EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)

Thorsten Bohl / Marc Kleinknecht / Andrea Batzel / Petra Richey
Aufgabenkultur in der Schule
Eine vergleichende Analyse von Aufgaben und Lehrerhandeln im Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialunterricht
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2012
(122 S.; ISBN 978-3-8340-1057-5; 13,00 EUR)
Aufgabenkultur in der Schule Der vorliegende Band der Reihe Schul- und Unterrichtsforschung beschreibt eine Untersuchung zur Aufgaben- und Unterrichtskultur an deutschen Haupt-, Realschulen und Gymnasien. Ziel des DFG-geförderten Projektes des Tübinger Professors Thorsten Bohl et al. soll es sein, den Unterricht mit einer Video- und einer Interviewstudie bezüglich der Aufgabengestaltung und des aufgabenbezogenen didaktisch-methodischen Handelns von Lehrkräften an den verschiedenen Schulformen vergleichend zu analysieren. Dabei spielt das Konstrukt der „kognitiven Aktivierung“ eine besondere Rolle. Die Grundannahme der Untersuchung lautet, dass schulartspezifische Unterschiede hinsichtlich der unterrichtlichen Qualitätsdimensionen „Strukturierung“, „Differenzierung“ sowie des Potenzials der Aufgaben, Lernende zu kognitiver Aktivität aufzufordern („kognitive Aktivierung“), im Unterricht bestehen. Dies gilt auch für die „Überzeugungen der Lehrkräfte“, deren Untersuchung bislang vernachlässigt wurde.

Die Autoren führen in das Thema ein, indem sie im ersten von sechs Kapiteln zunächst die Relevanz einer kognitiv-aktivierenden Aufgabenkultur erläutern, anschließend in den Kontext der Untersuchungsergebnisse der TIMS-Studie Ende der 1990er Jahre einordnen und das Forschungsdesiderat – nämlich der Mangel an allgemeindidaktischen und schulartvergleichenden Unterrichtsanalysen – beschreiben. Die Forschungsfragen lauten: Welche Aufgabentypen mit welchem aktivierenden Potenzial werden wie (lange) im Unterricht eingesetzt? Welche subjektiven Vorstellungen zur Auswahl und zum Einsatz der Aufgaben sowie zum Lehren und Lernen weisen die Lehrkräfte auf und wie wirken sich diese Theorien auf die beobachteten Lerngelegenheiten im Unterricht aus?

Im folgenden Kapitel werden zentrale Konzepte wie kognitive Aktivierung, Klassenführung bzw. Strukturierung und Schülerorientierung bzw. individuelle Unterstützung sowie diverse Befunde referiert, die die Grundlage für die Ableitung der Analysedimensionen und -kriterien der Video- und Interviewstudie bilden. Kognitive Aktivierung stellt in der konstruktivistisch beeinflussten Unterrichtsforschung eine Grunddimension von Unterrichtsqualität dar, da Schülerinnen und Schüler durch gezielte Aufgaben oder Lehrerimpulse zum intensiven Nachdenken, Prüfen oder Reflektieren angeregt werden. Dies wiederum ist einem vertieften Verständnis und somit der Leistungs- und Motivationsentwicklung zuträglich. Klassenführung bzw. Strukturierung zielt auf das Schaffen von Transparenz von Regeln, den Umgang mit Unterrichtsstörungen, einen reibungslosen Ablauf, sprachliche Klarheit etc. ab. Schülerorientierung bzw. individuelle Unterstützung bezeichnet eine Schülerzugewandtheit, ein positives Schüler-Lehrer-Verhältnis sowie den Einsatz differenzierender Maßnahmen im Unterricht. In Kapitel zwei wird die Analyse von handlungsnahen (z.B. Routinen) und handlungsfernen Lehrerkognitionen (z.B. subjektive Theorien, allgemeine Vorstellungen und Einstellungen) und deren Bedeutungen für das unterrichtliche Handeln diskutiert. Auf diesbezügliche Schwierigkeiten bei der Operationalisierung wird hingewiesen.

Kapitel vier beschreibt die Methodik mit Studiendesign und Ablaufplan, die Stichprobe (N= 33) der Mathematik- und Deutschlehrer sowie das methodische Vorgehen bei der Erhebung und Datenanalyse der Videostudie und den Interviews, die jeweils im Anschluss an die Videoaufzeichnungen geführt wurden. Diese waren sowohl problemzentriert, den Lehrerinnen und Lehrern wurden aber auch offene Fragen gestellt. Die Daten für die Hauptschule lagen aus einem vorherigen Projekt bereits vor. Leider gelang es den Autoren nicht, für Realschule und Gymnasium Probanden zu gewinnen, die der Hauptschulstichprobe ähnelten. Die Merkmale „Berufserfahrung“ und „Geschlecht“ sind ungleich verteilt: Frauen sind überrepräsentiert, die Gymnasiallehrer weisen eine deutlich geringere Berufserfahrung als die anderen Lehrer auf. Hier zeigen sich Einschränkungen hinsichtlich der Aussagekraft der Studie, die die Autoren in der Folge auch selber einräumen: „Die geringe Größe der Stichprobe und die ungünstige Zusammensetzung hinsichtlich der Merkmale Geschlecht und Berufserfahrung der Lehrkraft sprechen gegen eine Verallgemeinerung der Befunde“ (101). Insofern beschreiben die Autoren ihr Vorgehen als explorativ.

Zusammenfassend kommt man in Kapitel 5 zu folgenden Ergebnissen, die durch zahlreiche Abbildungen anschaulich illustriert werden: Die Autoren weisen sehr detailliert – jedoch wenig überraschend – nach, dass die verwendeten Aufgaben am Gymnasium komplexer sind als an der Haupt- und Realschule. Auch ein kognitiv-aktivierendes Handeln der Lehrkräfte am Gymnasium konnte häufiger beobachtet werden. Besprechungsphasen nehmen am Gymnasium mit 25,5% einen deutlich größeren Anteil an den verschiedenen Unterrichtsphasen ein als an der Hauptschule (9,9%). Aufgaben werden scheinbar intensiver diskutiert und besprochen, auch werden seitens der Lehrer deutlich häufiger Begründungsfragen eingesetzt. Das Klassengespräch wird somit insgesamt kognitiv-aktivierender gestaltet. In diesem Zusammenhang bestätigen die Autoren, dass das Muster des „gelenkten Dialogs“ am Gymnasium gegenüber der „gelenkten Beschäftigung“ an der Hauptschule noch immer Bestand hat (vgl. dazu etwa [1]). Eine Erklärung dafür, warum die Lehrer an der Hauptschule beispielsweise in den Erabeitungsphasen „keine zum Denken herausfordernde Probleme“ stellen (102), wird auch versucht zu geben: Wahrscheinlich kann so die Disziplin besser aufrechterhalten werden, zudem werden Erfolge schneller sichtbar. Dafür spricht auch, dass Gruppenarbeiten, bei denen eigenständige Schüleraktivität gefragt ist, in der Hauptschule kaum eine Rolle spielen. Die Lehrkräfte selber unterscheiden sich hinsichtlich der Nennung von Aspekten der kognitiven Aktivierung: Gymnasiallehrer erwähnen in den Interviews mehr Prinzipien in diesem Bereich und diese zudem häufiger. Die Hauptschullehrer betonen den Aspekt der Kontrolle stärker und geben an, ihre Schüler würden durch Anleitung lernen. Gymnasiallehrer hingegen meinen, ihre Schüler würden selbstständig lernen. Interessant sind einige Lehreraussagen zur inneren Differenzierung: Die Hälfte der Gymnasiallehrer hält Differenzierung für zu aufwendig oder weiß nicht, wie man sie umsetzen kann. Ein Lehrer lehnt sie sogar vollständig ab: „[…] auch bei den Fünfern sage ich: Leute, ihr wollt das Abitur machen und auf die Uni. Und dann müsst ihr was leisten […]. Und insofern gehört die Differenzierung […] nicht ins Gymnasium rein“ (84).

Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse knapp diskutiert. Die Autoren werfen die etwas naiv anmutenden Fragen auf, ob das Konstrukt der kognitiven Aktivierung für Hauptschüler überhaupt passend ist, welche Aufgaben für Hauptschülerinnen und Hauptschüler kognitiv aktivierend sind und wie viel eigenständiges Lernen möglich ist, ohne zu unter- oder überfordern (105). Während die beiden letzteren Fragen pauschal sicherlich nicht zu beantworten sind, ist jedoch klar, dass kognitive Aktivierung auch an Hauptschulen eine deutlich größere Rolle spielen sollte oder besser: spielen muss. Es gibt nicht „den“ Hauptschüler, sondern ebenso wie am Gymnasium sind auch Hauptschulklassen durchaus leistungsheterogen zusammengesetzt. Außerdem weiß man, dass kognitive Aktivierung und differenzierte Aufgabenstellungen bereits in der Grundschule eingesetzt werden können (vgl. [2]).

Die Studie verfolgt mit einem Methodenmix aus Videostudien, Aufgabenanalysen und Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern einen interessanten, mehrperspektivischen Ansatz. Die Autoren zeigen, dass man den Unterricht verschiedener Fächer mit allgemeindidaktischen Kriterien vergleichen kann. Die zentralen Ergebnisse dieser nicht-repräsentativen Studie sind jedoch teilweise wenig überraschend: Das Maß der kognitiven Aktivierung und die Komplexität der Aufgaben sind am Gymnasium höher. Hauptschullehrkräfte erteilen in Erarbeitungsphasen keine herausfordernden Probleme oder stellten nur selten Transferaufgaben. Geht man davon aus, die Befunde zumindest teilweise verallgemeinern zu können, wird deutlich, dass diese Schulform es nicht schafft, die Potenziale der Schülerinnen und Schüler zur Entfaltung zu bringen, zu fördern und zu fordern. Im Bereich des Förderns (und Forderns) zeigen sich aber auch bei den Gymnasiallehrern deutliche Defizite.

Die Konsequenzen der Untersuchung für Lehrerbildung und Unterrichtsforschung fallen äußerst knapp aus. Eine Sensibilisierung der Lehrkräfte für den Einsatz komplexer Aufgaben, ein kognitiv-aktivierendes Lehrerhandeln und inhaltliche Strukturierung könnte durch videogestützte Aus- und Fortbildung erreicht werden. Mit der Studie selbst haben die Autoren eine solide Grundlage für weitere allgemeindidaktische, mehrperspektivische Untersuchungen geschaffen. Fraglich bleibt, wie man zukünftig das Problem der Probandenauswahl lösen wird.

[1] Hage, K., Bischoff, H., Dichanz, H., Eubel, K.-D., Oehlschläger, H.-J., Schwittmann, D. (1985): Das Methoden-Repertoire von Lehrern. Eine Untersuchung zum Schulalltag der Sekundarstufe I. Opladen: Leske und Budrich.
[2] Kleickmann, Thilo (2012): Kognitiv aktivieren und inhaltlich strukturieren im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Publikation des Programms Sinus an Grundschulen. IPN, Kiel.
Daniel Möllenbeck (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Möllenbeck: Rezension von: Bohl, Thorsten / Kleinknecht, Marc / Batzel, Andrea / Richey, Petra: Aufgabenkultur in der Schule, Eine vergleichende Analyse von Aufgaben und Lehrerhandeln im Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383401057.html