiterkinder versehen wurde (58). Die unmittelbare Nachkriegszeit stellte keine Zäsur für die Volksschultradition dar: 1946 galten in NRW mit einer achtjährigen Dauer, häufig nach Konfessionen getrennt und nur in großen Städten als Jahrgangsklasse organisiert, wieder die Volksschulstrukturen, wie sie sich ganz ähnlich in den 1920er Jahren etabliert hatten. Anders als die US-amerikanische Reeducation-Politik kennzeichnete die britische Schulpolitik in NRW neben der Entnazifizierung des Lehrkörpers weniger ein klares Konzept als nur indirekte Einflussnahme (61). Eine bedeutende Pointe in der näheren Bestimmung der volkstümlichen Bildung durch Lebensnähe und Methoden wie Gesamtunterricht und Gruppenunterricht liegt in Wenks Hinweis, dass diese durchaus als Projekt der inneren Schulreform zu verstehen ist. Allerdings ging die volkstümliche Bildung von essentialistischen Schüler:innentypen aus, befeuerte die Trennung zwischen Volk und Gebildeten und ist somit in einen Modernekritikdiskurs der Nachkriegszeit einzuordnen (93).

Im zweiten Teil gelangt die Autorin durch stets plausible Querverweise auf die Wissensdiskurse zur Bildungsexpansion in den 1920er Jahren (112) zu einer Charakteristik früher westdeutscher Schulreformen: Diese seien kaum durchdrungen von erziehungswissenschaftlichem und bildungspolitischem Planungsdenken, sondern vielmehr geleitet durch die umfassende Kenntnis erzieherischer Praxis (131). Zwischen Bewahrung und Mobilisierung oszillierend und bestärkt durch Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen konnte die Idee eines längeren Schulbesuchs auch im katholischen Reformmilieu Fuß fassen (141), zumal das Verständnis von Jugend als schulisch gestaltetes Moratorium sehr offen war. Mitte der 1950er Jahre zeichneten sich in sozialdemokratischen, liberalen und Gewerkschaften nahestehenden Reformlagern folgenreiche Tendenzen ab, die Volksschulreform durch empirische Forschung zu begleiten (149), so dass 1958 in NRW eine zehnjährige, zunächst stark durch das Kultusministerium gelenkte Versuchsphase im Volksschulwesen eingeläutet wurde. An der Schwelle zu den 1960er Jahren verschob sich die inhaltliche Aufmerksamkeit weg von einer vertieften Charakterbildung und hin zu einer politischeren, konfliktorientierten (175) und individuellen Bildungsmobilisierung von Jugendlichen, die im Rahmen einer verlängerten Pflichtschule ihre eigenen Potenziale rational nutzen sollten (195). Mit Sinn für die Komplexität der bildungspolitischen Gemengelage und der schwer zu greifenden Gleichzeitigkeit verdeutlicht Wenk die ambivalenten Effekte der Volksschulreform auf die Mädchenbildung in den 1960er Jahren: katholische Pädagog:innen sträubten sich nicht mehr gegen die verlängerte schulische Vorbereitung von Mädchen auf Familie und Erwerbsarbeit – vorausgesetzt, sie konnten die Volksschülerinnen zu Berufen hinlenken, die als weiblich angesehen wurden (210). Ein Vergleich mit den Befunden von Torsten Gass-Bolm zu der Angleichung weiblicher und männlicher gymnasialer Bildungswege in den frühen 1960er Jahren lässt einen gravierenden Unterschied zu den Debatten der Volksschulreform in NRW erkennen: Hier wurde zur gleichen Zeit versucht, mit geschlechterdifferenzierten anlageorientierten Konzepten die Volksschule zu reformieren (227). Ob es für diesen erhellenden Blick ein eigenes Kapitel bräuchte oder besser die geschlechtersensible Perspektive gleichmäßig alle Abschnitte umfassen sollte, fällt als Frage weniger ins Gewicht.

Um sich ein genaueres Bild darüber zu verschaffen, wie der Reformdruck hin zu einer Hauptschule im Sinne einer Sekundarschule sukzessive noch vor der Amtsaufnahme des SPD-Kultusministers Fritz Holthoff 1967 entstand, konzentriert sich Wenk im dritten und letzten Teil ihrer Analyse nicht nur auf die Reformlinie, welche sich in anderen Bundesländern u.a. durch Gutachten des Deutschen Ausschusses durchgesetzt hatte. Die Infragestellung der Volksschule nahm auch durch die aufkeimende innerkatholische Kritik eine neue Richtung, da die Diagnose eines katholischen Bildungsdefizits und der Vorwurf der Bildungsbegrenzung das Ideal der Bekenntnisschule brüchig werden ließ (314). Die sich herauskristallisierende Hauptschulkonzeption stand im Zeichen von Demokratisierung, Leistungssteigerung, wissenschaftlicher Fundierung des Unterrichts und „Verbürgerlichung“ des Curriculums. Der letzte Befund überrascht: Wenk belegt die bildungsbürgerliche Ausrichtung zwar anschaulich an Lehrplanempfehlungen zum Deutschunterricht für die 7. Klasse, die eine Lektüre der Dramen von Gryphius und Lessing nahelegten (331). Aber angesichts späterer Studien zur Curriculumentwicklung des Deutschen Bildungsrats oder Reformarbeitsgruppen von Deutschlehrer:innen, die gerade die Beharrungstendenzen traditioneller Lehrpläne kritisierten und den als affirmativ wahrgenommenen bürgerlichen Literaturkanon ideologiekritisch thematisierten, hätte an diese spannungsreiche Facette näher herangezoomt werden können. Die Realisierung der Hauptschule vor Ort gestaltete sich schwierig. Anhand von Erfahrungsberichten aus Schulen belegt die Autorin, dass bedingt durch Lehrpersonenmangel die für die Reform zentrale Differenzierung in Leistungskurse an vielen Standorten nicht umgesetzt werden konnte – was zusätzlich auch noch die Begleitforschung erschwerte, welche von überspannten Planungs- und Rationalisierungsvorstellungen durchzogen war (339, 361). Der Fokus der Forschungsgruppe Hauptschule in NRW verschob sich. Auf die soziale Herkunft von Hauptschüler:innen, statische Begabungsvorstellungen und die Dysfunktionalität von leistungshomogenen Gruppen verweisend (381), wurden mit aufklärerischem Gestus und ideologiekritischen Befunden die scheinbar unkritischen und autoritätsorientierten Lehrpersonen, die ein Training neuer Verhaltensformen bedürften, zum Objekt der Reform (386). Aufgrund solcher nicht nur im Hintergrund wirkender Orientierungen wurde die Hauptschule bereits ein Jahr nach ihrer Einführung 1969/70 lediglich als Etappe zu Schulversuchsprojekten mit der Gesamtschule verstanden.

Der Gesamteindruck ist der einer quellengesättigten Studie, die die Volksschulreform der 1960er Jahre nicht linear, sondern konflikthaft und als kollektiven Lernprozess erschließt. Sie besticht vor allem dort, wo sie durch die Identifizierung von Spannungsfeldern zeigt, dass die Hauptschule nicht nur ein emanzipatives Projekt gewesen ist, so z.B., wenn tradierte schulische Sorgepraktiken mit Krisendiagnosen zum Niedergang des Dorfes eigenwillig amalgamierten und zu Forderungen nach einer kognitiven Mobilisierung der Landbevölkerung führen konnten. Wenks Studie ist somit ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Bildungsreformära mit einem vielseitigen, widersprüchlichen und Blickverengungen vermeidenden Bild der historischen Praxis einer spezifischen Schulreform. Abgesehen von einigen Redundanzen und einer streckenweise aufscheinenden Akteur:innenzentrierung ist der Autorin eine Untersuchung gelungen, die durch die Ausweitung der zeitlichen Perspektive, welche neben der Weimarer Geschichte und NS-Zeit auch stark auf die 1950er Jahre fokussiert, Traditionsbrüche der Volksschulbildung zum Ende der 1960er Jahre verdeutlicht. Es wäre zu wünschen, dass das gut strukturierte und zugänglich geschriebene Buch zu weiteren bildungshistorischen Erkundungen inspiriert, welche die Ambivalenzen von Bildungsreformpolitik und empirischer Schulforschung in den Blick nehmen, die en passant und mit paternalistischen Tendenzen immer weitere Förderbedarfe von Schüler:innen und Lehrpersonen feststellten.

[1] Z.B. Levsen, S. (2019). Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945-1975. Wallstein Verlag; Gass-Bolm, T. (2005). Das Gymnasium 1945-1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland. Wallstein Verlag.
Andreas Hoffmann-Ocon (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Hoffmann-Ocon: Rezension von: Wenk, Sandra: Hoffnung Hauptschule, Zur Geschichte eines vergessenen Gesellschaftsprojekts der Bildungsreformära 1957-1973. Göttingen: Wallstein Verlag 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383535014.html