EWR 7 (2008), Nr. 5 (September/Oktober)

Jens Birkmeyer (Hrsg.)
Holocaust-Literatur und Deutschunterricht
Perspektiven schulischer Erinnerungsarbeit
Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2008
(238 S.; ISBN 978-3-8340-0303-4; 19,00 EUR)
Holocaust-Literatur und Deutschunterricht Mit Überdruss oder gar Abwehr reagieren Schüler oft, werden im Unterricht Holocaust und Nationalsozialismus behandelt, obgleich, das scheint ebenso evident, ihnen ein grundsätzlich vorhandenes Interesse an diesem Themenkomplex und an dem Begreifen von Vergangenheit durchaus zu Eigen ist. Trotz einer in den letzten Jahren zu konstatierenden Erinnerungskonjunktur liegt kein angemessenes didaktisches Material, insbesondere für den Deutschunterricht, vor. Welcher neuen konzeptionellen Entwürfe bedarf es, um etwa diesem ambivalenten Phänomen in der Vermittlung von Literatur im Unterricht, heutige Anforderungen einbeziehend, zu begegnen? Kritische Reflexion der Ausgangssituation, Einschätzung des Wertes einer Erinnerungsethik, die Auslotung der inhärenten Möglichkeiten von Literaturvermittlung im Unterricht und Impulse einer „weitgehend ermatteten“ (2) Didaktik zu diesem Thema zu setzen, sind einige der Ziele dieses Sammelbandes, den Jens Birkmeyer herausgegeben hat.

Dem Band ging eine vom Herausgeber veranstaltete Tagung des Germanistischen Instituts, Abteilung Didaktik der deutschen Sprache, an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, im November 2005 voraus. Auf die Einleitung folgen 16 Beiträge, die jeweils mit einem Literaturverzeichnis abschließen und von Autoren aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen verfasst sind. Der erste Teil ist mehr theoretisch geprägt, wohingegen der zweite Teil sich stärker mit den Unterrichtsbelangen befasst.

In der Einleitung beleuchtet Birkmeyer, wie das Thema Zivilisationsbruch, der Umgang mit ihm und die damit verbundenen Schwierigkeiten für die Nachgeborenen in unterschiedlichen Forschungsrichtungen verhandelt werden. Der Bogen wird u. a. von der Erinnerungskultur über Habermas, Dannenberg bis hin zu Kant gespannt. Theoretischer Ausgangspunkt für den didaktischen Diskurs ist für Birkmeyer Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ (1966) und die darin aus sozialwissenschaftlicher Perspektive formulierten Forderungen, aus denen sich jedoch wegen ihrer unbestrittenen und allgemeingültigen Aussagekraft nicht direkt Konsequenzen der Gestaltung des Literaturunterrichts ableiten ließen.

Der Bildung eines medienkritischen Gedächtnisses „das vom Erinnernden verlangt, in vielfältigen medialen Codierungen sich zu orientieren und durch das rapide anwachsende Signifikantenmeer zu navigieren“ (9), ist laut Birkmeyer in Zeiten instabiler kultureller Identitäten immer mehr Bedeutung beizumessen. Die emotionale Dimension von Vergangenheitsvorstellungen, die auch auf Lektüre basiert, sei ein Faktor, den es zu würdigen gelte. Einbeziehend, dass die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen bewahrt werden müsse, um Lehren daraus zu ziehen, solle jedoch unbedingt in der Erinnerungsarbeit in der Schule vermieden werden, die Keule mit vereinfachender moralischer Pose dichotomisch in einer gleichsam ritualhafte Betroffenheit erzwingenden Inszenierung zu schwingen.

Wie aber sollen Heranwachsende, deren Wissen sich oftmals aus Sachinformationen und aus vorgefertigten, oft grob vereinfachten Interpretationsangeboten speist, Erinnerungsnarrative aufbauen, die sich nicht auf historische Primärerlebnisse gründen können? Durch die wachsende zeitliche Distanz würden Gespräche Heranwachsender mit Zeitzeugen immer seltener möglich. Entscheidend sei, dass das auf einer Interaktion lebendiger Erzähler beruhende, variable kommunikative Gedächtnis durch das kulturelle Gedächtnis als „gefestigter Aggregatszustand stabiler und verbindlicher Überlieferungsformen“ (10) ersetzt würde. Das Augenmerk sei demnach darauf zu richten, Anknüpfungspunkte zu finden, in denen Lernhorizonte der Heranwachsenden und der zu vermittelnde kulturelle Stoff korrelieren, so der Autor.

Gerd Steffens setzt sich in seinem Beitrag mit der Kategorie der Erinnerung, deren Bedeutung in der sozialen Rahmung, dem kollektiven Gedächtnis und den Grundgedanken von Maurice Halbwachs und Jan Assmann auseinander. Er spricht sich dagegen aus, den Holocaust als identifikatorisches Mittel moralischer Zuordnung zu beschränken, weil diese Universalisierung schon ihrem Kern nach von forcierten Zuschreibungen wie „Gut“ versus „Böse“ und etwa Zugehörigkeiten und Ausschlüssen lebe. Oliver Geister beleuchtet, ob die Institution „Schule“ überhaupt für das von Adorno formulierte Diktum einer „Erziehung nach Auschwitz“ ein geeigneter Ort sei. Der Autor bezieht sich auf den Soziologen Zygmunt Bauman, der den Holocaust als ein genuin modernes Phänomen betrachtet. Dieses beziehe außer den Errungenschaften eines technischen Fortschritts einen moralischen Rückschritt mit ein, indem auf der einen Seite durch Rationalisierung und positivistischem Fortschrittsbegriff mehr Effizienz erreicht werde, andererseits dadurch der einzelne Mensch durch extreme Arbeitsteilung in einem komplexer werdenden Gesamtsystem eine physische sowie psychische Distanz erlange, durch die er nur mehr ein „moralisches Vakuum“ verspüre. Die Schule selbst gelte ebenfalls als Errungenschaft der Moderne. Als „Kind der Aufklärung“ könne Schule also wiederum Gefahr laufen, sich in einer „Dialektik der Ordnung“ zu verfangen. Als Weg aus diesem Zwiespalt müssten Lehrer und Schüler in einem bewussten Prozess permanent und kritisch über die „Aufklärung aufklären“.

Ursula Reitmeyer beschäftig sich mit der Erinnerungsarbeit als Unterrichtsaufgabe. Sie legt die Betonung darauf, dass sich der Lehrer stets in einem selbstreflexiven selbsttätigen Denkprozess befinden soll und sich nicht darauf beschränkt, die alleinige Verantwortung mit der Berufung auf Verordnungen und Lehrpläne abzutreten. Welchen spezifischen Beitrag vermag Literaturunterricht angesichts des kulturellen „Imperativs der Erinnerung“ (48) an den Holocaust, vor allem in Bildungsinstitutionen, zu leisten? In seinem Beitrag zeigt Clemens Kammler das Spannungsverhältnis von historischen Fakten und der Auseinandersetzung mit Literatur und der ästhetischen Erfahrung durch ihren Kunstcharakter auf. Er betont den qualitativen Gehalt von Literatur als Problematisierungsmedium par excellence und zeigt am Beispiel des autobiographischen Textes „weiter leben. Eine Jugend“ von Ruth Klüger [1], wie Literatur konträre Lesarten provozieren kann und sich einfachen Zuordnungsversuchen zu entziehen vermag. Dieses Potenzial könne nicht zuletzt für den fächerübergreifenden Unterricht von Nutzen sein.

Jens Birkmeyer geht von der Annahme aus, dass durch literarische Texte evozierte Erinnerung an den Holocaust „als eine Ethik des fragenden Suchens“ (67) aufgefasst werden kann. Das Bildungsziel und die Erziehungsleistung ist seiner Ansicht nach durch Erinnerung als didaktische Kategorie, junge Menschen sukzessive dazu zu befähigen, an einem Diskurs über gesellschaftlich relevante Themen bzw. über Vergangenheit aktiv teilnehmen zu können – und sei es auch in noch so kleinen Formen kommunikativer Öffentlichkeit. Auch „Texte des öffentlichen Raumes“ können laut Ulrike Schrader einen zusätzlichen Beitrag im Literaturunterricht hinsichtlich einer „Erinnerung an den Holocaust“ leisten, wenn der Literaturbegriff erweitert wird. Diese Texte ließen es zu, als ein „an Geschichte erinnerndes Gedenkzeichen“ betrachtet zu werden und als „ein in die Gegenwart hineinragender Fingerzeig“ (92) methodische und didaktische Möglichkeiten für den Unterricht zu eröffnen.

Astrid Messerschmidt und Cornelia Blasberg beschäftigen sich jeweils mit der Generationenzugehörigkeit. Messerschmidt macht in ihrem Beitrag durch das Ansprechen zweier Texte, verfasst von einer Autorin der dritten und einem Autor der zweiten Generation deutlich, wie entscheidend die Generationenzugehörigkeit im Umgang mit dem Holocaust ist. Sie befürwortet eine Erinnerungspädagogik, die nicht allzu selbstgewiss auftritt und dem Prozess der Aneignung stets kritisch gegenübersteht. Blasberg analysiert hingegen drei Familienromane über die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands aus der Perspektive von Vertretern der dritten Generation. Wichtig ist ihr der „Suchbewegung“ (107) dieser Generation nachzugehen bzw. durch Lektüre die Möglichkeit zu haben, deren aktuelle Befindlichkeit aufzuzeigen. Juliane Köster legt anhand ausgewählter jugendliterarischer Texte, die den Blick auf den Holocaust aus einer gegenwartsbezogenen Sicht ermöglichen, dar, wie Lehrer nach der Lektüre die entstandenen „Schmerzmomente“ (121), erzeugt durch Irritationen hervorrufende Lektüreerfahrung, mit einem „Arbeitsangebot“ im Unterricht sinnvoll nutzen können.

Junge Menschen als Gattungstheoretiker? Sascha Feuchert legt in seinem Beitrag dar, welchen Wert es haben kann, wenn Schüler der gymnasialen Oberstufe im Deutschunterricht hinter die scheinbar ausschließlich theoretische Fassade des Begriffs „Holocaustliteratur“ blicken. Um der Gefahr einer „Überfütterung“ mit dem Thema „Holocaust“ im Unterricht entgegenzuwirken, empfiehlt Gabriele von Glasenapp die Lektüre autobiographisch basierter Texte, verfasst von jüdischen Überlebenden, die die Zeit von 1933 bis 1945 als Kinder bzw. Jugendliche in Deutschland erlebt haben. Wichtig für einen „nachvollziehbaren Annäherungsprozess an den Holocaust und seine Opfer“ (158) seien Anknüpfungspunkte zu historischen Ereignissen und dem eigenen Erfahrungshorizont der Schüler. Die Diskussion von Schülern einer neunten Klasse nach der Lektüre einiger Textpassagen aus „Malka Mai“ von Mirjam Pressler hat Jeannette Hoffmann in kurzen Interviewausschnitten festgehalten. Die Deutungsaushandlungen der Schüler sind vielstimmig; es kommen existentielle Fragen und literarische Deutungen zur Sprache. Hoffmann empfiehlt aus didaktischer Perspektive, der produktiven Irritation durch „widerspenstige Texte“ (175) schriftliche Ausarbeitungen folgen zu lassen sowie eine weitere offene Kommunikation.

Dem Thema „Holocaust in der Grundschule“ widmen sich Alexandra Flügel, Benedikt Terrahe und Irit Wyrobnik. Während sich Flügel auf die Kommunikation von Kindern über den Holocaust, die Umgangsweisen und die Verarbeitungsstrategien konzentriert, stellt Terrahe seine empirische Studie zur Unterrichtsforschung und deren qualitative Auswertung vor. Wyrobnik fordert eine stete kritische Auseinandersetzung über die Chancen und Grenzen von Unterricht in der Grundschule, der den Holocaust zum Gegenstand hat.

Annette Kliewer erläutert in ihrem Beitrag, welchen Wert es für Schüler der Klassen 12 und 13 haben kann, im Deutschunterricht kinderliterarische Texte in die Lektüre einzubeziehen. Von der Warte eines erwachsenen Lesers aus könne dieser im direkten Vergleich von Texten für jüngere Leser und allgemeinliterarischen Texten Erinnerungskonstruktionen durchschauen. Unter Berücksichtigung von individueller Lektüre, der Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur und der „Möglichkeit der emotionalen Distanzierung“ (227) könne erreicht werden, das Thema Holocaust im Unterricht ohne moralische „Gängelung“ (226) in seiner Vielschichtigkeit zu behandeln.

Das große Verdienst des Sammelbandes ist es, für die Komplexität und die große Bedeutung von Literaturunterricht zum Thema „Holocaust“ und damit für eine fruchtbare „Erziehung nach Auschwitz“ für alle Schulstufen zu sensibilisieren. Er gewährt zudem einen Einblick in verschiedene Forschungsfelder und richtet sich an Lehrer und Fachdidaktiker. Ausgearbeitete Unterrichtseinheiten finden sich in diesem Band nicht, was jedoch den zu Beginn formulierten Zielen nicht zuwiderläuft. Das Buch ist somit als für den Gegenstand „Holocaust-Literatur im Deutschunterricht“ unerlässliche und der Vorbereitung dienende Lektüre einzustufen.

[1] Klüger, R. (1994): weiter leben. Eine Jugend. München: dtv.
Linde Storm (Frankfurt/M.)
Zur Zitierweise der Rezension:
Linde Storm: Rezension von: Birkmeyer, Jens (Hg.): Holocaust-Literatur und Deutschunterricht, Perspektiven schulischer Erinnerungsarbeit. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2008. In: EWR 7 (2008), Nr. 5 (Veröffentlicht am 09.10.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383400303.html