EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)

Meike Werner (Hrsg.)
Ein Gipfel fĂŒr Morgen
Kontroversen 1917/18 um die Neuordnung Deutschlands auf Burg Lauenstein.
marbacher schriften, neue folge, 18
Göttingen: Wallstein Verlag 2021
(446 S.; ISBN 978-3-8353-3584-4; 22,90 EUR)
Ein Gipfel fĂŒr Morgen Über den Verleger Eugen Diederichs, ĂŒber Jena als „Moderne in der Provinz“, den Sera-Kreis und die akademische „Jugend im Feuer“ des Augusts 1914, Wilhelm Flitner oder Rudolf Carnap gleichermaßen dabei, mit dieser Ausweitung bildungsgeschichtlicher Fragen auf Lebensreform und Kulturgeschichte hat uns Meike Werner seit langem so belehrend wie kreativ informiert; jetzt steht „1917“ an, und unser Blick wird erneut geweitet. Als Produkt einer Tagung im Literaturarchiv Marbach prĂ€sentiert sie „das unmögliche Jahr“ als ZĂ€sur in den intellektuellen Debatten ĂŒber die politische und kulturelle Neuordnung Deutschlands, die im Ersten Weltkrieg gefĂŒhrt wurden. Auch diesmal geht es nicht ohne Eugen Diederichs, denn sein Nachlass im Deutschen Literaturarchiv lieferte die materiale Grundlage der Marbacher Tagung und der ihr jetzt folgenden Edition. Diederich war 1917 der „Regisseur“, er erhoffte sich mit einer Tagung „zur Organisation des öffentlichen Geistes“, so in den ersten Planungen (255), die kulturelle Erneuerung Deutschlands mit bestimmen zu können. Deshalb beschĂ€ftigten sich die schlussendlich drei ZusammenkĂŒnfte von 1917/18 auf Burg Lauenstein in Bayern (kriegsbedingt kleiner als die ersten PlĂ€ne), ĂŒber die der Band berichtet, zu Pfingsten 1917 mit „Sinn und Aufgabe unserer Zeit“, mit dem „FĂŒhrerproblem im Staat und in der Kultur“ im Oktober 1917, mit „Jugendbewegung“ und „Politik und Moral“ in einer „geschlossenen Besprechung“ im FrĂŒhjahr 1918. Beachtung, historisch und aktuell, haben die Tagungen nicht zuletzt durch die jeweils ca. 60-70 prominenten Teilnehmer gewonnen, „Gelehrte, KĂŒnstler, Lebenspraktiker“, wie Diederichs sie gruppierte, von „KoryphĂ€en Deutschlands“ sprach Joachim Ringelnatz, der eher zufĂ€llig da war und „etwas RevolutionĂ€res und Pazifistisches“ vermutete (398); „eine etwas wirre Gesellschaft“ (125) sah Theodor Heuß, der als Journalist und liberaler Politiker dabei war. Unter den Teilnehmern finden sich renommierte Sozialwissenschaftler, Max Weber, der die Tagung mit seinen Positionen kontrovers dominierte, Ferdinand Tönnies, Werner Sombart oder Otto Neurath, Friedrich Meinecke oder Jasper Klumker (bei der 2. Tagung); KĂŒnstlerinnen und KĂŒnstler, wie das Ehepaar Dehmel, Literaten, selbst der junge Ernst Toller ist prĂ€sent; Jugendbewegte, Knud Ahlborn, Politiker und Praktikerinnen und Praktiker wie Gertrud BĂ€umer, Hans Kampffmeyer oder Eduard Weitsch (alle in einem vorzĂŒglichen Personenregister erschlossen).

Der Band prĂ€sentiert sein Thema in drei Teilen: Nach einfĂŒhrenden Hinweisen von Meike Werner („Was findet sich im Archiv?“) gibt es zuerst „Analysen“ (25-204), untergliedert in Abhandlungen ĂŒber „das Jahr 1917“ (mit BeitrĂ€gen von R. Chickering, U. Sieg, J. Reulecke, M. Werner), „‚Geist‘ und Religion in Zeiten des Krieges“ (S. Bruendel, T. Löwe, C. Vogel, H.D. v. Wolzogen, J.H. Ulbricht, S. Schouten), „Im Schatten Max Webers“ (G. HĂŒbinger, J.-E. Dunkhase, A. Wierzock, T. Hertfelder), „Generation Jugend“ (B. Stambolis, C. Volkholz, M. Pilz, R. MĂŒller-Mateen) und „Nachwirkungen“ (F. Trommler, C. Dietze, R. MĂŒller-Mateen, K. Priem). Dann folgen „Bilder“ (205-252), d.h. Fotografien, wie sie der von Diederichs eigens bestellte Fotograf erstellt und in zwei Alben (in Marbach verfĂŒgbar) ĂŒberliefert hat (nur sind leider die Foto-Seiten 205 bis 253 nicht durchpaginiert, so dass man schwer verweisen kann), schließlich „Texte“ (253-416), bevor editorische Hinweise und ein Register den Band beschließen (417-446). Als „Texte“ werden zunĂ€chst Quellen aus der Planung und im Nachgang zu den Tagungen prĂ€sentiert, vor allem aus der dichten Korrespondenz, die Diederichs gefĂŒhrt hat. Darunter befinden sich auch bezeichnende Absagen, wenn Gustav Landauer z.B. mitteilt, dass er nicht gemeinsam mit Richard Dehmel teilnehmen will, der fĂŒr ihn nach seinen Kriegsgedichten persona non grata ist (dazu auch separat der Beitrag von Wolzogen), oder ein Tagungsprotokoll, wie das zur ersten Tagung (277-284), nachgehend publizierte Kommentare, z.B. ein kritischer Bericht zur Oktober-Tagung von Alfred JaffĂ©, der kritische Repliken bei Weitsch provozierte, endlich Dokumente zum „Nachhall“ und „Erinnerungen“. Wie immer man die Ereignisse selbst beurteilt, unabhĂ€ngig auch davon, ob man EinwĂ€nde gegen die Edition formuliert, z.B. weitere Analysen wĂŒnscht, der LektĂŒreeindruck bleibt inspirierend: Meike Werner und ihre Mitstreiter haben einen faszinierenden Band vorgelegt, in dem die „Ideen von 1917“, die Max Weber gegen die „Ideen von 1914“ schon Ende 1916 fĂŒr die Zukunft gefordert hat, in einer Weise sichtbar gemacht, erlĂ€utert und kommentiert, illustriert und inszeniert werden, dass man grĂ¶ĂŸte Anerkennung nicht versagen kann.

FĂŒr die Einordnung der Tagungen sind neben den Zeitgenossen vor allem die „Analysen“ relevant, 23 insgesamt, knapp und konzis, von renommierten Spezialisten geschrieben, in den biografischen Analysen ĂŒber die KĂŒnstler und Schriftsteller, die Frauen, u.a. Gertrud BĂ€umer, Marianne Weber und Selma von Lengefeld, die Ehepaare Dehmel, Schiefer und Kroner im Block „Geist und Religion“, aber auch thematisch, wenn z.B. Ulrich Sieg die „Ideenwende“ und JĂŒrgen Reulecke die „Politikwende“ von 1917 beschreiben, Gangolf HĂŒbinger sich zu Max Weber Ă€ußert, Barbara Stambolis ĂŒber Jugendbewegte, Alexander Wierzock ĂŒber Tönnies oder Frank Trommler ĂŒber „Nachwirkungen“. Die BeitrĂ€ge können hier nicht im Einzelnen diskutiert, nur einige systematische Befunde erwĂ€hnt werden, z.B. im Blick auf die Teilnehmer. Das waren meist MĂ€nner, nur drei Frauen sind „Teilnehmer“, die anderen „Begleiterinnen“, gar nicht immer gern gesehen, wie Teresa Löwe zeigt. Roger Chickering, der unter dem Titel „Deutschland im Jahre 1917“ die dramatische Kriegslage und die innen- und weltpolitischen VerĂ€nderungen skizziert, bedauert, dass eine „Soziologie der Teilnehmer“ schwer möglich sei. Er sieht politisch zwei Lager und fĂŒr die Mehrheit der Teilnehmer, dass deren Ideen ihre „Wurzeln in der Zivilisationskritik der Vorkriegszeit“ (29) haben, und schon das bezeichnet Max Webers relativ singulĂ€re prodemokratische und parlamentarische Position, die auch sein Streit mit Max Maurenbrecher auf der ersten Tagung belegt. HĂŒbinger unterscheidet allerdings, orientiert an staats- und gesellschaftspolitischen Konzepten, fĂŒnf Segmente innerhalb der auf Burg Lauenstein prĂ€senten intellektuellen Debatte, und dabei fehlt ja noch die politische Linke.

Im Grunde gibt es neben der Dokumentation der „außerordentlichen Zerrissenheit der Auffassungen“ (283) auch kein Ergebnis der Tagung. In einem Brief vom 22. Juni 1917 an Max Weber klagte Diederichs, dass ihn die erste Tagung „insofern nicht befriedigt hat, als doch der schöpferisch-politische Mensch fehlte. FĂŒr mich waren Sie der Vertreter des kritisch-intellektualistischen Typus, der Kraft seiner Persönlichkeit das freie Spiel individualistischer KrĂ€fte beherrschen will“ (288). Diederichs vermisste eine Position, die „von einem starken GefĂŒhl der Eigengesetzlichkeit des Lebens herkommend, die Bindung im Du zu suchen und damit das Überindividuelle des Staates zu bejahen“ (288) vermag. Neuordnung ja, aber dass der Republik die intellektuellen Verteidiger weithin fehlen wĂŒrden, das konnte man schon 1917 sehen, und bei den Abwesenden – SPD und USPD, Spartakus, die Kirchen – regierte ja auch nicht allein die Vorliebe fĂŒr den demokratischen Staat.

Bildungshistorisch wundert man sich doch, dass von den zeitgenössischen PĂ€dagogen niemand außer dem braven Berliner Ferdinand-Jakob Schmidt vertreten war, und dieser wohl auch nur, weil die von ihm vertretene Comenius-Gesellschaft neben Diederichs und dem „Kunstwart“ zu den Einladenden gehörte. Aber sonst niemand, weder aus dem Sera-Kreis noch einer der „KriegspĂ€dagogik“-Autoren, die seit 1916 schon den Frieden planten. Selbst die PĂ€dagogen von Natorp bis Aloys Fischer, Nelson oder Kerschensteiner, die Diederichs in den ersten PlĂ€nen noch erwĂ€hnt hatte, fehlten 1917. Siegfried Kawerau war mit religionskritischen Argumenten prĂ€sent und, ja, Ernst Krieck, aber nicht als PĂ€dagoge, sondern als Staatstheoretiker und FĂŒhrer-Apologet, in den Analysen von Bruendel als „Ästhet“ interpretiert ( 66-69). Erst 1918/19, in den Weimarer Verfassungsberatungen, wurden öffentliche Bildung und das Bildungssystem zum Thema, aber vordringlich nur fĂŒr die Konservativen und das Zentrum, nicht fĂŒr die anderen Parteien der Weimarer Koalition, die deshalb auch die Schulkompromisse akzeptierten. Jenseits der pĂ€dagogischen Reformrhetorik, die auch auf Burg Lauenstein bis 1932 weiter kultiviert wurde (wie der Beitrag MĂŒller-Mateen zeigt), blieb Bildung primĂ€r ein administrativ-politisches Thema, hier noch ohne Erfolg z.B. fĂŒr C.H. Beckers Versuche, demokratische Einheit ĂŒber Bildung zu begrĂŒnden (Trommler ĂŒberschĂ€tzt in seinem Beitrag die Wirkung Beckers). FĂŒr die Konservativen war Bildung allerdings 1917 auch schon Thema, ebenfalls zu Pfingsten, als der konservative preußische Kultusminister Trott zu Solz nach Berlin einlud – aber dieser Kontext fehlt in den „Analysen“. Trott ging es, vordergrĂŒndig, um das Heimatrecht der PĂ€dagogik an den UniversitĂ€ten, politisch vor allem aber darum, das Bildungswesen und die PĂ€dagogik in Zukunft gegen zu große Partizipation der bis dato ausgeschlossenen Sozialschichten in Dienst zu nehmen. Die PĂ€dagogen auf dieser anderen 1917er Konferenz, Eduard Spranger voran, wurden dabei zu willigen Apologeten der staatsfixierten Integration, die Trott zu Solz propagierte, schon hier gegen Demokratie und Parteienstaat, die auch schon in Burg Lauenstein kaum Verteidiger hatte. Die „Ideen von 1917“ eröffneten also insgesamt, anders als Max Weber wĂŒnschte, keine republikanisch-demokratische Tradition von Bildung und Kultur.

[1] Meike Werner lehrt als Associate Professor of German and European Studies an der Vanderbilt University, die zitierten Veröffentlichungen sind M.W.: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de SiĂšcle. Jena, Göttingen 2003; dies/Justus H. Ulbricht (Hg.): Romantik, Revolution & Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900-1949. Göttingen 1999; dies: Jugend im Feuer. August 1914 im Serakreis. In: Zeitschrift fĂŒr Ideengeschichte 8(2014)2, 19-34.
[2] FĂŒr die Verfassungsberatungen und ihre Vorgeschichte vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Bildungswesen. Die Schulartikel der Weimarer Reichsverfassung: Tiefgreifende ZĂ€suren, folgenreiche Kompromisse. In: RĂŒdiger Voigt (Hg.): Aufbruch zur Demokratie. Die Weimarer Reichsverfassung als Bauplan fĂŒr eine demokratische Republik. Baden-Baden 2020, 810-830. Dort auch NĂ€heres zu der nachfolgend erwĂ€hnten Berliner Konferenz von 1917.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Werner, Meike (Hg.): Ein Gipfel fĂŒr Morgen, Kontroversen 1917/18 um die Neuordnung Deutschlands auf Burg Lauenstein. marbacher schriften, neue folge, 18. Göttingen: Wallstein Verlag 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383533584.html