EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)

Dietmut Kucharz / Matthea Wagener
Jahrgangsübergreifendes Lernen
Eine empirische Studie zu Lernen, Leistung und Interaktion von Kindern in der Schuleingangsphase
Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2007
(171 S.; ISBN 978-3-8340-0199-3; 16,00 EUR)
Jahrgangsübergreifendes Lernen Im Rahmen der Neugestaltung des Schulanfangs hat das jahrgangsübergreifende Lernen in den letzten Jahren insofern an Bedeutung gewonnen, als mittlerweile in nahezu allen Bundesländern strukturelle Reformen durchgeführt werden, die altersgemischte Lerngruppen nicht nur zulassen, sondern sie konkret einfordern. Dieses geschieht maßgeblich mit der Zielsetzung, durch eine Flexibilisierung der Verweildauer, differenzierte Lernangebote sowie individuelle Förderkonzepte in der die beiden ersten – herkömmlicherweise als Jahrgangsklassen konzipierten – Schuljahre umfassenden Eingangsstufe adäquater auf die unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen der Schulanfänger/innen und ihre Lernbiographien reagieren zu können. Mit dem jahrgangsübergreifenden Lernen verbindet sich die Hoffnung, Lernprozesse kontinuierlicher gestalten und den Lernschwächen durch förderdiagnostische Maßnahmen begegnen zu können. Darüber hinaus geht es darum, das kindliche Selbstvertrauen in das eigene Wissen und Handeln zu stärken und sozial-emotionalen Bedürfnissen gerechter zu werden.

Auf die Frage, inwieweit sich die pädagogischen Erwartungen erfüllen, gibt die Forschungslage – obwohl mittlerweile vielfältige Untersuchungen vorliegen – allerdings nur in begrenztem Maße überzeugende Antworten. Zwar kommen sowohl nationale als auch internationale Studien [1] zu der Aussage, dass sich bezogen auf die kognitiven Leistungsmerkmale für das Lernen in altershomogenen und – heterogenen Lerngruppen keine nennenswerten Effektivitäts-Differenzen ergeben. Auch jene die bundesdeutschen Modellversuche zur Neugestaltung der Schuleingangsphase begleitende Forschung – z.B. der „Flexiblen Eingangsstufe“ in Brandenburg oder dem Modell „Schulanfang auf neuen Wegen“ in Baden-Württemberg – kann keine gravierenden Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten belegen. Vorteile werden allerdings hinsichtlich der Lernmotivation sowie der Sozial- und Lernkompetenzen benannt [2]. Hier zeigt sich, dass ein alters- und/oder leistungsniveaugemischtes Lernen positive Effekte auf die Schulbesuchsfreude, die Lernmotivation und die sozialen Interaktionen haben.

In dieses Forschungsfeld ordnet sich die vorliegende, von Kucharz und Wagener durchgeführte Untersuchung JüLiSa „Jahrgangsübergreifende Lerngruppen im Schulanfang“ ein, die im Rahmen der Berliner Schulversuche „Einführung einer verlässlichen Halbtagsgrundschule“ (VHG) und „Jahrgangsübergreifendes Lernen“ (JÜL) durchgeführt wurde. Der Fokus liegt auf den Lern- und Interaktionsprozessen in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen. Dabei richtet sich das erkenntnisleitende Interesse der Autorinnen auf die Frage, ob und inwieweit es Kindern unterschiedlichen Alters und differenter Lernniveaus (besser) gelingt, auf die Gestaltung ihres Unterrichtsalltags Einfluss zu nehmen. Konkret geht es dabei vor allem um das Interaktionsgeschehen der Kinder untereinander, um Prozesse des gegenseitigen Helfens sowie der Gestaltung von Lernprozessen sowohl der leistungsschwachen als auch der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler.

Die Studie, die insgesamt auf eine Laufzeit von vier Jahren angelegt war (2001-2005), untersuchte sechs Lerngruppen ausgewählter Berliner Grundschulen während der Schuleingangsphase. Das Forschungsdesign umfasste 47 in diese Eingangsgruppen eingeschulte Kinder, die im Unterricht beobachtet, fallvergleichend kontrastiert und sowohl am Ende des ersten als auch am Ende des zweiten Schulbesuchsjahres sprachlichen und mathematischen Schulleistungstests unterzogen wurden. Flankierend fanden Interviews mit den in der Eingangsphase unterrichtenden Lehrerinnen über pädagogische Konzepte, den von ihnen ergriffenen förderdiagnostischen Maßnahmen und ihre Erfahrungen mit dem jahrgangsübergreifenden Lehren und Lernen statt. Das Autorenteam begründet sein methodisches Vorgehen vor dem Hintergrund der pädagogischen Tatsachenforschung und des ethnographischen Forschungszugangs, wobei Interaktionsgeschehen in Kreisgesprächen und verschiedenen Arbeitskontexten, Umgang der Kinder mit gleichaltrigen, jüngeren oder älteren Mitschüler/innen, Kontaktaufnahme zur Lehrerin und das Verhalten bei Lernschwierigkeiten als die wesentlichen thematischen Schwerpunkte benannt werden.

Die Ergebnisse der Unterrichtbeobachtungen zeigen, dass die Interaktionen der Stichproben-Kinder (mit geringfügig unterschiedlichen Nuancen während der beiden Schulbesuchsjahre) vorrangig durch einen sachlichen Austausch über die Aufgabenstellungen geprägt sind, gefolgt von Hilfestellungen bei der Bearbeitung von Arbeitsaufträgen und eine Kommentierung des Arbeitsverhaltens (z.B. Ermutigung, Lob). Privatgespräche haben eine eher untergeordnete Bedeutung. Auffallend ist, dass sich die Anzahl der Interaktionen mit voranschreitendem Schulbesuch deutlich vermehrten. Darüber hinaus lassen sich bezüglich der Alters- und Leistungsdifferenz interessante koinzidente Verhaltensweisen feststellen: So zeigte sich, dass leistungsschwächere Jungen häufiger den Kontakt zu jüngeren Kindern in der Lerngruppe suchten, dabei aber nur selten bestrebt waren, diese Kinder in ihrem Lernen zu unterstützen. Anders verhielten sich dagegen die leistungsschwächeren Mädchen, die nach einer anfänglichen Zurückgezogenheit im zweiten Schulbesuchsjahr jüngeren Mitschüler/innen gegenüber gerne die Helferrolle übernahmen und daraus offensichtlich eine Selbstbestätigung gewannen. Die leistungsstärkeren Jungen orientierten sich vorrangig an älteren oder gleichaltrigen leistungsstarken Kindern; Hilfestellungen jüngeren oder leistungsschwächeren Kindern gegenüber wurden kaum beobachtet. Zudem ließen sich geschlechterdifferente Verhaltensweisen belegen: Leistungsstärkere Mädchen zeigten sich nicht nur äußerst engagiert im Unterricht, sie unterstützten auch die leistungsschwächeren Mitschüler/innen deutlich häufiger als alle anderen Kinder.

Der Versuch, eine Bilanz für oder gegen das jahrgangsübergreifende Lernen zu ziehen, fällt mit der Untersuchung JüLiSa zugunsten der Altersmischung aus. Zwar kommt auch diese Studie zu dem Ergebnis, dass markante Leistungssteigerungen offensichtlich nicht zu verzeichnen sind. Allerdings werden das Arbeits- und Sozialverhalten sowie die Kommunikation und Interaktion im Rahmen der Jahrgangsmischung deutlich positiv bewertet. Dabei wird hervorgehoben, dass zahlreiche Kontakte über die Altersgrenzen hinweg bestehen, dass das unterstützende Helfen vor allem den jüngeren Kindern gegenüber eine Selbstverständlichkeit ist, ohne dass die damit entstehende Asymmetrie zwischen den Kindern als belastend empfunden wird: Die Integration der Schulanfänger/innen in die Lerngruppe erfolgt dagegen leichter.

Wenn auch die herangezogene Stichprobe vergleichsweise gering ist und auf die Implementation einer Kontrollgruppe in das Forschungsdesign verzichtet wurde, so ist es den Autorinnen aufgrund eines mehrperspektivisch angelegten methodischen Zugriffes dennoch in überzeugender Weise gelungen, markante Ergebnisse vorzulegen, die an manchen Stellen Praxiserfahrungen bestätigen, vor allem aber dazu beitragen, ein bisher wenig bearbeitetes Forschungsfeld zu beleuchten. Indem der Fokus in neuartiger Weise auf die Analyse kindlicher Lernzeiten im jahrgangsübergreifenden Unterricht gelenkt wird, kann der Blick für eine bewusstere Wahrnehmung selbstgesteuerter Verhaltensweisen und Kompetenzen der Schulanfänger/innen für ein eigenverantwortliches Lernen geschärft werden. Die Lektüre des Buches „jahrgangsübergreifendes Lernen“ empfiehlt sich daher nicht nur für die wissenschaftliche Öffentlichkeit, sondern auch für Lehrkräfte, Referendarinnen und Referendare sowie Studierende.

[1] Knörzer, Wolfgang (Hrsg.): Sind Schüler in kombinierten Grundschulklassen benachteiligt? Eine empirische Untersuchung. Baltmannsweiler : Pädagogischer Verlag Burgbücherei Schneider 1985.
Gutiérrez, R./Slavin, R.E.: Achievement effects of the nongraded elementary school: A best evidence synthesis. In: Review of Educational Research 62 (1992), 333-376.
Veenman, S.: Cognitive and noncognitive effects of multigrade and multi-age classes. A best-evidence synthesis. In: Review of Educational Research 65 (1995), 319-381.
[2] Carle, U./ Berthold B.: Schuleingangsphase entwickeln – Leistung fördern. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2004.
Faust, G.: Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern – eine aktuelle Bestandsaufnahme. In: Hinz, R./Schumacher, B. (Hrsg.): Auf den Anfang kommt es an: Kompetenzen entwickeln – Kompetenzen stärken. Wiesbaden: VS Verlag 2006, 173-198.
Rossbach, H.-G.: Empirische Vergleichsuntersuchungen zu den Auswirkungen von jahrgangsheterogenen und jahrgangshomogenen Klassen. In: Laging, Ralf (Hrsg.): Altersgemischtes Lernen in der Schule. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 1999, 80-91.
Renate Hinz (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Renate Hinz: Rezension von: Kucharz, Dietmut / Wagener, Matthea: Jahrgangsübergreifendes Lernen, Eine empirische Studie zu Lernen, Leistung und Interaktion von Kindern in der Schuleingangsphase. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383400199.html